Im Jahr 1984 befand sich die Welt in einer Hochphase des Kalten Krieges. Die Welt war nach wie vor in West und Ost geteilt und mit der NATO und dem Warschauer Pakt standen sich zwei hochgerüstete Militärbündnisse gegenüber. Ein Land war dabei die Nahtstelle zwischen beiden Blöcken: Deutschland. Während die Bundesrepublik Deutschland Teil der NATO war, war die DDR Teil des Warschauer Pakts. In dieser Hochphase des Kalten Krieges lebte die Welt nach wie vor in Angst vor einem dritten Weltkrieg. Deshalb betrieb man Forschungen, mit deren Zielen man sich für ein eventuelles Aufheizen dieser geopolitischen Spannungen wappnen wollte. Im Auftrag der Regierung und unter Aufsicht der Stasi, des Geheimdienstes der DDR, wurde deshalb in der Charité in Ostberlin ein streng geheimes Forschungsprojekt in die Wege geleitet, dessen Akten erst zehn Jahre nach der Wiedervereinigung eingesehen wurden. Noch heute weiß kaum einer was davon und es ist Zeit, dies zu ändern. Ich will mein Gewissen erleichtern und muss daher Auskunft darüber geben, woran ich vor 39 Jahren als junger Mann beteiligt war! Ich fühle mich immer noch schrecklich und kämpfe heute noch mit meinen inneren Dämonen, die mich sogar mal in die Alkoholsucht getrieben und meine Ehe zunichte gemacht hatten. Inzwischen bin ich clean, doch die Dämonen haben in meinem Gewissen überhand genommen und ich will es von ihnen endlich reinigen! Und so erzähle ich jetzt meine Geschichte.
Ich war ein 22-jähriger Biologe, der gerade sein Studium abgeschlossen hatte, als ich im Juni 1984 zu einem geheimen Forschungsprojekt in der Charité hinzugezogen wurde. Bei diesem Projekt, das die SED-Regierung und das Verteidigungsministerium in Auftrag gegeben hatten, ging es darum, mittels eines von Professor Bauer entwickelten Serums das menschliche Potential zu verbessern. Der Professor war ein Genetiker, der bekannt war für seine Skrupellosigkeit. Seine Versuchstiere waren für ihn nicht mehr als wertlose Testobjekte, die man einfach nach misslungenen Experimenten im Mülleimer entsorgte. Er hatte ein Serum entwickelt, welches die DNA diverser Tierarten enthielt und womit man Menschen enorme Fähigkeiten verleihen wollte. Das Verteidigungsministerium zeigte an der Arbeit des Professors großes Interesse, da man mit biochemisch verbesserten Truppen denen der Bundeswehr in der BRD überlegen sein konnte. Man stelle sich mal einen Soldaten vor, der nicht nur ein perfekter Kämpfer und Schütze ist, sondern auch noch die Kraft eines Nashornkäfers, die Sehfähigkeit eines Adlers und die Geschwindigkeit eines Gepards hat! Mit so einem würde ich nicht kämpfen wollen! Zudem haben einige Tierarten erstaunliche Regenerationsfähigkeiten, welche das Serum auch versprach. So konnten Soldaten sich schneller von Verletzungen erholen. Zudem konnte das auch einen Durchbruch in der Medizin herbeiführen. Deshalb wurde das Experiment in einem geheimen Raum unterhalb der Charité, die ja ein Krankenhaus ist, durchgeführt.
Nach einer Reihe von Tierversuchen war es endlich so weit. Professor Bauer erachtete das Präparat als reif für Menschenversuche. Doch dafür brauchte er die Zustimmung der Stasi, der Regierung, des Verteidigungsministeriums und des Krankenhaus-Vorstands. Den ganzen Tag lang redete er mit diesen Leuten, um sie davon zu überzeugen. Dies gelang ihm, nachdem er von den erfolgreichen Tests an Schimpansen erzählte. Diese waren zu 99% erfolgreich verlaufen, bis auf einen Vorfall, bei dem Angst als Nebenwirkung auftrat. Doch da dies nur ein winziger Bruchteil war, gab man schließlich grünes Licht für den menschlichen Testeinsatz. Als ich das erfuhr, wurde mir mulmig zumute. Auch wenn diese Nebenwirkung nur bei einem einzigen Versuchs-Schimpansen aufgetreten war, so bestand dennoch ein gewisses Restrisiko für Versuchspersonen, zumal diese Geschöpfe mit uns zu fast 100 Prozent identisch sind. Tief in meinem Innern wusste ich, dass die ethische Vertretbarkeit solcher Versuche aus gutem Grund umstritten war. Doch ich sagte mir, dass es im Dienste der Wissenschaft und damit letztlich auch im Dienste der Menschheit geschah. Außerdem würde die Testperson es ja freiwillig machen. Und tatsächlich fand sich ausgerechnet in der Charité bald jemand, der sich freiwillig für den Versuch meldete. Ein Weltkriegsveteran und ehemaliger NVA-Offizier, der schon Mitte 60 war und wegen einer schweren Verletzung am Bein aus dem Militärdienst entlassen worden war. Ausgerechnet ein verkrüppelter Soldat und Krankenhaus-Patient sollte zur Versuchsperson werden! Das passte doch wie die Faust aufs Auge! Und so unterschrieb der Freiwillige alle nötigen Papiere und Erklärungen, sodass der Test bald durchgeführt werden konnte. Und so nahm alles seinen Lauf.
Der Mann wurde in einen geheimen Laborkomplex unterhalb des Krankenhauses gebracht. Dort setzte er sich auf einen Stuhl und Professor Bauer klärte ihn genau über das Serum auf. Der Mann verstand glücklicherweise alles genau und setzte all seine Hoffnung auf Heilung nun in uns Wissenschaftler. Wir spritzten ihm das Präparat so wie bei einer Impfung. Dies geschah natürlich unter ärztlicher Aufsicht, wobei auch in der Folgezeit immer wieder sein Blutdruck, sein Puls, sowie die ganzen medizinischen Werte überwacht wurden. Die nächsten zwei Tage verlief alles ruhig und tatsächlich schien das Zeug bei der Versuchsperson zu wirken. Wir führten Sehtests mit ihm durch, deren Ergebnisse äußerst vielversprechend waren. Selbst aus 20 Metern Entfernung konnte der Mann noch super lesen, obwohl die Buchstaben klein waren! Auch testeten wir seine Kraft, wobei er mit einer Hand Hanteln stemmte, an denen sich selbst Muskelberge im Fitnessstudio die Zähne ausbissen! Tatsächlich zeigten sich auch Heilungsprozesse an seinem kaputten Bein. Röntgenaufnahmen zeigten uns, dass sich der Zustand seiner Beinknochen sehr verbessert hatte. Der Mann war nun nicht mehr, so wie vorher, auf Gehhilfe angewiesen. Außerdem hatte sich der Oberschenkel verkürzt und der Unterschenkel verlängert, was ein anatomisches Merkmal einiger schneller Tiere, wie zum Beispiel Geparden, ist. Und als der Mann bei einem draußen durchgeführten Test rannte, maßen wir eine Geschwindigkeit von unglaublichen 80 Stundenkilometern! Proben aus seinem Muskelgewebe zeigten uns unter dem Mikroskop eine Veränderung der Beschaffenheit seiner Muskelfasern, was wohl erklärte, warum er trotz seiner Kraftzunahme nicht aussah wie Arnold Schwarzenegger. Genau wie bei den Versuchsaffen! Angesichts dieser Fortschritte kam sich Professor Bauer vor wie ein Schauspieler, der „And the Oscar goes to…“ hört. Am dritten Tag sagte er schließlich: „Ich ruf in Schweden an. Die sollen schonmal den Nobelpreis für uns bereithalten, Jungs!“ Doch angesichts der folgenden Ereignisse hätte man wohl sehr tief ins Glas schauen müssen, um uns für den Nobelpreis zu nominieren!
Eines nachts, als ich gerade Dienst hatte, berichteten die Ärzte mir und meinen Kollegen, dass etwas mit dem Testobjekt nicht stimmte. Ich ging mit meinen Kollegen zu dem Labor, in dem sich der Mann befand, und beobachtete ein merkwürdiges Verhalten bei ihm. Der Mann saß auf dem Stuhl, wo wir ihm das Zeug verabreicht haben, und schien, wie zuvor dieser eine Schimpanse, Angst zu verspüren. Er sah sich ängstlich um, bis er plötzlich wie gebannt in eine Ecke des Labors starrte. Er starrte wie gefesselt auf diese eine Stelle, als beobachte er etwas. Und dann bewegte er seine Lippen, was darauf schließen ließ, dass er sprach. Das verwirrte uns, da außer ihm niemand in diesem Labor war. Wir beobachteten ihn von außen durch eine Glasscheibe. Wir gingen hinein und fragten den Mann, mit wem er redete. Er sagte zu uns: „Ja seht ihr diese hässliche Frau denn nicht?! Da!“ Er deutete auf die besagte Stelle. „Die soll mich verdammt nochmal in Ruhe lassen!“ „Hören Sie“, sagte ich. „Da ist niemand. Sie bilden sich das nur ein. Vielleicht haben Sie zu wenig geschlafen. Schlafmangel kann zu Halluzinationen führen. Ruhen Sie sich aus.“ Der Mann bestand darauf, dass die mysteriöse Frau da war, doch außer ihm konnte ihn niemand sehen. Wir konnten ihn schließlich beruhigen und er ging schlafen. Wir verließen das Labor. Ich machte mir Gedanken, ob dies nicht auch eine Nebenwirkung sein konnte. Die Ärzte hielten das für möglich. Deshalb notierte ich es mir und berichtete es bei meiner nächsten Schicht dem Professor. Professor Bauer bezweifelte dies stark, da der Affe ja auch keine Halluzinationen gehabt habe. Doch ich wendete ein, dass Schimpansen nicht sprechen können und wir das somit eigentlich nicht wissen konnten. Zwar hatte sich das Tier nicht so verhalten, als wäre etwas Fremdes da, doch wer wusste schon, was in seinem Kopf so vorging?
In der folgenden Nacht zeigte der Mann wieder dieses Fragen aufwerfende Verhalten. Erneut sprach er mit dieser imaginären Frau und einmal schien es so, als würde er sie angreifen und verprügeln wollen. Sicherheitsleute mussten den Mann betäuben und fesseln, was angesichts seiner gesteigerten Fähigkeiten alles andere als ungefährlich war. Da dieses Verhalten absolut abnormal war, schloss auch der Professor nicht mehr aus, dass das eine Nebenwirkung war. Er ordnete deshalb an, den Mann genau zu beobachten, sein Verhalten zu protokollieren und körperliche Untersuchungen wie zum Beispiel des Blutbilds vorzunehmen. Das Blut des Mannes wirkte, bis auf das Vorhandensein des Präparats, völlig normal. Im Laufe der nächsten Tage zeigte die Testperson ein immer abnormeres Verhalten. Der Mann schien immer mehr imaginäre Peiniger zu haben. Er lief ruhelos durch das Labor, wich immer wieder imaginären Angriffen aus und schrie: „Lasst mich endlich in Ruhe! Ich halte das nicht mehr aus!“ Mehrmals musste er ruhig gestellt werden. Aus Angst davor, das Projekt entzogen zu kriegen, verheimlichte Professor Bauer alles dem Vorstand, der Regierung usw. Er wollte um jeden Preis seine Karriere schützen und daher musste der Mann unbedingt für andere unsichtbar sein, bis er sich wieder normal verhielt. Das Verhalten des Mannes wurde nun noch krasser! Er begann, im Schlaf herumzubrüllen und wild um sich zu schlagen! Immer wieder sprang er aus dem Bett auf und randalierte. „Ihr verdammten Schweine!“, schrie er so laut, dass seine Stimmbänder fast kaputtgingen. „Verpisst Euch endlich! Lasst mich endlich in Frieden! Oder ich töte euch!“ Als er so heftig ausrastete, dass er sogar die Glasscheibe einschlug, rangen die Sicherheitsleute ihn nieder und betäubten ihn. Als der Mann später an sein Bett gefesselt aufwachte, war er endlich mal wieder ruhig und wir fragten ihn, ob er uns nicht mal die Personen beschreiben konnte, die er sah und die ihm seit Tagen das Leben schwer machten. Er gab uns genaue Personenbeschreibungen und wir fertigten Zeichnungen an. Schließlich entbrannte eine Diskussion zwischen uns und dem Professor. Dieser vermutete, dass das Serum, nachdem es durch die Blutbahn hinauf ins Gehirn gelangt war, dort irgendeine fatale chemische Reaktion ausgelöst haben musste, die zu Störungen in den Bereichen für die Verarbeitung der Sinneseindrücke geführt und so diese Halluzinationen ausgelöst hatte. Er ordnete deshalb die Verabreichung eines Medikaments gegen Halluzinationen an. Dieses wurde der Testperson mehrfach verabreicht, doch es zeigte keine Wirkung. Um zu sehen, wie sein Gehirn aussah, machten die Ärzte auf Befehl des Professors eine CT-Aufnahme des Gehirns. Dieses sah nicht gerade besorgniserregend aus, allerdings konnten wir auf den Bildern einige Stellen erkennen, die sich verändert hatten. Wir vermuteten, dass diese Veränderungen durch das Serum ausgelöst wurden und so die Halluzinationen des Mannes auslösten. Das Problem war, dass diese Bereiche lebenswichtig waren und eine Operation des Mannes uns daher als zu risikoreich erschien. Zumal der Mann eine OP auch ablehnte und die Ärzte es daher sowieso nicht durften. Deshalb versuchten wir es mit weiteren Medikamenten, die aber allesamt keine Wirkung zeigten.
Eines Abends überschlugen sich dann die Ereignisse. Der Mann aß gerade ein Steak zu Abend, als er plötzlich wieder zu halluzinieren begann und sich fast die Stimme aus dem Hals brüllte. Er stand auf und verhielt sich so, als wäre er von lauter Angreifern umzingelt und müsse sich verteidigen! Er rastete komplett aus und schlug wie ein Irrer um sich. Dann nahm er das große Messer, mit dem er das Fleisch geschnitten hatte, und tat so, als würde er damit Leute abstechen. Die Sicherheitsleute stürmten den Raum, doch der Mann verlor jede Kontrolle über sich, weil er nicht mehr zwischen Wahnsinn und Realität unterscheiden konnte, und ging auf sie los! Er brach dem ersten das Genick, als sei es ein Strohhalm. Dem zweiten zertrümmerte er mit einem kräftigen Schlag den Schädel und den restlichen schlitzte er mit dem Messer die Kehle auf! Als der Mann sein fürchterliches Werk sah und, so wirkte es jedenfalls, von seinen imaginären Peinigern runtergemacht wurde, sah er nur noch einen Ausweg und nahm sich das Leben, indem er sich den Hals durchstach!
Nachdem die Leiche rausgebracht wurde, stellte ich Nachforschungen an und fand schockierendes heraus: Als der Mann noch während des zweiten Weltkriegs in der Wehrmacht gedient hatte, hatte seine Einheit auf Befehl Hitlers entsetzliche Kriegsverbrechen in Polen und der Sowjetunion verübt, bei denen sie hilflose Menschen bestialisch gefoltert und niedergemetzelt hatten! Darunter auch diejenigen, die er gesehen hatte! Seitdem bin ich nicht mehr sicher, ob es wirklich nur Halluzinationen gewesen waren oder die Geister dieser Leute, die der Mann dank des Serums sehen konnte und deren Zorn er aus Rache zu spüren bekommen hatte!
Nach diesem Vorfall gab es Untersuchungen wegen des Todes dieses Mannes, die schließlich dazu führten, dass die Karriere des Professors zerstört wurde. Weil er dem Staat wichtige Informationen vorenthalten hatte, wurde er zu einer harten Gefängnisstrafe verurteilt, so wie auch meine Kollegen, die Ärzte und ich, da wir ja Beihilfe geleistet hatten. Die SED hielt den fatalen Ausgang dieses Experiments geheim. Offiziell war der Mann einfach an den Folgen seiner schweren Beinverletzung gestorben. 1989 kam ich frei und im selben Jahr fiel die Berliner Mauer. Ein Jahr später kam es zur Wiedervereinigung, worauf zehn Jahre später diese schrecklichen Geheimnisse durch Einsicht in die Stasi-Akten publik gemacht werden konnten. Leider wissen noch immer viele nichts davon und so habe ich es euch nun mitgeteilt.