Deutsches Creepypasta Wiki
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Türchen 13

Autor: NegativeRoot

26*C+M+B*51[]

Kapitel 1

„Kopf!“, herrschte sie und ihre Stimme vibrierte genauso wie ihr Geduldsfaden. „Und zappel nicht wieder! Wir haben bestimmt schon einen Achtelschatten verloren, nur weil du nicht stillhalten kannst!“ Ihre Hände dehnten eine violette Bandage. Die einst purpurne Farbe war bleich und durchzogen von Flecken. Die gewobenen Fasern ausgefranst; übersäht von Löchern, die die filigranen Stickereien unwiederbringlich auflösten.

Zorn gab nach und neigte das Haupt. Seine halblangen Haare drückten gegen die Augenbrauen, es juckte und kitzelte, als sie den Verband, Windung für Windung um seinen Schädel wickelte. „Je mehr du zurückzuckst, desto länger dauert es! Zum siebzehnten Mal!“, zischte sie, noch bevor er überhaupt die Gelegenheit bekam, seinen angespannten Nacken zu lockern und seinen Kopf dem langgezogenen Stofffetzen zu entziehen. Sie kannte ihn eben doch zu gut.

„So, fertig!“ Die halb erleichterte, halb zweifelnde Stimme überzeugte Zorn nur wenig. Zögerlich hob er den Blick, die Lippen aufeinander gepresst. Der Spiegel auf der anderen Seite des Raumes glitzerte mit geradezu schadenfreudiger Begierde darauf, eine furchtbare Wahrheit zurückzuwerfen. „Mann, Ylenia! Ich sehe aus wie ein Vollidiot!“, rief er seiner großen Schwester entgegen. Sie war einige Schritte zurückgetreten und betrachtete ihr Werk mit flexibler Mimik. „Ach was! Du siehst gut aus!“, kommentierte sie den (nach Möglichkeit) symmetrischen Verband um seinen Kopf, die weinrote, mit rostigen Pailletten verzierte Robe und den Holzstab dessen Spitze in einer eisernen Gabelung mündete. „Ich hab wirklich mein Möglichstes getan!“, versicherte Ylenia, doch das Zucken ihrer Lippen verriet nicht ganz ob es Belustigung oder Scham entsprang.

„Aber wozu das Ganze, hm? Ich verstehe es immer noch nicht! Es nutzt niemandem irgendwas! Nicht das Geringste und trotzdem muss sich jedes Jahr einer zum Deppen machen, obwohl es eigentlich sogar ziemlich gefährlich ist!“, rief Zorn mit dem Trotz der Verzweiflung. Ylenia nahm sich die Zeit für einen mühsam beherrschten  Atemzug. „Zorn, das ist seit vorgestern das sechsunddreißigste Mal, dass du mir damit in den Ohren liegst! Vielleicht gibt es dabei ja wirklich keinen pragmatischen Nutzen, aber zu sagen, dass es nichts bringt ist ziemlich anmaßend! Du siehst doch selbst, wie glücklich, wie hoffnungsvoll die Leute jedes Jahr sind, wenn das Fest losgeht. Wenn ich mich richtig erinnere hast du auch sehr gerne mitgefeiert, wann immer…“

„Hörst du bitte mal auf, so ziemlich alles mitzuzählen, was ich den ganzen Tag sage oder tue?“, unterbrach Zorn, in der Hoffnung, Ylenias Vortrag auf ein Minimum zu kürzen, doch nach einem beiläufigen „Nein, anders scheinst du es nicht zu lernen!“, kehrte seine große Schwester unbeirrt zu ihrem Thema zurück: „Und ob es gefährlich ist…. Na ja, es ist nie ganz ungefährlich die Oberfläche zu betreten, das gebe ich zu. Aber die anderen Stämme, selbst die Menschenfresser, haben ihre eigenen Feste und bleiben währenddessen in ihren…. Wo auch immer sie hausen. Sieh mal, letztes Jahr war Marx dran, das Jahr davor Natan, das Jahr davor Wille. Und selbst ihr als Mädchen ist nichts passiert.“

Zorn schwieg. Als er die Unterlippe an seinen Zähnen entlang zog, entstand ein Geräusch, dass seine jungen Knochen einzig und alleine für ihn bestimmt hatten. „Jetzt hör mal!“, Ylenia legte sanft die Hand auf seine Rippen, doch noch während ihr halb geöffneter Mund neuen Atem für einen frischen Schwall Worte schöpfen konnte, unterbrach er. „Ja ja, ich weiß! Die Feste der Zivilen sind so gut wie verloren! Deshalb bedeutet es –vor allem den Alten- so viel, wenn wir erhalten, was zu erhalten ist. Und diese bescheuerte Aktion, mit diesem bescheuerten Aufzug ist so ziemlich alles, woran sich die Leuchtenden Worte erinnern und deshalb muss jedes Jahr irgendeine arme Seele…“

„Arme Seele? Wo hast du denn das her?“, platze Ylenia heraus. „Von Hoffnung.“, entgegnete Zorn kurz angebunden. Wenn seine Schwester selbst den Gegenstand des Gesprächs wechselte, hatte er die besten Chancen, von ihren  nicht enden wollenden Überzeugungsreden verschont zu bleiben. Er durfte ihr die Erleichterung nur nicht allzu deutlich auf die Nase binden. „Also… ähm…!“ Ylenias milde Züge nahmen einen Hauch von Verlegenheit an. „Welcher Hoffnung?“ „Raparr.“, war die allzu knappe Antwort. Dieses Thema war weitestgehend erträglicher als die vorhergehenden Tiraden, aber wenn Zorn schon in einem dämlichen Aufzug eine sinnlose Aufgabe erfüllen musste, hatte er auch keine große Lust, untypische Redensarten zu diskutieren.

„Ah, der Junge!“, Ylenia kicherte. Zorn zog eine Augenbraue hoch, worauf seine Schwester allzu schnell mit ihrer ursprünglichen Ansprache fortfuhr: „Jetzt pass mal auf, jeder hier muss…!“

„Ist ja schon gut! Ich mach es doch! Du musst nicht noch weiter argumentieren! Ich mach es!“, spie Zorn mit steigendem Nachdruck aus. Sieh mal-, hör mal-, pass mal auf-. Dass seine Schwester bei völlig identischem Inhalt nie den Wortlaut wiederholte trieb ihn in den Wahnsinn. Und eigentlich hatte er sich doch schon vor Tagen in sein Schicksal gefügt, oder? So war es diesmal Zorn der tief durchatmete und sich um Beherrschung bemühte.

„Wir sind definitiv Verwandt!“, Ylenia lächelte. „Wir reagieren ganz ähnlich, wenn wir genervt sind.“, ihr darauffolgendes Lachen klang hell und klar, und besaß doch eine kaum merkliche, bittere Note. „Hör mal Zorn, ich verstehe es ja. Es ist nervig und ja, es kann gefährlich werden. Aber weißt du was? Eine Tradition der Zivilen zu beleben schafft nicht jeder. Und weißt du noch was? Ich bin stolz auf meinen Kleinen, dass er es wirklich tut!“ Und wieder legte sie ihre Hand auf seine Rippen. Über seine Schulter betrachtete sie einen mit Plastik verschmolzenen Metallstuhl, der unter einem hohen, trüben Fenster stand, oder viel eher das Bein des Stuhls. „Und jetzt komm, es wird Zeit! Der Gau wartet!“

„Können wir wenigstens nicht durch den Hauptschacht?“, konnte Zorn sich nicht verkneifen. Wenigstens den Kommentar zu ‚meinem Kleinen‘ schluckte er erfolgreich herunter. „Willst in der Öffentlichkeit nicht gesehen werden, was?“, Ylenia schaffte es nicht ganz, ihr hämisches Grinsen zu verbergen. „Nein musst du nicht, du kannst den Nebenschacht über den Hinterhof nehmen!“ „Wie? Du kommst nicht mit?“, Zorn musste schlucken. „Hey, tut mir leid, aber ich bin nicht von den Lehren freigestellt, weil ich zum Kreiden gehe! Ich muss Roma lernen! Aber du bist ja kein kleines Kind mehr! Ein paar 100 Meter schaffst du auch ohne deine große Schwester! Jetzt auf! Du musst zum Gau!“

Ja. Selbstverständlich. Sicherlich hatte es nichts damit zu tun, dass sie nicht mit ihrem verkleideten Bruder gesehen werden wollte. Zorn biss sich auf die Unterlippe. Wortlos verließ er das granitverkleidete Zimmer seiner Schwester. „Vergiss nicht, dich von Mama zu verabschieden!“, rief Ylenia ihm nach und nach einer kurzen Bekundung seiner Mutter, wie Stolz sie sei, kehrte Zorn der heimischen Höhle den Rücken;  eine grob gearbeitete Steinwendeltreppe hinab, die sich weiter und  weiter nach unten wandte.

Die Gaslaternen, die die weiten Gänge des Schachtes ausleuchteten warfen einen Schatten hinter die hohlen Säulen, die als Wohnraum dienten. Ein Schatten um den Zorn heilfroh war. Gebückt in der Dunkelheit wünschte er sich so ziemlich jeden den er kannte weit von sich weg. Alleine die Verkleidung war unerträglich peinlich. Verstohlen sah er sich um, bevor er sich in einen in Form gehauenen Innenhof flüchtete. Das Salz an den Wänden der Höhle glitzerte und rieselte. Alles wie immer. Kaum Menschen um die Wohnstätten herum. Vorsichtig öffnete Zorn den Riegel einer kniehohen Barrikade, auf der anderen Seite des Hofs und verschaffte sich damit Zugang zum dunklen Seitentunnel, der ihn mit dem aschefarbenden Glanz der reflektierenden Salzkristalle begrüßte.

Es dauerte nicht lange bis der schwache Widerschein in undurchdringliches Schwarz hinüberglitt; undurchdringliches Schwarz, das jedoch kaum drei Kurven lang anhielt, bevor die kristallinen Lichtpunkte das Ende des Tunnels aus den unförmigen Granitwänden heraus prophezeiten. Als Zorn in die ausladende, von Neonlicht erhellte Tropfsteinhöhle hinaustrat, wand er seinen Nacken im samtenen Kragen der Robe. Der Zwirn musste mit Salz gefüttert sein. Oder Blei. Oder vielleicht war es beides. Gesammeltes Gewicht einen unangenehmen Druck auf Zorns Schultern hinabsenkte. Reichte es nicht, dass er in dieser würdevollen Gewandung unwahrscheinlich dämlich aussah, musste sie auch noch derart schwer sein? Er widerstand dem Drang, den Stab in seiner Hand zu schultern und reckte den Kopf um die Belastung gering zu halten… und um sich nach potenziellen Augenzeugen umzusehen.

Diese Höhle war kein viel begangener Weg, schließlich besaß sie nur zwei für breitere Massen angelegte Durchgangstunnel. Einer davon führte zur Hauptkreuzung, dem zentralen Knotenpunkt dieses Gewebes aus Tunneln, Schächten und Höhlen. Der andere wiederum über einen hastig in Stein gemeißelten Aufgang direkt zum Gau. Größere Sorgen als die künstlichen Tunnel bereiteten Zorn jedoch die acht natürlichen Hohlräume, die sich nur allzu gut als Abkürzung nutzen ließen. Was wenn nun plötzlich einer seiner Freunde aus einer der schwarzen Höhlen im Salzstein platzen würde? Zorn beeilte sich noch ein bisschen mehr. Zu seinem Unglück blieb die schützende Einsamkeit des Tropfsteins nicht unangetastet; zu seinem Glück waren es nur ein schwerfälliger alter Mann und zwei unbeteiligt wirkende Frauen, die einen Fuß unter die Stalaktiten setzten.

Um diese Zeit war der Gau nicht allzu gut besucht. Wozu auch? So wie die Schatten standen wäre es ein Zeichen von Faulheit oder Gebrechen, den Gau zu besuchen. Jeder dürfte noch mit seiner Arbeit beschäftigt sein. Wenn er es sich recht überlegte, hätte Zorn die Arbeit vorgezogen. Oder wenigstens die Lehren. In widerwilliger Hast durchmaß er die Tropfsteinhöhle. Vorbei an altem Mann und Frauen, vorbei an Stalagmiten und vorbei an einem aus Bambus und Metall gefertigten Wegweiser.  Eine Kombination aus Strichen und Kreisen, die mit etwas Fantasie an Gesichter –lachende, weinende, oder auch ausdruckslose Gesichter- erinnerten waren in den gusseisernen Pfeil gebrannt. ‚Gau‘ entnahm Zorn den Insignien aus den Augenwinkeln.

Erst als er die schwere Tür hinter sich geschlossen hatte und das zuckende Licht des Gaus von der niedrigen Decke strahlte, fiel jede Eile von Zorn ab. Der Gau war einer der wenigen Orte, die nicht vom beißenden Aroma des Salzes beherrscht wurden. Überhaupt, dies war der am filigransten konstruierte Raum, den Zorns junges Weltbild kannte. Die grauen Böden aus unbekanntem Material, durchzogen von verschiedenfarbigen Linien, die zwar brüchig und bleich waren, aber nichtsdestotrotz jeden Neuankömmling zweckmäßig zum richtigen Ziel leitete. Und so ignorierte Zorn die roten und grünen Linien und folgte der blauen. Es klang dumpf und tonlos, als sein Stab über den Boden schliff. Der Korridor war eng und rechts und links versehen mit drei Abzweigungen (die vierte war verschüttet), Wänden in die weitgehend intaktes Glas eingefasst war und schließlich, am Ende des Ganges, die Tür des Büros. Seines Ziels.

Zorn drehte den Nacken. Sei es um seine Schultern vom Gewicht der Robe zu entlasten, sei es um den Eintritt noch etwas hinauszuzögern. Links von ihm, unmittelbar vor der Kante des Korridors hing eine schwer aussehende, stählerne Gittertür. Die Dunkelheit des Raumes ließ die Konturen hinter den Metallstäben verschwimmen und so erkannte Zorn nur, dass die Kammer dahinter mit dickbäuchigen Fässern erfüllt war, aus denen eine Unzahl von Drähten ragte. Wenn er die Augen zusammenkniff konnte er erkennen, dass die Kupferschnüre gebündelt und durch ein Loch an der rechten Wand gezogen worden waren. Zorn wandte sich ab. Wenn er zu lange trödelte, würde Ylenia ihm Monate in den Ohren liegen. Mit zitternden Händen, mit trockenen Muskeln, die sich durch seine Kehle wühlten, klopfte er an die Bürotür.

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„Herein!“, Phans Stimme war wie immer. Leicht dröhnender Bass gepaart mit einer seltsam sonorer Einfärbung. Als könne er sich nicht entscheiden ob er fest oder weich klingen wollte. „Ah, Zorn!“, summte er erfreut, als der schlaksige Junge halb elegant durch den Türrahmen stolperte. „Hallo…. Ähm… Phan!“, sagte Zorn in gedämpfter Lautstärke. Der massige Mann hinter dem fleckigen Eisenschreibtisch musterte ihn. Seine (schmalen) Augen wölbten sich hinter die dunkelbronzene Haut als sein Blick vom ausgebleicht violetten Verband auf Zorns Kopf hinunter zur dunkelroten Robe neben dem gegabelten Stab, den der Junge von sich weg hielt.

„Die Robe passt dir wirklich am besten!“, bemerkte Phan. Und noch während Zorn zweifelte, ob die Anerkennung darin wirklich ihm galt, stemmte Phan seine fleischige Hand gegen die Tischplatte und hievte sein monumentales Körpergewicht auf die Beine. Fett hätte man ihn nennen können. Zorn hatte nur gerüchteweise von der beispiellosen Kraft dahinter gehört. „Ich nehme mal an du bist hier um deine Genehmigung und die restlichen Sachen abzuholen?“, fragte Phan noch während sein Gegenüber sich fragte, ob dieser mächtig wirkende Mann wohl ohne weitere Anstrengung im Stande wäre, seinen Schreibtisch anzuheben.

„Also…“ Zorn ließ seine Pupillen für einen Augenblick sinken, bevor er den Raum nach Hinweisen absuchte. Etwas um seine Widerworte möglichst erfolgversprechend einleiten zu können. Etwas um seine nervöse Verlegenheit aufzulockern. Lichtgläser, die direkt hinter Phans Rücken an der Wand festgeschraubt wurden malten warme Kreuze auf das marode Weiß der Tapeten. Bilder von grünen Flächen, von blauem Wasser. Rechts ein Regal. Eines aus Holz. Vollgestellt mit… Büchern, die übersäht waren mit Symbolen, die Zorn nicht lesen konnte. Und links –

Links waren sie, die leuchtenden Worte. Ummantelt von einen  Rahmen aus verbeultem Plastik, geschützt durch eine eingerissene Glasscheibe brannten sie doch Tag und Nacht als eine Bastion gegen das hereinbrechende Vergessen. Der weiße Hintergrund, den die ungezählten kleinen Punkte bildeten war durchsetzt von unregelmäßigen Zeichen. Einige davon waren Zorn Vage bekannt, auch wenn er sie nicht lesen konnte. Die meisten jedoch ergaben für ihn nicht den geringsten Sinn; mehr noch, sie schienen Schwierigkeiten zu haben, ihre Form zu behalten. Die Zeichen flackerten auf, verschwanden urplötzlich, wurden durch andere Zeichen ersetzt und wiederholten ihre Unregelmäßig in so kurzer Zeitspanne, dass Zorn nicht einmal einen Namen dafür hatte. Ein größerer Teil des Schriftbildes zuckte wie die Beine einer sterbenden Fliege.

„Sie sind faszinierend, was?“, fragte Phan. Er drehte ein Plastikrädchen inmitten eines kuriosen Gebildes auf dem Schreibtisch und der Text hinter dem Glas rollte nach oben. Ein Bild kam zum Vorschein. Das Bild eines Mannes mit Verband auf dem Kopf und fließender Robe. „Die Leuchtenden Worte haben so vieles verloren.“, seufzte Phan. Er stolzierte erstaunlich anmutig auf den Rahmen zu und ließ seine wulstigen Finger über die Kabel gleiten, die aus dem Plastik der Leuchtenden Worte heraus und in ein Loch in der Wand verliefen.

„Wir haben keine Ahnung, wie komplex- und weit verzweigt sie eigentlich sind. Nur dass sie unser Wissen ums vielfache übersteigen. Und ich rede noch nicht einmal von ihren intakten Zustand.“, er lächelte schwach und neigte sein Haupt zurück in Zorns Richtung. „Also…! Du hast einen Satz angefangen!“

„Genau das!“, rief Zorn so fest er es in Gegenwart dieses gewaltigen Mannes wagte. „Wir haben keine Ahnung, wozu wir die ganzen Traditionen einhalten! Nur dass sie von den Zivilen kommen! Es hat…“, er schluckte. „Es hat doch gar keinen Nutzen! Und alleine rauszugehen, ohne Verteidigung….!“

Phan lächelte mild. Doch seine gehobene Hand alleine ließ Zorns Worte versiegen. „Ich verstehe dich Zorn.“, seine Stimme verlor ein wenig an Bass. „In deinem Alter kamen mir solche Traditionen auch sinnlos und dumm vor.“ Das Verständnis in seiner Stimme beruhigte Zorn jedoch kein Bisschen.

„Es ist auch keine Schande Angst zu haben, alleine raus zu müssen….!“ „Angst ist nicht ganz….!“, doch Phan erstickte Zorns Protest bevor er sich entfalten konnte: „Du hast natürlich auch ein Recht, verteidigen musst du dich können!“ Er riss eine widerspenstige Schublade des Schreibtisches auf. Zorn spürte, wie sich die Kontrolle über seinen Kiefer löste. Auf Phans Schreibtisch lag eine doppelläufige Flinte. Ein Feuermaul mit abgesägtem Lauf.

„Kannst du damit umgehen?“ Zorn benötigte einige Sekunden der Verarbeitung. „Also… ich wurde schon ein paar Mal mit nach draußen genommen und geübt habe ich auch!“, stotterte er, „Ich weiß wie man sie entsichert und zielt, aber alleine draußen geschossen….“, er versuchte sich zu beruhigen. Die Aufregung wallte durch seinen Brustkorb –und sie war nicht nur unangenehm.

„Ich würde dir ja ein Paar Begleiter mit auf den Weg geben.“, seufzte Phan, während die Luft seinen geblähten Nüstern entwich, „Aber wir haben einfach nicht die Ressourcen! Wir können nicht zu viel Stoff, zu viel Kreide und schon gar nicht zu viele Waffen entbehren. Andernfalls könntet ihr auch zu dritt, zu fünft oder zu wievielt auch immer losziehen. Aber es ist wie es eben ist.“

„Warum machen wir es dann überhaupt, das Kreiden?“, es war dämlich, es war sinnlos, es war demütigend. Doch Zorn hielt diese Gedanken im Zaum. Phans schwarzer Schopf war nur eine sprichwörtliche Haaresbreite von der Decke entfernt, als er – nun gänzlich aufrecht stehend - einen Gürtel mit Lederhalfter, ein Stück Kreide, so wie zwei Fetzen Papier in verschiedenen Grautönen auf dem Schreibtisch ausbreitete.

„Sieh mal, Zorn.“, sein Lächeln verlor nicht einmal an Sanftheit. „Ich weiß, du kannst jetzt nicht viel damit anfangen. Aber wenn du älter wirst, begreifst auch du, wie wichtig Traditionen sind. Sie mögen uns seltsam vorkommen, aber nur durch sie können wir uns in die Blutlinie der Zivilen stellen und zumindest versuchen, ihre Gedankengänge nachzuvollziehen. Nur durch sie geben wir den Menschen Routine, geben ihnen etwas, worauf sie sich freuen können. Nein, wir wissen nicht, wo die Traditionen herkommen und welchen Zweck sie einst erfüllt haben mögen. Was wir aber definitiv sagen können ist, dass sie die Gesellschaft intakt halten. Und eine Intakte Gesellschaft brauchen wir hier unten genauso wie Wasser und Licht.“ Nach der Hälfte dieser Ansprache, schien Phan in einen Monolog verfallen zu sein.

„Es sind doch noch nicht einmal zwei Schatten.  Und wenn du zurückkehrst, erwarten wir dich alle mit einem gewaltigen Fest, auch zu deinen Ehren. Frag doch mal Marx vom letzten Jahr. Glaube mir, er hat es nicht bereut.“

Doch Zorn hegte keine Absicht, Marx zu fragen. Noch sonst jemanden, der in den Vergangenen Jahren zum Kreiden bestimmt worden war. Noch hatte er die weitere Geduld, Phans einlullenden Worten zu lauschen. Jede Wette er trug jedem Jugendlichen, jedem halben Kind dasselbe vor – und das jedes Jahr. Zorn knirschte mit den Zähnen. Ylenia konnte durchaus herablassend sein, doch die Art wie dieser bronzene Riese in den eigenen, honigsüßen Worten schwelgte, stieß Zorn noch unangenehmer auf. Warum genau, konnte er nicht völlig fassen. Einzig die Gewissheit, dass er es endlich hinter sich bringen wollte, beherrschte sein Gemüt und so lüftete er seine Robe, schnallte ohne ein weiteres Wort den Gürtel um und ließ die gähnenden Läufe der Waffe ins spröde Leder gleiten.

„Na also!“, kommentierte Phan. „Siehst du? War doch jetzt gar nicht so schwer! Du wirst sehen, es ist überhaupt nicht schlimm. Außerdem haben die Flügeljäger und Gutssammler die Umgebung schon vor Tagen für dich gesichert. Und ich habe mein Übriges getan. Auf dem zweiten Zettel findest du Instruk-… Anweisungen, sogar in Mooj geschrieben. Brauchst du noch was?“ Zorn schüttelte den Kopf, steckte die Kreide in die Seitentasche der Robe und ergriff die Papierfetzen. Phan setzte sich wieder an seinen Schreibtisch.

Der Rückweg aus dem Gau kam Zorn unverhältnismäßig viel kürzer vor. Und das trotz der Waffe im Halfter, die ihm bei jedem Schritt gegen das Knie schlug, sodass er nicht nur die Schultern, sondern auch die Beine wandte und drehte, im verzweifelten Versuch, der eigenen Anatomie zu entkommen. Seine größte Sorge galt dem Hauptschacht. Er würde ihn durchqueren müssen um die Luke zu erreichen.  Humpelnd und in lächerlicher Verkleidung. Diesmal führte ihn kein Schleichweg zum Ziel. Er presste die Lippen zusammen. Der abgewetzte Stumpf des Stabes kratzte über den Boden und beschwor ein hohles Echo in der Tropfsteinhöhle. Ein Echo, dass sogleich im Stimmgewirr der Hauptkreuzung unterging.

Zorn verengte die Augen. Spähte verstohlen hinter den Lidern hervor, nach herablassenden oder gar schadenfrohen Blicken heischend. Doch außer dem wissenden Lächeln einiger Erwachsener oder den anhänglichen Pupillen der wenigen alten Männer, drehte sich niemand zweimal nach ihm um. Nicht einmal als er, einem künstlich begradigten Pfad aus Salzstein folgend, den Hauptschacht erreichte.

Zwei Anhäufungen an Bauten aus schieferfarbenen Steinsedimenten drängten sich rechts und links entlang der glatt gefliesten Gehsteige. Direkt dazwischen erblickte Zorn den Pfad-nach dem-Menschen; die große, pfeilgerade Straße, wie sie Millionen Jahre alte Wellen aus Granit zerschnitt. Und als er seine Robe zurecht zupfte, spürte Zorn das erste mal seit seiner Kindheit, wie gewaltig der ausgedehnte Hauptschacht eigentlich war.

Er hatte das Gefühl, sein hochroter Kopf passte sich der Farbe seiner hochherrschaftlichen Bekleidung an, als er durch die Masse an Händlern, Werkern und Tropfenheilern schritt, die ihr Tagewerk feilboten. Bestimmt würden viele von ihnen an den Aufgangstüren warten. Warten auf ihn. Das Fest würde beginnen, sobald er den letzten Schritt oben getan hätte. Mussten sie ihn jetzt schon anstarren? Als sich dich Möglichkeit ergab, in eine der Seitengassen zu huschen, verschwendete Zorn keinen zweiten Gedanken. Die Straßen jenseits des Pfades-nach-dem-Menschen waren anders geartet. Statt gewaltsam in die Gesteinsschichten zu schürfen, schmiegten sie sich an jede Wölbung, jede Unebenheit des Bodens wie eine Schlange in ihrem Ei.

Zorn strich durch die Schatten der Häuserzeilen, vorbei an den unförmigen Torbögen, wie sie in die Wände des Schachtes gemeißelt waren. Sie markierten die Eingänge zu den Farmen, zu den Laboren und zu den Aufbereitungsanlagen. Inmitten der Grotte passierte Zorn den gewaltigen Uhrenturm. Vier Metallstäbe ragten  aus dem Ziffernblatt, direkt unterhalb der einzigen Sonnenlichtquelle des gesamten Komplexes. Nun würde er nur noch ein einziges mal den Pfad-nach-dem-Menschen betreten. Nur noch ein Paar Meter zum Aufzug. Und das ohne sich bei seinen Altersgenossen blamiert –

„Hallo Zorn!“ höhnte eine Stimme den behauenen Felsen entlang, direkt zu seinen Ohrmuscheln. „Na? Definierst du die Mode neu?“, Zorn zuckte zusammen. In Resignation. Dabei hatte er doch ganz bewusst die andere Seite des Pfades gewählt! „Mut…“, brummte er halb fragend, „ich dachte du hilfst deinem Vater im Laden!“, „Hab gestern vorgearbeitet!“, verkündete Mut mit erhobenem Zeigefinger. Seine dunklen Augen passten so gar nicht zu den strahlend weißen Zähnen, die er zu einem allzu unschuldigen Lächeln formierte.  „Außerdem werde ich mir seine Durchlaucht, den Zwiebelkopf in rot-lila doch nicht entgehen lassen!“ Muts Selbstbeherrschung bröckelte mit jedem Wort und bröckelte in einem prustenden Lachanfall. „Leck mich am Arsch, du Bonze!“, knurrte Zorn und versetzte dem Jungen seines Alters einen Klaps gegen den Hinterkopf mittels der Rückseite seines Stabes.

„Sieh‘s positiv, wenn ich den Anderen erzähle, dass mir in einer Seitengasse der Hermelin auf Beinen erschienen ist, glauben sie mir sowieso nicht!“, rief Mut, als sein Gelächter verklungen war. „Ja ja!“, Zorn blickte für einen kurzen und doch sichtbaren Moment auf den Boden. „Bist du nur hier, um mich zu verarschen?“, stieß er hervor. Im nächsten Moment fragte er sich, ob es nicht eine Spur zu giftig wirkte. „Eigentlich nicht!“, gestand Mut.

„Ich habe dich eher zufällig erwischt. Um ehrlich zu sein…“, Mut blickte sich vielsagend in der verwaisten Häuserschlucht um. „Ich wollte zu Hoffnung!“, entließ er ein zischendes Echo, das nach wenigen Zentimetern verstummte. Zorn schwieg mehrere Augenaufschläge. Mut fügte nichts hinzu. „Also… du wirst schon ein bisschen präziser werden müssen!“, gab Zorn zu bedenken. Während sich sein Tonfall an die hochgezogene Augenbraue anglich. „Du musst es ja wissen!“, war die Antwort, bevor Mut verstohlen über seine Schultern spähte. „Also, Hoffnung Trynn! Ich hab‘ extra darauf geachtet, dass wir beide frei haben! Und wenn ich sie sehe… wer weiß?“, Mut gluckste.

„Überstürzt du es nicht ein bisschen?“, Zorns Frage entlockte Mut nur ein müdes Schnauben. „Ich bitte dich! Marten wird bald Vater und der ist nur ein Jahr älter als wir!“ Seine fließenden Worte zogen in eine erheiterte Richtung: „Außerdem muss ich ja die Gelegenheit nutzen, bevor du dich jetzt alleine nach draußen wagst und die Mädchen auf dich fliegen!“, seine Wangen schwollen an zu einem nur schwer kontrollierten Grinsen, „UND dabei womöglich noch eine neue Mode gründest!“

„Ja ja! Du mich auch!“, knirschte Zorn. Und nachdem sie einige Worte gewechselt hatten, begriff er allmählich, dass es Zeit wurde. „Ich muss.“, flüsterte er tonlos. „Grüß Hoffnung schön!“ „Alles klar! Aber wenn du draußen jemanden triffst, sag ihm, dass wir uns nicht alle so kleiden!“, Zorn äußerte eine hygienisch äußerst zweifelhafte Aufforderung. „Wir sehen uns dann später, hoffentlich in Begleitung!“, Mut winkte ihm zum Abschied, als Zorn bereits im Begriff war zu gehen. „Ach, und Zorn!“, setzte er hinzu. Zorn drehte den Nacken so weit, wie es sich die Robe gefallen ließ. „Pass auf dich auf, ja?“

Er nickte. Ein sanftes Lächeln huschte über seine Mundwinkel. Nun winkte er zurück. Es fühlte sich gut an. Selbst als er zur Hauptstraße zurückkehrte, als er dem schwerbewaffneten Aufzugswächter den Passierschein überreichte und sich die von Schweißfäden übersäte Plattform aufwärts hob. Hinauf in die Reiche jenseits von Salz und Stein. Mit Zorn als einzigem Fahrgast. Sein Lächeln war längst verebbt, als die von Rost und Alter knarzenden Legierungen der Hebelmechanik zum Stillstand kamen.

Zorns Füße folgten langsam und unmerklich, fast wie von selbst dem Ruf der Lichten Welt. Und mit einem Mal vergaß er die angebliche Größe des Hauptschachtes.

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