Deutsches Creepypasta Wiki

Eröffnung[]

„Also Mister Drake, haben Sie die Bilder und viel wichtiger, das Zertifikat dabei?“

„Ja, ja, sicher, gleich hier in meiner Tasche, einen Moment.“ Der Alte beugte sich zur Seite und fummelte einige Zeit suchend in seiner Ledertasche herum, wobei ihm seine unruhigen Finger nicht dienlich waren.

Thomas schätzte ihn auf siebzig, wenn nicht achtzig. In jedem Fall forderten die Jahre ihren Tribut. Unablässig zitterten seine Hände, der wirre Blick huschte stetig hin und her, allgemein erweckte er einen recht tattrigen Eindruck. Thomas störte sich nicht daran, solange der Alte hatte, was er versprach.

„Da ist es ja“, krächzte Drake nach einer Weile und richtete sich schwerfällig wieder auf. In der Hand hielt er eine schlichte, beige Mappe, welche er sogleich weiterreichte. Dabei bebte sein Arm, als trüge er eine kiloschwere Last.

Dankend nahm sein Gegenüber die Mappe entgegen, legte sie vor sich auf den kleinen Wohnzimmertisch und breitete sie aus. Wie erhofft, befanden sich darin einige Bilder des Objekts sowie ein Echtheitszertifikat.

Bei dem Objekt handelte es sich um einen Tresor. Einen Meter hoch, achtzig Zentimeter breit und genauso tief, mindestens zweihundert Jahre alt. Die schwere, dunkle Metalllegierung lag weitflächig, völlig blank da, keine sichtbare Schramme oder nur der Hauch eines Kratzers verunzierten es. Die Ausnahme bildete eine feine Gravur, direkt über dem Griff. Wilson[SP1] stand dort. Der Mann war seinerzeit eine Koryphäe auf dem Gebiet des Tresorbaus gewesen, so hatte es Thomas zumindest gelesen.

Im Grunde interessierte es ihn nur bedingt, woher das Objekt stammte oder wer es gebaut hatte. Er suchte nur nach einer halbwegs sinnvollen Investition für das Geld, von dem er schlicht so viel besaß, dass er es immer mehr statt weniger wurde, gleich, was er damit anstellte.

Geerbt von seinen Eltern – Gott habe ihrer beider Seelen gnädig – hatte er sich seit ihrem Dahinscheiden nie um finanzielle Mittel bemühen müssen und frönte dank dieses Umstands einem verschwenderischen, meist aber auch recht eintönigen Lebensstil.

Seit einiger Zeit hatte er es sich deswegen zum neuesten Hobby auserkoren, Antiquitäten zu suchen und zu kaufen. Einen großflächigen Raum in einem seiner drei Wohnsitze hatte er aus diesem Anlass komplett leerräumen lassen und stattete diesen nunmehr mit einem Sammelsurium aller möglichen Gegenstände aus jeder nur erdenklichen Epoche aus.

Freilich würde ihm das ebenfalls mit der Zeit langweilig werden, doch zu Weilen erfreut oder beschäftigte es ihn zumindest genug, damit er sich nicht fragen brauchte, was er mit jedem neuen Tag und dem Rest seines Lebens anfangen sollte.

Nach eingängiger Prüfung nickte Thomas zufrieden und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Alten. „Es scheint alles in Ordnung zu sein. Wenn Sie mir jetzt noch einen Blick auf das Objekt in Natura gewähren, werde ich es Ihnen gerne abkaufen.“

Die Augen des Alten wurden mit einem Mal groß. „Sie wollen es vorher begutachten?“, hauchte er erschrocken. Der Andere meinte zu sehen, wie Mister Drake erbleichte, doch war dies schwer zu sagen, da er ohnehin schon eine recht ungesunde, blasse Hautfarbe zur Schau trug.

Stutzig verzog Thomas leicht das Gesicht. „Gibt es ein Problem?“

„Nein, nein, kein Problem!“, hatte der Alte es plötzlich eilig zu versichern. „Es ist nur, ähm ... Es ist nur, ich hatte gehofft, Ihnen das Objekt schon heute verkaufen zu können und es sogleich loszuschicken, denn wissen Sie, ich ... ich ziehe bald um und will mich so schnell wie möglich von jedem unnützen Stück meiner Einrichtung befreien.“

Eine glatte Lüge, dessen war der Zuhörer dieses Gewäschs sich bewusst. Was verschwieg der Alte ihm? War der Tresor vielleicht doch nicht in so einem tadellosen Zustand, wie es die Bilder vermuten ließen? Oder haftete ihm irgendeine ominöse, ja gar düstere Vergangenheit an?

Und wenn schon!, dachte Thomas sich. Drake verkaufte das Objekt zu einem lächerlich geringen Preis, womit er sich selbst dann nicht zu ärgern brauchte, wenn es sich doch als Fehlkauf herausstellte. Und da er nicht an solch obskuren Blödsinn wie Geister glaubte, die sich in Gegenständen einnisteten, willigte er bedenkenlos ein. „In Ordnung, ich nehme an.“

Erleichtert atmete der Alte aus, fing sich allerdings sofort wieder, als ihm gewahr wurde, dass er nicht allein war. „Dann schicke ich die Umzugsleute gleich heute noch los.“ Drake beugte sich erneut herunter, nahm seine Tasche und machte Anstalten, eilig zu verschwinden.

„Haben Sie nicht etwas vergessen?“, fragte Thomas ruhig.

Augenblicklich erstarrte Drake. „H-habe ich das?“ Seine Augen huschten gehetzt durch den Raum, als glaube er, so fündig zu werden.

„Ihr Geld und mein Code für den Tresor“, erinnerte der Andere bereitwillig. Das Alter, dachte er indes. Hoffentlich ende ich niemals so ... Mit etwas Glück fand er vorher ein ähnlich schnelles und schmerzloses Ableben, wie seine Eltern, obschon er auf einen Autounfall prinzipiell gern verzichtete.

„Oh ja, natürlich.“ Er langte in seine Jackentasche und förderte ein zerknittertes Stück Papier zu Tage. „Hier, der Code.“

Thomas nahm den Fetzen entgegen und betrachtete die darauf verzeichneten Ziffern einen Moment.

„Der Todestag meiner Frau“, erklärte der Alte, was seinem Gegenüber einen leichten Schauer über den Rücken jagte. Er nahm sich vor, den Code so bald wie möglich zu ändern.

Nachdem er den Zettel zu der Mappe gelegt hatte, holte er seine Brieftasche hervor und überreichte Drake die vereinbarte Summe. Des Risikos, dass er damit einging, war er sich durchaus bewusst, immerhin konnte der Alte nun einfach sein Geld nehmen, verschwinden und sich nie wieder blicken lassen, aber was kümmerte es ihn? Wenn es nicht gegen seine Erziehung und alle ihm eingebläuten Werte seiner Eltern gesprochen hätte, er hätte die Unsummen bis zu einem gewissen Teil schlicht verschenkt.

Drake nahm das Geld hastig entgegen und verstaute es da, wo er zuvor den Zettel hervorgeholt hatte, ohne es zu zählen. Entweder vertraute er Thomas oder aber es bedeutete dem Alten so wenig, wie ihm selbst. „Ich werde dann gehen“, sagte er und wandte sich erneut zum Gehen ab. Dieses Mal hielt sein Gastgeber ihn nicht auf, sondern begleitete ihn zur Tür.

Die Hand an der Türklinke verharrte der Alte einen Augenblick. Er schien mit sich zu hadern, drehte sich dann aber doch noch einmal um. „Ich fühle mich verpflichtet, Sie zu warnen“, erklärte er tonlos. „Der Tresor befindet sich nun schon seit Jahrhunderten im Besitz meiner Familie und wurde seither nur in äußerst seltenen Fällen geöffnet. Jedes Mal, wenn dies geschah, passierte etwas Schreckliches. Das letzte Mal starb meine Frau ... Tun Sie sich den Gefallen und lassen ihn geschlossen! Es geht solange keine Gefahr von ihm aus, wie er ungeöffnet bleibt.“

Thomas klappte der Mund auf, doch da ihm keine passende Erwiderung einfiel, schloss er ihn wieder. Daraufhin nickte Drake und wandte sich, scheinbar zufrieden damit, seine Pflicht erfüllt zu haben, erneut ab. Jetzt öffnete er die Tür, um die Wohnung zu verlassen, und verschwand, ehe der Andere die Chance bekam ihn zu verabschieden.

Kopfschüttelnd sah er ihm hinterher und schloss die Tür. „Verrückter alter Kauz“, murmelte er, ehe er seinem Tagesgeschäft nachging.


Die Lieferung kam wie versprochen noch am selben Abend. Der Umzugsdienst bewies bei der reinen Ausführung der Arbeiten, ein hohes Maß an Professionalität, so das keine Beschädigungen stattfanden und der Tresor exakt dort aufgebaut wurde, wo Thomas es verlangte.

Jedoch störte er sich am Umgangston oder vielmehr, dem völligen Fehlen dessen. Die Arbeiter schienen es eilig damit zu haben, den Auftrag möglichst schnell hinter sich zu bringen, weswegen sie mit ihm nur das Nötigste redeten, indes sie untereinander unentwegt nervöse Blicke austauschten und unverständlich tuschelten. Selbst ein Trinkgeld lehnten sie ab, offenkundig in dem Wunsch, die Wohnung alsbald zu verlassen.

Obschon er sich dagegen sträubte, spürte Thomas ein schleichendes Unbehagen in sich aufsteigen. Erst Drake, der alles daran setzte, den Tresor schnellstmöglich loszuwerden, sowie ominöse Warnungen von sich gab und dann die Umzugsleute, die ein ähnliches Gebaren an den Tag legten.

Deswegen starrte Thomas nunmehr seit fast einer geschlagenen Stunde, auf das verschlossene Objekt, unschlüssig, ob er den Code eingeben sollte oder nicht. Er saß auf einem antiken, unbequemen Sofa, die Arme auf den Knien abgestützt, die Hände ineinander verschränkt und das Kinn darauf platziert.

Das Zimmer seines innerstädtischen Zweitwohnsitzes, das ihn umgab, war recht dürftig bestückt. Zu seinen Füßen lag ein alter, ausgeblichener Teppich, die Wände dekorierten einige Gemälde. Außerdem zierte eine klobige Massivholzkommode eine Ecke des Raumes.

Und nun stand seine neueste Errungenschaft inmitten der kargen Wände, aber nicht auf dem Teppich, damit dieser keine Druckspuren bekam.

Indes er den schwarzen Klotz musterte, meinte Thomas eine Uhr stetig langsamer ticken zu hören, dabei besaß er überhaupt keinen analogen Zeitmesser.

Das ist doch lächerlich!, ermahnte er sich selbst nach einer Weile. Er hatte den Tresor nicht erworben, damit er dann ungenutzt blieb! – nun, strenggenommen schon, besaß er doch weit modernere Versionen, aber hierbei ging es ums Prinzip und darum, dass er sich nicht von aus- und unausgesprochenen Schauermärchen beeindrucken ließ.

Vermutlich ist das Ding sowieso leer und man hat sich mit mir nur einen üblen Scherz erlaubt. Ja, das klang nach einer logischen Erklärung. Drake hatte auf seiner alten Tage einen Witz auf den Kosten eines anderen gerissen und für diesen Zweck, selbst die Umzugsleute instruiert, der gewiefte Hund.

Von neuem Eifer gepackt, sprang Thomas regelrecht aus seinem Sofa auf – was für eine Erleichterung, von diesem Höllending runterzukommen! – und zu dem Tresor hin. Er prüfte noch einmal den Code, dann gab er ihn ein. Das Rädchen ließ sich überraschend leicht drehen. Aufgrund des Alters hatte er mit mehr Widerstand gerechnet. Die vier Ziffern eingegeben, atmete der Mann tief durch, ehe er seine Hand auf den Griff legte, diesen hinab drückte und die schwere Tür aufschwang.

Augenblicklich trat ein erbärmlicher, bestialisch widerwärtiger Gestank heraus, welcher Thomas entgegenschlug. Er war von solcher Intensität, dass es ihm den Atem raubte und einen Würgereiz provozierte. Doch einmal in Bewegung gesetzt, ließ die schwere Tür sich nicht mehr aufhalten, weswegen sie ungebändigt weiter aufschwang und somit den grässlichen Inhalt des Tresors preisgab.

Der Besitzer traute seinen Augen nicht, als er sah, was sich darin verbarg. Er klammerte sich, an den Glauben eines wahrlich grausamen Scherzes, doch wurde sich allmählich der Tatsache gewahr, dass das Ding da drinnen echt und dies kein Witz war.

Er fiel rücklings auf den Boden, da seine Beine, in die er sich vorher gehockt hatte, ihn nicht länger trugen. Sprachlos starrte er unentwegt in den Metallkasten. Den Gestank bemerkte er nicht mehr.

Ich sollte die Polizei verständigen.

Ja. Sollte er. Doch sein Körper weigerte sich strikt, diesem logischen Gedanken Folge zu leisten.

Lieber blieb er sitzen, den Blick auf die Leiche gerichtet, die in seinem eben erst erworbenen Tresor hockte und versuchte, einen Sinn in alldem zu erkennen. Aber den gab es nicht. Nichts und niemand, vermochte eine plausible Erklärung dafür zu liefern, das Thomas einen Tresor mit den Überresten eines toten Körpers erworben hatte. Überreste, da die Leiche nur aus Torso und darauf thronendem Kopf bestand – Arme und Beine fehlten gänzlich.

Obwohl jede Faser in ihm nach Widerstand schrie, bewegten Thomas Augen sich untersuchend Millimeter für Millimeter an dem vergammelten Fleisch entlang, um zu ergründen, was geschehen sein mochte.

Selbst mit seinen spärlichen, pathologischen Kenntnissen, meinte er zu erkennen, dass die Leiche noch nicht allzu lang in ihrem stählernen Gefängnis aufbewahrt wurde. Die Verwesung war nicht sehr weit fortgeschritten.

Schlierige, eingefallene Haut, spannte sich über einem drahtigen, gleichzeitig aber muskulösem Körper. Das länglich, kantige Gesicht zeugte von einem jungen Mann, um die dreißig, höchstens fünfunddreißig Jahre alt, der zu Lebzeiten vermutlich recht attraktiv war. Die Stümpfe, der Endgliedmaßen, gaben keinen Aufschluss darüber, ob sie vor oder nach dem Tod entfernt worden waren – Thomas wollte es gar nicht so genau wissen. Bei der Analyse dieser, kam er nicht umhin, das schlaffe, bleiche Glied des Mannes zu betrachten, welches aus einem Busch Schamhaare hervorlugte. Schnell schaute er hinauf zum Gesicht des Toten, welcher kein Interesse an seiner Begutachtung zeigte. Dennoch spürte der Betrachter, zusätzlich zu dem flauen Gefühl in seiner Magengegend, wie er irrsinnigerweise leicht errötete.

Thomas schluckte schwer. Langsam überwand er seinen Schock und fühlte sich schon bald darauf in der Lage, aufzustehen und zum Telefon zu gehen, um die Behörden über den Vorfall zu unterrichten. „Dafür landet der alte Mistkerl, im Gefängnis“, hauchte er in die Totenstille seiner Wohnung hinein.

Als hätte er damit das Signal gegeben, durchzuckte es den toten Körper vor ihm auf einmal. Erschrocken fuhr Thomas zusammen, kroch ein paar Zentimeter von dem Tresor weg, stieß aber bald auf eine Grenze in Form seines Sofas.

Es blieb nicht bei einem Zucken, denn plötzlich sog der Leichnam begierig ächzend Luft in seine kalten Lungen, hob dabei den Kopf und riss die bleichen, leeren Augen auf. Er nahm tiefe, stockende Atemzüge. Der Prozess schien ihm Schwierigkeiten und Schmerzen zu bereiten, da sein Gesicht sich vor Anstrengung und Pein verzog. Schließlich beruhigte er sich, atmete ruhiger, senkte den Kopf und ließ seine Augen auf seinen Beobachter herunterwandern.

„Bei Gott!“, krächzte der Tote, „tut das gut, wieder frische Luft atmen zu können! Nein, überhaupt atmen zu können ist schon eine Wohltat für Leib und Seele! Ich danke Ihnen Sir!“

Das war schlicht zu viel für ihn. Thomas vernahm noch einige unverständliche Fetzen, ehe die gnädige Umarmung der Ohnmacht ihn zusammen mit seinem Leib zu Boden rang.

Die großen Alten[]

Thomas erwachte nur langsam, mit blinzelnden Lidern und schmerzendem Rücken. Er fand sich zusammengesackt an seinem Sofa liegend angelehnt wieder. Sein längst nicht vollends wacher Verstand unternahm den Versuch, zu rekapitulieren, was zuvor geschehen war, und scheiterte für den Moment kläglich daran. Noch bevor sein Blick auf den offenstehenden Tresor fiel, ertönte eine krächzende Stimme.

„Sieh‘ sich das einer an an, die Toten erheben sich aus ihrem ewigen Schlaf!“ Es folgte ein kurzes, abgehacktes Lachen. „Verzeihen Sie Sir, ich bin mir der Tatsache durchaus gewahr, dass ausgerechnet ich gut Reden habe.“

„W-was?“, nuschelte Thomas trunken von der Ohnmacht, die sein Bewusstsein weiterhin im Griff hielt. Sein Sichtfeld zeigte sich ähnlich wenig bestrebt, auf Hochtouren zu laufen. Es klärte sich nur gemächlich, weswegen er eine Weile brauchte zu erkennen, dass das, was er vermeintlich geträumt hatte, doch der grausigen Realität entsprach. Der Leichnam war wirklich dort und keineswegs so tot, wie es der Anschein glauben ließ.

Die Augen des Erwachenden wurden groß, sein Körper begann zu beben. „Das ist verrückt!“, sagte er mit hysterischem Unterton.

„Nein, keineswegs Sir“, versicherte der Tote kopfschüttelnd. „Freilich kann ich Ihre Verwirrung sehr gut nachvollziehen. Welchem Mann bei klarem Verstand, würde es nicht suspekt, um nicht zu sagen, völlig irsnnig und bar jeder Vernunft erscheinen, einen vermeintlich lebenden Toten in einem Tresor zu finden?“ Er räusperte sich verlegen. „Gestatten Sie mir eine Frage: Welches Jahr schreiben wir?“

Während der Ansprache des Leichnams hatte Thomas sich in eine aufrechte Position begeben und schwankte nun zwischen lähmender Angst und dem panischen Drang, die Beine in die Hand zu nehmen.

„Zweitausendachtzehn“, erwiderte er, ohne darüber nachzudenken. Es war einfacher, auf eine simple Frage zu antworten, als sich mit der Unmöglichkeit des Geschehens direkt vor sich zu beschäftigen.

„Zweitau ...“, ächzte sein Gegenüber. „Bei Gott! Eine halbe Ewigkeit haben sie mich armen Tropf hier versauern lassen.“

„W-was h-h-hat das z-zu ... bedeuten?“ Thomas presste die Frage mit größter Mühe hervor, indes er gegen den Impuls ankämpfte, aufzuspringen und den vermaledeiten Tresor zuzuschlagen, um ihn daraufhin wegzuschicken oder gleich Höchstselbst im Meer zu versenken.

Tief in seinem Innern wusste er jedoch, dass ihn diese Angelegenheit nie wieder friedlich schlafen lassen würde, weswegen er vorher Antworten brauchte. Abgesehen davon, was sollte schon passieren? Der Tote bestand nur aus einem Torso und seinem Kopf, er war nicht in der Lage, gewalttätig zu werden, selbst, wenn er es ihm danach trachtete.

Insbesondere Letzteres beruhigte ihn ein wenig, weswegen Thomas zu zittern aufhörte. Dennoch hielt er einen geflissentlichen Sicherheitsabstand, denn wenn Tote begannen sich zu regen, war es besser, mit allem zu rechnen.

„Ich äußere mal die vorsichtige Vermutung“, mutmaßte der Tote, „dass sie kein Nachfahre der Drakes sind? Andernfalls wären Sie schließlich mit meiner Geschichte vertraut.“

„D-Drake?“, fragte der Andere hellhörig. „Ich habe den Tresor von einem Mister Drake erworben.“

„Ha!“, kam es von dem Leichnam. „Es war nur eine Frage der Zeit, bis es dazu kommt. Entweder hat er sich seiner Verantwortung entzogen oder keine Kinder in die Welt gesetzt, denen er sie hätte aufbürden können und nun haben Sie mich am Hals. Mein aufrichtiges Beileid, Sir.“

„Ich verstehe nicht ...“ Thomas fand genug Mut und Kraft aufzustehen, wenngleich auf wackligen Beinen und sich auf das Sofa zu hieven, was nur eine bedingte Verbesserung zum Sitzen auf dem Boden darstellte.

„Nein, wie auch? Ich vermute, dass er Ihnen rein gar nichts über den Inhalt, dieses geräumigen Kämmerchens, welches ich mein derzeitiges Heim nenne, sprich mich, verraten hat?“

„Er hat mich gewarnt, den Tresor nicht zu öffnen ...“

Der Tote nickte bedächtig. „Sie hätten gut daran getan, dem Ratschlag Folge zu leisten, Sir.“

Diese Worte jagten dem Zuhörer einen Schauer über den Rücken. Noch war es nicht zu spät. Die Option, die Tür zuzuschlagen und die ganze Angelegenheit zu vergessen, lag weiterhin in greifbarer Nähe.

Ein Lächeln legte sich auf die Lippen der Leiche, was dieser ein groteskes Aussehen verlieh. „Könnte ich Sie um einen Gefallen bitten, Sir?“ Thomas kam nicht dazu, zu einer Erwiderung anzusetzen. „Könnten Sie mir wohl ein Glas Wasser besorgen? Meine Kehle fühlt sich nach all den Jahren furchtbar trocken an.“

„Ähm ... j-ja, ja natürlich!“ Hastig stand er auf und marschierte in die Küche. Kaum, dass er das Zimmer verlassen hatte, blieb er abrupt stehen. Was tue ich hier eigentlich?! Er wusste es nicht. Die ganze Situation war so verrückt, dass er nicht klar denken und schon gar nicht handeln konnte.

„Oh und wenn Sie mir zudem eine Kleinigkeit zu Essen organisieren könnten“, ertönte es von hinten, „wäre ich Ihnen wirklich zu Dank verpflichtet!“

Automatisch leistete Thomas der Bitte Folge. Jetzt hatte er sich schon halb auf den Weg begeben, da konnte er es genauso gut zu Ende bringen. Die Option des Schließens und Vergessens hielt er sich dennoch offen.

Wenige Minuten später, kam er mit einem Glas Wasser, so wie einem belegten Sandwich zurück, nur um ratlos zwischen Sofa und Tresor stehen zu bleiben.

Bemitleidungswürdig schaute der Leichnam zu ihm auf. „Glauben Sie mir Sir, es beschämt mich mehr wie Sie, Sie darum bitten zu müssen, mich zu ... versorgen.“

Erneut schluckte Thomas schwer, überwand sich schließlich und kniete sich herunter. Erst setzte er das Glas mit wieder zittrigen Händen an den Lippen des Toten an und neigte es leicht. Dabei schaffte er es nicht ansatzweise ruhig genug zu bleiben, weswegen die Hälfte des Wassers nicht die Kehle des Leichnams herunterrann, sondern an seinem Hals entlang, bis hinab zum Tresorboden, wo es eine kleine Pfütze bildete. Das Ganze war so absurd, dass er schon meinte doch zu träumen und gleichzeitig zu real, als dass die Überzeugung ernstlich in sein Bewusstsein drang.

Das nunmehr leere Glas nahm Thomas herunter und beobachtete dabei erstaunt, dass der Tote auf einmal ... lebendiger wirkte.

„Vorzüglich, das weckt die Lebensgeister!“, bestätigte dieser. „Haben Sie Dank.“ Sein Blick fiel auf den Teller, mit dem belegten Brot darauf. „Wenn Sie mir die Frage erlauben: Was ist das?“

„Ein Sandwich“, erwiderte der Andere selbstverständlich.

„Sand ... wich?[SP2] “ Der Tote schüttelte den Kopf. „Ich könnte schwören, diesen Begriff schon einmal gehört zu haben, aber mein verstaubtes Oberstübchen will mir partout keine Antwort liefern, wann das gewesen sein soll. Nun, sei es drum ...“ Seine Augen wanderten wieder nach oben. „Hätten Sie die Güte?“

Thomas hatte sie, wenn auch widerstrebend und mit einem Bild im Kopf, wie der Tote ruckartig vorpreschte und ihm einen Finger abbiss, wie in einem dieser Zombiefilme. Immerhin gehörte es zum Allgemeinwissen, dass Untote sich von frischem Menschenfleisch ernährten. In Filmen vielleicht, korrigierte er sich gedanklich, während er dem Toten das Sandwich hinhielt, der genüsslich hineinbiss.

„Hm!“, stöhnte er und sprach dann mit vollem Mund weiter. „Dasch ischt köschtlich!“ Er schluckte. „Ich bitte um Verzeihung, nach so langer Zeit in Gefangenschaft, vergisst man schon mal die guten Sitten.“

„Schon okay“, versicherte Thomas monoton. Er hatte längst auf Autopilot geschaltet und reichte ihm erneut das Brot, damit er den nächsten Bissen nehmen konnte. Nachdem er dieses verputzt hatte – ohne dabei nach einem Finger geschnappt zu haben – setzte der unfreiwillige Versorger sich wieder auf das Sofa.

„Nunmehr da mein gröbster Hunger und Durst gestillt sind, will ich Ihnen gern auf all Ihre Fragen antworten“, erklärte der Tote freundlich.

„Wie heißen Sie?“, fragte Thomas wieder automatisch. Er war sich selbst nicht sicher, ob er ein wirkliches Interesse an einem Gespräch hatte. Vorerst entschied er einfach, mit der Leiche zu reden und dann weiterzuschauen. Schritt für Schritt, lautete die Prämisse, bloß nicht übereilt handeln, sonst stolperte er nur und soweit es seine Beurteilung zuließ, besaß der Abgrund, an dessen Rand er balancierte, keinen Boden ...

„In den letzten Jahrhunderten, trug ich so manchen Namen. An die meisten vermag ich mich nicht einmal mehr zu erinnern“, antwortete der Mann. „Zuletzt jedoch nannte man mich James.“

„Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen James.“

„Die Freude ist ganz meinerseits, Mister ...?“

„Thomas“, beeilte er sich, zu antworten. „Nennen Sie mich Thomas.“

„Schön. Also Thomas, sicher fragen Sie sich, was in Herrgottsnamen ein Toter in ihrem Tresor macht.“

„Eine maßlose Untertreibung“, murmelte dieser.

James legte ein schiefes Grinsen auf, dass ihm nun, da er nicht mehr ganz so ... leichenhaft aussah, fast schon ein wenig Charme verlieh. „Ich will es Ihnen gern erklären, auch wenn es Ihnen womöglich schwerfallen wird, mir Glauben zu schenken. Strenggenommen, bin ich nicht tot, war es nie und werde es nie sein. Ich bin unsterblich, Mister Thomas.“

Er glaubte ihm ohne Vorbehalte – was vordergründig daran lag, das er vorerst nur Informationen aufnahm, wobei die Verarbeitung dieser, hinten angestellt wurde. Zumeist jedenfalls.

„Wie ... ein Vampir?“ Die Vorstellung mit einem waschechten Blutsauger beisammenzusitzen, behagte ihm überhaupt nicht, was lächerlich war, bedachte man, dass er nach dieser Logik weniger ein Problem damit hatte, sich in Gesellschaft eines auferstandenen Toten zu befinden.

„Oh bitte verschonen Sie mich!“, lachte James. „Es gibt keine Vampire.“ Doch entgegen seiner Behauptung wurde er plötzlich ernst. „Zumindest nicht so, wie Sie sie sich vermutlich vorstellen ... Nein, ich bin kein Vampir, ich bin ein Mensch wie Sie, nur, dass ich ewig lebe.“

Allmählich ratterte es in Thomas Hirn. Unsterblichkeit. Klang das so viel irrsinniger, als auferstehende Tote? Kaum. Außerdem hatte er selbst einen Prozess mit angesehen, den er bis vor wenigen Minuten für völlig unmöglich erklärt hätte. Wieso sollte er also daran zweifeln, dass sein Gegenüber, statt auferstanden zu sein, schlicht immer weiterlebte? Dann wiederum ...

„Dafür wirkten Sie bis eben aber ganz schön ... tot.“

„Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen und kann Ihnen, mich in Ihre Lage verseteznd, nur beifplichten“, bestätigte James nickend. „Tatsächlich, ist meine Unsterblichkeit mit einigen unangenehmen Nebeneffekten bestückt. So mag ich zwar nicht zu Sterben in der Lage sein, verspüre aber dennoch jedes menschenmögliche Leid. Ich hungere, ich bekomme Durst und ich muss atmen. Beraubt man mich dieser Dinge, fällt mein Körper unter grässlichen Schmerzen in einen todesähnlichen Zustand. Dann befinde ich mich in einer Art Schwebe, in der ich unablässig die Qualen des Sterbens verspüre, die meinen Körper dahinraffen, ihn aber nie gänzlich in den Abgrund zerren. Gleichwohl zerfalle ich, wenngleich weit langsamer, als jeder Sterbliche, dessen Körper die Einstellung sämtlicher Vitalfunktionen einholt. Erwache ich später aus diesem Zustand, so wie gerade erst, dann beginne ich mich von selbst wieder zu regenerieren. Ein Prozess, der durch die Aufnahme wichtiger Nährstoffe beschleunigt wird, wobei meine Heilungskräfte ihre Grenzen haben.“

„Das bedeutet ...“

„Ganz recht, ich bin nicht in der Lage, meine Gliedmaßen nachwachsen zu lassen. Es sei denn ich finde sie, was sich als schwierig herausstellen dürfte, da ich befürchten muss, dass man sie über den gesamten Erdball verstreut hat.“

„Das ist ... grausam.“ Grausam war überhaupt kein Wort dafür. Der Begriff, der diese Abscheulichkeit beschrieb, musste erst noch erdacht werden. Thomas verschlug es glatt die Sprache.

Den Mund verziehend, machte James den Eindruck, als wolle er mit den Schultern zucken, was sich jedoch schwierig herausstellte. „Nach menschlichen Maßstäben vielleicht. Leben Sie erst so lang wie ich, fangen Sie an, Grausamkeit anders zu definieren. Im Grunde, würden Sie jeden Aspekt Ihres und des Lebens im Allgemeinen, aus anderen Augen betrachten, sowie in anderen Dimensionen denken. Ich habe mich mit meinem Schicksal abgefunden und wenn ich ehrlich sein darf: Knappe zwei Jahrhunderte lang hier drinnen eingesperrt zu sein, war auch nicht viel öder als das Leben in der Welt da draußen. Strenggenommen hat es mich sogar ein wenig entspannt, da ich mir nicht täglich den Kopf darüber zermartern brauchte, was ich als Nächstes tun sollte. Was ich noch tun konnte, dass ich nicht schon Jahrzehnte zuvor, getan und ausgiebig probiert hatte.“

„Wie lange leben Sie denn schon?“ Augenblicklich bereute Thomas die Frage gestellt zu haben. Die Antwort konnte nur erdrückend auf seinem eh schon geschundenen Geist lasten, dessen wurde er sich sofort gewahr.

„Oh, ich habe aufgehört die Jahre zu zählen oder vielmehr, zu spät damit angefangen und es nach einer Weile wieder sein lassen.“ Er lächelte verträumt. „In der Zeit, in der ich geboren worden bin, wurde diese noch nicht gemessen. Damals hat sich niemand für das Dahinziehen der Tage interessiert, sie keinem mathematischen System unterworfen. Damals war es nur von Interesse, den nächsten Morgen zu erleben, zu überleben.“

Ein Bild schoss Thomas durch den Kopf. Vorsintflutliche Urzeit, die Entstehung des Menschen, die Anfänge des Homo sapiens, vor dem erst andere, menschenähnliche Affen kamen. Nein, so alt konnte James nicht sein, dafür sah sein verbleibender Körper, zu evolviert aus.

„Er hat sich angepasst.“

„Was?“ Zu sehr in Gedanken versunken, verstand er nicht gleich, wovon James redete.

„Mein Körper. Er ist mit der Zeit gegangen, könnte man sagen, hat sich zusammen mit der Entwicklung meiner Mitmenschen geformt. Ich sehe die Frage Ihrem Gesicht an, Sir, Sie brauchen es nicht zu leugnen und ja, ich bin tatsächlich so alt, wie Sie es sich jetzt ausmalen.“

Ungläubig starrte Thomas den Mann an. In seinem Kopf herrschte Leere. Er war nicht dazu in der Lage sich diese unermessliche Zeitspanne vorzustellen, zu begreifen, was James alles erlebt haben musste und welchen Ereignissen, er potenziell beigewohnt hatte.

„Ich habe die verschiedenen Epochen nur Phasenweise erlebt“, erläuterte James ungefragt. „Wenn unerträgliche Tristheit mich einholte, zog ich mich für ein oder zwei Jahrhunderte zurück und kam im Anschluss aus meiner Höhle gekrochen – in manchen Fällen, sprichwörtlich. In der Regel reichte diese Zeitspanne, damit die Menschheit genug Entwicklungen durchmachte, mir einige Neuerungen zu bieten. Mit jeder Phase wurde die Spanne meines Ruhens jedoch länger und die meines Wachseins, kürzer. Fortschritt hin oder her, die den jeweiligen Generationen wie Offenbarungen erschienen – mir boten sie zusehends weniger Spannung.“

„Heißt das ...“

„Nein, ich habe diese Gefangenschaft nicht freiwillig gewählt.“ Es schien, als wüsste James stets, worauf Thomas hinauswollte. Ein wenig verwunderlicher Umstand. In seiner Unsterblichkeit war es ihm vergönnt gewesen, Menschen in all ihren Facetten zu studieren und Verhaltensmuster zu analysieren, was Erwartungshaltungen schürte. Zumal er dieses Gespräch vermutlich nicht zum ersten Mal führte ... „Nein, meine Ein-Zimmer-Bleibe habe ich den Kindern, diesen kleinen Biestern, zu verdanken.“

„Kin-?“

„Ja, Kinder – die, der Familie Drake. Am Dahinscheiden ihrer Eltern war meine Wenigkeit nicht gänzlich unschuldig, weswegen sie kurzerhand entschieden, meinem Treiben ein Ende zu bereiten. Nun, zumindest soweit sie dazu bemächtigt waren. Sie überraschten mich des Nachts, haben mir aufgelauert, mich überfallen, bewusstlos geschlagen und in ihren Keller geschleppt, um mir dort die Extremitäten abzuhaken und mich einzusperren. Immerhin haben sie genug Anstand bewiesen, mich vorher meines Blasen- und Mageninhalts zu entledigen, um mir die Scham zu ersparen, in meinen eigenen Fäkalien zu sitzen. Seither wacht die Familie Drake über mich – mal mehr mal weniger erfolgreich. Ich meine mich kurzer Episoden des Wachseins zu erinnern. Vermutlich, weil spätere Generationen die Schauermärchen überprüfen auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen wollten ...“

„Jedes Mal, wenn dies geschah, passierte etwas Schreckliches. Das letzte Mal starb meine Frau ...“, hallte es leise in Thomas Erinnerung, ohne dass dieser davon ernstlich Kenntnis nahm.

„Nun ja, zumindest sind sie dieser sich selbst auferlegten Bürde bis jetzt nachgegangen.“

„Haben Sie ...?“

„Nein, ich habe ihre Eltern nicht getötet. Nicht direkt. Der Schnitter folgt mir auf leisen Sohlen, das will ich nicht bestreiten, außerdem, bin ich beliebe kein Engel. Ich habe eine Zeit lang gemordet, zum Zeitvertreib, weil es mir häufig genug so schien, dass es den Menschen eine perverse Freude bereitet, sich gegenseitig die Schädel einzuschlagen. Eine Weile, fand ich darin lohnende Unterhaltung, welche, ähnlich wie alle Aktivitäten, jedoch schließlich ihren Reiz verlor. Zum Zeitpunkt des Todes, der Drakes, hatte ich meine Mordserie schon lange beendet.“

„Aber was hat sie dann ...?“ Indes er eine nicht vollendete Frage nach der anderen stellte, vergaß Thomas allmählich seine Angst. Neugierde ersetzte diese Empfindung, fesselte ihn und nahm seine Aufmerksamkeit derart gefangen, dass alles andere um ihn herum im dumpfen Grau der Bedeutungslosigkeit versank.

Er verstand kaum die Hälfte dessen, was er hörte, allen voran da sein Geist sich weigerte, in derartigen Größenordnungen zu denken. Gleichwohl kam er nicht umhin, wie ein Kind am Lagerfeuer dreinzuschauen, dem eine Gruselgeschichte erzählt wird.

Zudem wurde er sich der Tatsache gewahr, welch unschätzbarer Wert vor ihm saß. Eine Goldmine an Wissen, ein in Fleisch geborenes historisches Bollwerk, für das so mancher Gelehrter über Leichen gehen würde und in diesem Moment, hätte Thomas nicht mit Sicherheit von sich behaupten können, nicht ähnliche Bereitschaft an den Tag zu legen.

James vermochte Klarheit, über so viele offene Fragen zu verschaffen, da er womöglich tatsächlich bei den Ereignissen zugegen gewesen war! Wen kümmerte es da, ob er sich eine Zeit lang als ruchloser Mörder verdingt hatte?

„Sie müssen begreifen und akzeptieren Thomas“, setzte James seine Erklärung, wer die Drakes getötet hatte fort, „dass es Dinge in dieser Welt gibt, von denen Sie nicht einmal zu träumen wagen. Der Mensch in seiner begrenzen Lebensspanne, ist nicht fähig diese Dinge zu sehen, da sein rastloser Geist sich mit scheinbar wichtigeren Fragen auseinandersetzt. Weil er nicht ewig währt, ist er bestrebt, ein möglichst erfülltes Leben zu führen und legt dafür nur eine allzu große Bereitschaft an den Tag, das ihm Unerklärliche zu versimplifizieren, durch alternative Fragestellungen in eine andere Richtung zu lenken oder schlicht zu ignorieren. Ich, der ich nicht derlei Ablenkungen unterliege, habe gesehen, was hinter dem Schleier liegt ... Und seitdem verfolgt es mich.“

Thomas Mund wurde trocken, sein Hals kratzte auf einmal unangenehm. Sein Gegenüber hatte den Plauderton abgelegt und stattdessen mit solch tiefgründiger, verheißungsvoller Stimme gesprochen, dass es seinem Zuhörer eine Gänsehaut bescherte.

Aus einem unerfindlichen Grund spürte er ein Grauen in sich aufsteigen. Eine Angst, die so tief saß, dass er kurz meinte, die Angst aller Ängste gefunden zu haben. Die Urangst quasi. Die Angst vor den wahren Schrecken der kleinen Welt im unendlichen Universum, welche der Mensch bewohnte. Unbeschreiblichkeiten, in parallelen Sphären lebend, die kein Vertreter seines Geschlechts je erblickt hat und die er dennoch stets unterbewusst in seinem Nacken fühlte.

Nachdem er aufgehört hatte zu sprechen, hingen die Worte James schwer in der Luft. Totenstille umfing sie, ruhte über ihnen, wie ein bleierner Mantel. Aufgrund dieser dichten Ruhe, welche jedes Fallen einer Nadel wie ein Donnerschlag hätte erschallen lassen, erreichte das sonst kaum wahrnehmbare Kratzen Thomas Gehör in erschreckender Intensität. Er sprang auf, drehte sich mitten in der Bewegung und durchsuchte den Raum, fand jedoch nichts.

„Setzen Sie sich wieder, Mister Thomas“, verlangte James in geschäftsmäßigem Ton. Auf einmal klang er nicht mehr so freundlich und bereitwillig, den Geschichtenerzähler zu mimen. Nur nüchtern und ein wenig müde.

Obwohl sein Herz raste und sich leichter Schweiß auf seiner Stirn bildete, leistete der Andere, der Aufforderung Folge.

Augenblicklich setzte James wieder da an, wo er aufgehört hatte. „Ich muss gestehen, nicht der Einzige zu sein, der eine Ahnung von den wahren Geschicken dieser Welt zu haben. Es gibt solche Menschen, die einen Hauch davon erhaschen, bewusst oder unbewusst, gewollt oder widerstrebend. Was meinen Sie, woher kommt der Glaube an die Götter, Mister Thomas?“ Er wartete keine Antwort ab. „Jede Legende hat ihren Ursprung. Viele davon sind banal und entspringen dem Versuch sich die scheinbare Willkür des eigenen Lebensraumes zu erklären, doch einige wenige, tragen einen die Vorstellungskraft sprengenden Kern in sich. Wer solchen Wesen etwas Mystisches anzuhaften gedenkt, nennt sie gern die Alten oder die großen Alten. Zeitlose Kreaturen, die schon lange vor uns gelebt haben und eine Ewigkeit nach uns weiterleben werden. So schrecklich und unvorstellbar in ihrer Erscheinung, dass der bloße Anblick einem Menschen den Verstand und das Leben kosten zu kosten vermag.“

Lovecraft!, durchfuhr es Thomas wie ein Blitz. Obgleich er niemals eines seiner Werke oder die seiner Eiferer gelesen hatte, so hatte er doch oft genug davon gehört, um den Vergleich herzustellen. Ein Gedanke, der ihn erneut zittern ließ. Er hätte es gern als Humbug abgetan, dann wiederum hegte er mittlerweile keinen Zweifel mehr daran, sich mit einem Unsterblichen zu unterhalten ... Wie viele Meter weiter hinab in den Abgrund des Wahnsinns brauchte es da schon, um bei Göttern und Dämonen an zu gelangen?

„Ehrlich gesagt, entzieht es mich derzeit noch meiner Kenntnis, ob solche Entitäten wirklich existieren. Wenn, dann habe ich sie nie erblickt.“ Erleichtert atmete der Andere auf. „Gleichwohl möchte ich behaupten, Lebewesen gesehen zu haben und begegnet zu sein, die für menschliche Maßstäbe jeder Beschreibung spotten.“

Nein. Es gab für ihn keinen Grund, diese Worte anzuzweifeln, hatte er sie doch eben noch bereitwillig geschluckt. Aber die Richtung und die Geschwindigkeit, in der sich das Gespräch entwickelte, ließen seinen Verstand Kapriolen schlagen. Nunmehr erreichte er einen Stolperstein, blockierte.

Außerweltliche Kreaturen? Keine Aliens, sondern ... Er fand keine passenden Worte, bemerkte dabei nicht einmal, dass ein ums andere, kaum einen Unterschied machte und keineswegs, für ihn als Sterbenden, bei einer Begegnung potenziell ein glimpflicherer Verlauf zu erwarten war.

Sein Hirn kramte Bilder alter Horror-Filme hervor, welche er als Jugendlicher gesehen hatte. Sie erschienen ihm lächerlich, nahezu aberwitzig, weil unmöglich der Realität entspringend. Gleichzeitig jagten sie ihm eine Heidenangst ein, da sie bestenfalls ein nach menschlicher Vorstellungskraft geformtes und somit verzerrtes Bild dessen spiegelten, wie es James soeben an die Leinwand seiner eigenen Schädelinnenwand pinselte.

Von irgendwo hinter ihm vernahm Thomas ein neuerliches Kratzen. Dem folgte ein Scharen. Er schluckte schwer, da er feststellte, dass die Geräuschkulisse sich langsam näherte, wagte aber nicht, sich erneut umzudrehen. Das Zittern wurde stärker.

„Andererseits“, fuhr sein Gesprächspartner endlich fort, „bin ich kein gewöhnlicher Mensch. Ich kann nicht sterben und bin, soweit mir bewusst, bisher niemals einer Krankheit des Geistes unterlegen. Nicht auszuschließen also, dass ich Begegnungen schadlos überstanden habe, welche anderen einen schnellen, wenngleich grausamen Tod beschert hätten.“

So sehr er es auch versuchte, Thomas war kaum länger in der Lage, seinem Gegenüber zuzuhören. Nicht, weil er sich dagegen strebte, im Gegenteil, er legte all seinen Fokus darauf, doch die Laute um ihn herum nahmen so rapide an Intensität zu, dass sie bald schon jeden Gesprächsfetzen übertönten.

Kratzen, Scharen, gelegentlich eine Art Knurren, so tief und grollend, dass es schien, die Erde würde darunter erzittern. Es vibrierte förmlich zwischen Thomas Schläfen, fräste sich direkt durch die Knochenplatten hinein und hinterließ einen sengenden Schmerz, welcher sich langsam zur Stirn ausbreitete, wo er sich zu einem Pulsieren sammelte, so dass es ihm schien, sein Hirn versuche, geradewegs herauszuspringen.

Schweiß troff ihm aus allen Poren, er massierte gewalttätig, seine ineinander verschränkten Hände, unterdrückte den Drang, sich in eine Embryonalhaltung zu begeben und starrte unentwegt mit aufgerissenen Augen James an.

„Schauen Sie mich nicht so an, Mister Thomas“, erklärte dieser. „Selbst wenn ich wollte, könnte ich Ihnen nicht helfen. Wie ich unlängst erläutert habe, verfolgen diese Wesen mich nun schon seit geraumer Zeit – warum, dass wissen sie allein. Fakt ist: da wo sie hingelangen, hinterlassen sie in aller Regel, ob bewusst oder unbewusst, Verwüstung und Leichenberge. Ich will Ihnen nichts vormachen. Sie werden sterben, Mister Thomas.“

Dem Adressaten dieser Botschaft drehte sich der Magen um, ehe er schmerzhaft verkrampfte. Ich werde sterben, dachte er mit unerbittlicher Klarheit, die keinen Zweifel zuließ.

Ein Poltern ertönte, dann ein Hämmern, gefolgt von einem weiteren Poltern und Splittern. Wenn der Wohnungsinhaber es richtig deutete, handelte es sich bei dem zerstörten Objekt um eine Vase, welche er im Flur zu stehen hatte. Ein sündhaft teures Stück, dass er sich gekauft hatte, weil ... nun, weil er es konnte.

Auf einmal erschien ihm alles sinnentleert. Ein tristes, verschwendetes Leben, welches mit voller Fahrt stets darauf ausgerichtet war, einen neuerlichen Unterhaltungszweck zu finden, der kurzfristige Würze im grauen Einerlei lieferte. Im Grunde war er James nicht mal so unähnlich, mit dem feinen Unterschied seiner Sterblichkeit ...

Um der Ironie des Schicksals die Krone aufzusetzen, hatte dieser extravagante Lebensstil, ihn dazu bewogen, ohne jede Leidenschaft, sein Reichtum darauf zu verwenden, einen alten Tresor zu erwerben, für den er keinen Zweck hatte, außer ihn als Staubfänger in seiner Wohnung zu halten. Eine vermeintlich triviale Handlung, die ihm nunmehr, das Leben kostete.

„Bevor Sie jeden Moment sterben“, sagte James, nun wieder in etwas lebhafterem, freundlicherem Ton, „möchte ich mich bei Ihnen noch für die angeregte Unterhaltung und die vorzügliche Gastfreunschaft bedanken.“

„Gern geschehen“, erwiderte Thomas tonlos, während hinter ihm eine fachgerechte Zerlegung seiner Einrichtung stattfand.

Einmal damit angefangen, schienen die Wesen Freude, darin gefunden zu haben, Möbel und Dekorationsgegenstände zu verwüsten.

Statt weiter sein Gegenüber anzuschauen, schloss Thomas die Augen. Alle Worte waren gesprochen, sein Leben verwirkt. Er wartete, auf seinem unbequemen Sofa sitzend, das Unvermeidliche ab.

Als sich schwer stapfende Schritte näherten, wusste er, dass seine Wartezeit sich ihrem Ende neigte.