Eine sonderbare Totenmesse

Angst stieg empor, als ich zwischen alten grauen Gemäuern entlangschritt um etwas zu tun vor dem ich mich eigentlich drücken wollte. Mit einem Rosenstrauß in meiner Hand erreichte ich dann eine Pforte. Sie war groß, ihr Türholz alt und sie lies sich nur mit äußerster Mühe öffnen, in dem ich mich mit meiner Schulter gegen sie stemmte.
Ich betrat einen Raum der von tiefster Dunkelheit umgeben war. Nur zwei Kerzenleuchter standen jeweils auf beiden Seiten eines geöffneten Sarges, vor dem ein Ehepaar weilte, das in völliger Stille der Toten gedachte. Beide waren in komplett schwarzer und ungewöhnlicher Beerdigungstracht gekleidet und trugen dichte Schleier, die von ihren feinen Zylindern bis zu ihren Schultern herunterhingen und ihre Köpfe ganz umhüllten.
Nachdem die Tür mit dem lauten Quietschen des Scharniers hinter mir wieder ins Schloss fiel, drehten sich Beide nicht mal zu mir um, sondern verschwanden rasch Arm in Arm hinter einer Ecke, die in einen anderen Gang führte. Schweren Schrittes trat ich dann nach Vorne, bis der Blick hinter die Sargkante frei wurde.
Nicole lag auf feinstem roten Lederpolster. Sie hätte es wohl auch so gewollt in dem weißen Seidenkleid zu Grabe getragen zu werden, doch nochmals den letzten Blick auf Sie zu gewähren war mir unbegreiflich. Sie sah furchtbar aus. Man hatte sie wieder zusammengeflickt. Wie schrecklich!
Ein einziger Moment genügte, um mich von diesem verstörenden Anblick wieder zu lösen.
Ich folgte dem selben Weg, den auch das Paar folgte, bis Orgelklänge in meinen Ohren immer lauter wurden und ich vor einer weiteren, allerdings viel kleineren Holztür ankam. Es war der Saal, in dem die Trauerzeremonie stattfand und der voller Trauernden war. Gänzlich unscheinbar wirkte dieser Raum, der überschaubar groß ohne ein einziges Fenster nur durch Kerzen belichtet wurde und sich viele Schatten über Boden und Winkel dieses Gemäuers zogen. Unscheinbar war auch die Trauergemeinde. Alle trugen diese seltsame Bekleidung und waren verschleiert, knieten während sie ein Gebet vor sich her murmelten oder saßen stumm auf ihren Plätzen. Eigentlich wollte ich mich in die hinterste Reihe setzen, doch die Sitzbänke dort waren alle schon belegt. So blieb mir nichts Anderes übrig, als durch die Mitte zu den vorderen Plätzen zu gehen. Doch als Schuldiger wurde ich nicht wahrgenommen.
Nicht Einer schaute mir nach oder beachtete mich, so als wolle man über Vergangenes schweigen. Manche bewegten sich nicht einmal und sahen mit diesen schwarzen Tüchern oder Laken über ihren Körpern schon fast gespenstisch aus. Auch die Orgelmusik war ungewöhnlich und wiederholte sich nach einer Abfolge immer von Vorn.
Ich war fast in der ersten Reihe, als sich ganz Vorne ein Herr mit einem Gehstock von seinem Stuhl erhob und mich zu sich winkte. Er trug weder Schleier noch Zylinder, sondern nur einen schwarzen Mantel und musste im hohen Alter sein. Ich rechnete mit einem Wutanfall, aber zu meiner Verwunderung setzte er sich wieder hin und gab mir nur ein Handzeichen, dass ich zu Nicoles Eltern gehen sollte. Auf zwei getrennten Stühlen, saßen sie abseits der Gemeinde ganz Vorne auf der linken Seite und während die Mutter in völliger Trauer versunken und apathisch auf ihren Schoß blickte, war der Vater irgendwie in einer vollkommen anderen Stimmung.
"Es tut mir so leid... Ich muss Andauernd an Sie denken", sagte ich reuevoll. Ohne Blickkontakt.
Es war genau dieser Moment, den ich eigentlich vermeiden wollte. Schlimmes ist meinetwegen passiert. Doch Nichts schien mehr so wie früher zu sein, so als würde ich zu jenem unheimlichen Moment vor einem Fremden stehn.
Denn anstatt mich zur Rede zu stelln, nickte er mir nur mit einem unbehaglichen Lächeln zu. Ihr Vater konnte mich eigentlich nicht leiden und drängte Nicole sogar oft mit mir Schluss zu machen. So wusste ich nicht, was ich darauf sagen sollte und verbeugte mich stattdessen nur um Verzeihung bittend und sah mich nach einem freien Platz um. Und tatsächlich war noch in der zweiten Reihe, neben einer verhüllten Frau ganz Außen einer frei. Sie war geistig völlig woanders, hielt Schmuck in ihren zitternden zusammengefalteten Händen über denen schwarze Lederhandschuhe gestülpt waren und wandte sich flüsternd an Gott, dass er "Sie zurückholen" soll.
Das Tuscheln mancher Anwesenden verstummte plötzlich, als Vorne eine Tür aufgestoßen wurde. Mein Blick schwankte dorthin ab, weil von dort ein eiskalter Luftzug in den Raum zog, Niemand jedoch auf der anderen Seite der Tür zu sehen war. Es klang verrückt und passte doch irgendwie in diese Atmosphäre, wenn man annahm, dass die Tür von Selbst aufging.
Das Licht der Kerzen flackerte. Altes, in Herbstfarben getrübtes Laub flog durch die Luft und der Orgelspieler lies noch dramatischere Klänge ertönen. Vier, in schwarzen Kutten, verhüllte Gestalten kamen dann herein und stellten den geschlossenen Sarg vor dem Altar ab. Ein Raunen der Trauer ging durch die Gemeinde. Manche weinten, andere flüsterten zu ihren Nachbarn und ich schaute beschämt auf den Blumenstrauß, den ich in den Händen hielt. Die verhüllten Sargträger verbeugten sich noch vor dem Sarg, ehe sie wieder durch die gleiche Tür verschwanden und der Orgelspieler wieder diese sonderbaren Klänge wie Vorher spielte.
Auf einmal stürmte ein Mann in den Saal.
Mit einer Mischung aus Trauer und Wut schrie er immer wieder und rannte durch die Mitte auf den Sarg zu. Es war Nicoles großer Bruder Mark. Drei weitere Männer, die auf ihn eigentlich aufpassen sollten, rannten hinter ihm her und klopften ihm Trost spendend auf den Rücken, als er weinend vor dem Sarg zusammenbrach. Dann drehte er sich zur Trauergemeinde um und sah ... Mich. In diesem Moment wurde mir klar, dass die bisher glimpfliche Behandlung mir gegenüber nun vorbei war. Seine von Tränen noch naßen Augen formten nun einen tiefen hasserfüllten Blick. "Mörder !", schrie er und wollte auf mich zurennen, wurde aber von seinen Aufpassern festgehalten, die ihn mit aller Kraft zurückhalten mussten. "Mark", rief der alte Herr mit dem Gehstock nun. "Bitte beruhige dich"
"Verfluchter Raser ! Du Schwein ! "
"Er hat meine Schwester getötet und bereut es nicht mal ! "
"Seht ihn euch nur mal an ! "
"Seht ihn euch doch nur mal an ! "
"Nicht mal angemessene Kleidung trägt er, sondern seine Lederjacke ! "
"Meine Schwester... Sie ist tot"
"Und ER hat nicht einen Kratzer"
"NICHT EINEN KRATZER "
"Mark Bitte! Du irrst dich". Der alte Herr flüsterte Mark etwas ins Ohr, der ihn daraufhin fassungslos ansah.
"Nein !", sagte Mark ablehnend und doch entsetzt.
"Doch. Ich habe mich persönlich erkundigt", entgegnete er Mark.
"ER ist Es Großvater! ER IST ES", sagte Mark wütend und zeigte dabei auf mich. Doch der Herr bat die drei Männer dann Mark wegzubringen und auf ihn solange weiter aufzupassen, bis die Beerdigung vorbei war. Ich hatte wohl nochmal gutes Glück was Mark betraf. Doch Warum?
Aus der vordersten Reihe erhob sich nun eine kleine Frau. Sie trug einen großen schwarzen Hut von dem ebenfalls ein Schleier herabhing und stellte sich an die Seite des Sarges bevor sie ihren Schleier öffnete. Sie war alt und vermutlich die Ehefrau des Herren mit dem Gehstock. Außerdem hielt sie einen Zettel in ihren Händen.
" Liebe Familienangehörige, liebe Freunde"
" Im Namen meines Mannes und unseres Schwiegersohnes möchte ich euch für euer
Kommen danken. Euer Mitgefühl und Anteilnahme an der Trauer über unsere geliebte
Enkeltochter Nicole hat uns viel Kraft gegeben. Sie ist..."
Kurz hielt sie Inne und bemühte sich nicht in Tränen auszubrechen.
"...viel zu früh von uns gegangen..."
"...Es waren wirklich schwere Tage, die wir durchmachen mussten"
"Heute ist ein Tag, der nicht leicht für uns ist ! Nicole ihre letzte Ehre zu erweisen, ist für
mich und meinen Mann der steinigste Weg den wir je gehen mussten. Aber ihr habt für
uns und Nicole gebetet und habt darauf geschworen uns heute zu begleiten. Dafür
danken wir euch ! Niemand hat es verdient so Früh sein Leben zu verlieren. Erst recht
nicht meine Enkeltochter"
Sie hielt nun den Zettel in die Höhe.
"Sie hat uns bezüglich ihrer Beerdigung Nie gesagt, was mit ihrer Leiche geschehen soll.
Wir mussten daher abstimmen. Wir Alle. Hier ist das Ergebnis. Aber ..."
Ihr Gesicht war nun nicht mehr freundlich und gütig, sondern wütend und enttäuscht und sie zerriss den Zettel.
"DAS LASSE ICH NICHT ZU"
Sie drehte sich um, packte einen Griff des Sarges und zog mit ganzer Kraft daran! Zwei verhüllte große Männer eilten schnell zu ihr um sie davon abzuhalten diese Schandtat zu begehen und den Sarg zu öffnen, während ein Raunen des Entsetzens durch die Gemeinde ging. Der Mann mit dem Gehstock erhob sich sofort und schrie sie an: "Zügel sofort dein Temperament! Hör jetzt auf damit, Sofort!", mahnte er mit seinem Stock und fügte mit einem versöhnlichen Ton hinzu: "Außerdem habe ich entschieden deinem Willen Gewähr zu leisten". Die Frau, die ihre Arme impulsiv von den Griffen der Männer befreite, konnte nicht glauben, was sie gerade gehört hatte und schaute ihn überrascht an. Und auch die Gemeinde schien von seinen Worten verblüfft zu sein und tuschelten darüber. "Heißt das ... Sie wird ... ", zögerte sie verwundert, "Verbrannt werden, ja. Ihre Überreste werden eingeäschert werden", ergänzte der alte Mann mit einem Nicken. Dann zog er den Schleier seiner Frau wieder herunter um sie zu verhüllen. "Geh schonmal runter Liebes und warte dort". Er wies beide Männer zusätzlich noch an, sie zu begleiten. Anscheinend hatte dieser Mann viel Einfluss in der Familie, strahlte mit seinem strengen Ton aber auch etwas Einschüchterndes, gar Bedrohliches aus.
Als seine Frau schließlich mit ihren Begleitern hinter der Zugangstür verschwand, blickte er in die Richtung des Orgelspielers, worauf die seltsame Orgelmusik sofort aufhörte.
" Meine Familie. Es ist soweit! "
"Der Tod ist nur das Ende des Lebens, jedoch nicht das Ende für die Seele ! "
"Was blühte soll verwelken und was atmete verfaulen "
"Nicole ist nun an einem anderen Ort"
Die Frau neben mir drehte sich plötzlich zu mir. Voller Begeisterung flüsterte sie mir zu, dass "Sie noch lebt" und "Gott sie zurückgeholt hat".
"Lasst uns nun den Weg mit Nicole zu Ende gehen "
"Ihr habt es geschworen. Schwört es nochmal, Hier und Jetzt !"
"Wir schwören es", erklang es in einer Stimme.
"Dann soll es so sein!"
"Lasst uns nun gemeinsam nach Unten gehen"
"Für Nicole"
Zuerst traten vier große verhüllte Personen an den Sarg heran um ihn zu tragen, ehe sich dann die gesamte Gemeinde von ihren Plätzen erhob und sich aufmachte den Saal zu verlassen. Ich jedoch blieb verständnislos und voller Fragen nur sitzen. Wo war nur der zuständige Pfarrer und wann ging die Trauerzeremonie eigentlich los?
"Entschuldigen Sie", wandte ich mich an meine Sitznachbarin noch. "Was passiert denn jetzt? Wissen sie Das?"
Zunächst wirkte es so, als hätte sie meine Frage nicht verstanden.
Ihr verschleierter Kopf verweilte nur reglos und wundernd meinem Gesicht gegenüber. Dann näherte sie sich meinem rechten Ohr ganz langsam und flüsterte mir nur ein unheimliches und langgezogenes Wort zu, ehe sie auch mit den letzten Trauergästen durch die Eingangstür verschwand ...
Möööörder
Ein Orgelspiel für mich bestimmt
Wände aus Brocken unterschiedlichstem Felsgestein umgaben Stufen, die eine Spirale formten und in die Tiefe führten. Gitter aus Eisenstäben, die vor Einmündungen festgeschraubt waren sollten jeden daran hindern sich unrechtens eine Kerze zu nehmen, doch waren diese vor langer Zeit schon erloschen und sind zu einem Brei aus weißen Wachs zerschmolzen. Alles lag im tiefsten Dunkeln und wenn man nicht im Besitz einer Lichtquelle war, war man hier auf sein Glück angewiesen um Weiterzukommen oder wieder Rauszufinden. Langsam stieg ich hinab. Gefolgt von jemanden, der Mir mit seinem Licht den Weg leuchtete, in seiner Person jedoch unzugänglich und verschwiegen war.
Direkt danach nämlich, als auch der letzte Verschleierte den Trauersaal verlies, lies ich mich erleichtert gegen die Rückenlehne fallen. Ich wollte noch ein paar Momente kostbarer Ruhe verstreichen lassen, bevor ich mich ebenso zur Beisetzung aufmachte, doch schon Bald vernahm ich aus der Stille in der alle verschwanden, Schritte einer sich nähernden Person. Es war ein Bediensteter dieses Ortes, der in einem mönchartigen Gewand gekleidet war und zwischen den Türen der offenstehenden Pforte auftauchte. In seiner Hand, die vom Stoff seines langen Ärmels komplett verborgen war, trug er einen spitzen, zackigen Kerzenleuchter und während der Radius des Kerzenscheins weit hinausreichte, blieb das Gesicht unter der Kutte dennoch im Dunkeln verborgen. Dies war jemand, der mit seiner Erscheinung Unwohlsein und Misstrauen unter die Leute brachte und offenbar auf Gesuch gekommen war um mich abzuholen.
Er gab keinen Ton von sich, noch trat er näher heran. Er erhob nur langsam seinen linken Arm und zeigte in die Richtung, aus der er gekommen war, um mich zum Mitkommen zu drängen.
"Ich komme dann nach. Sie müssen nicht auf mich warten"
Er jedoch mied jedes Wort. Erwartend, dass ich seiner stillen Aufforderung freiwillig und unverzüglich Folge leistete, verharrte er nur in seiner Position, womit ich die Rosen an mich nahm und mich von der Sitzbank erhob. Bereit dazu ihm zu Folgen und Nicoles Beisetzung Zeuge zu sein.
Inmitten eines unübersichtlichen und verworrenen Gängekomplex war mir der Weg zu Nicoles Grab völlig schleierhaft und kaum zu begreifen. Ich hätte ihn niemals gefunden. Nur Leute, die hier beschäftigt waren, fanden sich zurecht. Leute, die in Kutten gekleidet waren und nicht ein Wort von sich gaben. Kein Gestein wurde hier je von Sonnenlicht berührt und Schilder, sowie elektrisches Licht gab es nicht. Nur brennende Kerzen, die an den Enden der langen Gehabschnitte übereinander gereiht das ganze Gestein schmückten. Erst durch den lichtspendenden Kerzenhalter meines Begleiters wurden gehauene Konturen sichtbar, sowie in Menschengröße erstellte Gesteinsabbilder von Persönlichkeiten aus vergangenen Zeiten.
Über eine Treppe stiegen wir in eine tiefergelegene Etage hinab, in der die Wände noch näher beieinander lagen und schmalere Durchgänge formten. Einst aus einer einzigen Gesteinsschicht gehauen, waren diese Wände rau und kalt, wie in einem abgelegenen, finsteren Keller. Doch trotz, dass diese Gänge so schrecklich karg waren, bargen sie manche Stellen, die so mühselig und sorgsam erbaut wurden, dass sie hier Unten eigentlich nicht reinpassten. Möglicherweise waren dies Gedenkstellen oder sogar Gräber, doch wer sollte sich zwischen solchen Wänden seine letzte Ruhestätte aussuchen?
Wir gelangten zu einer Kreuzung, die im Lichte brennender Fackeln getaucht war. Kleine Gesteinssäulen bildeten die Ecken und stemmten ein Konstrukt aus Steinbögen, die jede Abzweigung überspannte. Ein Gang, der an einer Tür endete, grenzte zur linken Seite. Rechts der Kreuzung befand sich eine weitere Gedenkstelle, während der Gang geradeaus um eine Ecke weiterführte.
Als ich einen Schritt hinter die Schwelle in die Kreuzung setzte, setzten plötzlich eigenartige Phänomene ein. Aus dem Gang, der um die Ecke weiterführte, hörte Ich ein elendiges Geräusch lauter werden, als würde jemand unter Qualen seine Luft aus den Lungen aushauchen. Mit Schrecken erblickte ich darauf, wie der Schatten einer Person, die hinter Gittern gefangen war, an der Wand dieses Flures zum Vorschein kam, während das Feuer der Fackeln von einer nicht sichtbaren Kraft innerhalb der Kreuzung beinahe zum Erlöschen gebracht wurde. Im gleichen Moment schwang die Tür am Ende des Ganges zu meiner linken Seite wuchtvoll auf und knallte derart laut gegen die Wand, dass ich den Rosenstrauß fallen lies.
Danach war der Spuk vorbei und Stille kehrte wieder ein.
Außer, dass die Tür am Ende des Ganges sperrangelweit offenstand war alles wie zuvor. Ich jedoch war wegen diesen kurzen aber eindringlichen Momenten, die mir unnatürlich und fremdartig vorkamen noch wie festgefroren, wollte dann aber fliehen. Mein Begleiter lies Das jedoch nicht zu, worauf ich den Widerstand eines Armes spürte, der keine Knochen hatte und wie ein Bündel aus Muskeln robust und fest wurde. Fast stürzte ich vom Zurückweichen von dieser widerwärtige Berührung rückwärts zu Boden, doch überraschenderweise begann er darauf zu Sprechen.
"Sie täuschen sich in dem, was sie denken"
Die Stimme klang rau und nicht vertrauenswürdig. Dennoch ging ich auf sein Gespräch ein. Ich wollte seine Hand unter dem langen Stoff seines Ärmels sehen.
"Zeigen sie mir ihre Hand!"
Als er meiner Aufforderung nachkam und eine bleiche, eklige Hand unter seinem Ärmel zum Vorschein kam, lies meine Aufregung etwas nach, doch was ich zuvor erlebt hatte war zu eindringlich, als dass ich es nicht ansprechen wollte.
"Wer ist dort ?", fragte ich zögernd und furchterfüllt und zeigte geradeaus in den Gang, in dem ich den Schatten der gefangenen Person gesehen hatte.
"Geh und seh nach"
Hinter der Ecke erspähte ich den selben makaberen Schatten an der Wand, doch nachdem ich näher herangetreten war, erklärte sich deren wahre Ursache. Denn, was ich als Raum wie eine Kerkerzelle gehalten hatte, entpuppte sich als eine weitere Gendenkstelle, die zusätzlich mit einem Gitter abgesperrt war. Im Gegensatz zu den Gedenkstellen zuvor, war Diese noch prachtvoller eingerichtet und zollte der gewürdigten Person damit einen ehrenmächtigeren Stellenwert. Inmitten des Raumes wachte eine menschengroße Mönchgestalt aus Stein in Gebetshaltung vor dem Abbild des Toten, das im Boden eingemeiselt war und blickte darauf für Immer herab. Direkt dahinter loderte eine große Feuerstelle wie bei einem Kamin. Schließlich begann ich zu verstehen, dass die Flammen der Feuerstelle genauso wie das Feuer der Fackeln durch jene Kraft so beeinträchtigt worden sein mussten, dass der Schatten dadurch für kurze Zeit schräg über die Kante ins Blickfeld der Kreuzung abgelenkt wurde, womit sich meine Anspannung löste und in Erleichterung umschwang. Mein Begleiter lies mir somit den Vortritt zu jenem Weg, dessen Tür für uns offenstand.
Wände aus Brocken unterschiedlichstem Felsgestein umgaben Stufen, die eine Spirale formten und in die Tiefe führten. Gitter aus Eisenstäben, die vor Einmündungen festgeschraubt waren sollten jeden daran hindern sich unrechtens eine Kerze zu nehmen, doch waren diese Kerzen schon vor langer Zeit erloschen und sind zu einem Brei aus weißen Wachs zerschmolzen. Alles lag im tiefsten Dunkeln und wenn man nicht im Besitz einer Lichtquelle war, war man hier auf sein Glück angewiesen um Weiterzukommen oder wieder Rauszufinden. Langsam stieg ich in Begleitung des Kuttenträgers hinab, bis wir das Ende der Treppe erreichten. Dort führte der Weg durch breite Korridore mit hexagonförmigen Umrissen weiter. Diese Durchgänge waren deshalb so breit gebaut, damit sie von vielen Menschen gleichzeitig betreten werden konnten und doch waren sie wie verlassen. Es war eine vergessene Ebene, die tief unter der Erde lag und keine einzige Lichtvorrichtung hatte. Denn in diesen, für Menschen, unwirtlichen Bedingungen war Sehen unbedeutend, und auch wenn uns der deutlich schwächer gewordene Schein des Kerzenhalters den Weg zeigte, war dieser Ort für andere, unbewusste, Sinneswahrnehmungen geschaffen. Nur das Gehör vermochte einen Bruchteil von den Geheimnissen wahrzunehmen, als ich für kurze Dauer immer wieder einen unheimlichen Klang aus der verborgenen Finsternis hörte.
Inmitten unserer Route durch neue, lange Wege, grenzte hinter einer Wand schließlich ein tiefer Abgrund, der wie eine Spalte zwei Gebäudehälften voneinander trennte. Eine Art Säule, die ebenfalls einen hexagonförmigen Schnitt hatte, verband diese Gebäudehälften miteinander und hatte damit den Nutzen wie eine Brücke. Für zwei Personen war sie breit genug, doch war es nicht ohne Risiko sie zu betreten, da es kein Geländer gab. War man nicht vorsichtig genug, konnte man aufgrund der Form an den Außenkanten abrutschen und für diejenigen, die sie ohne Licht betraten, konnte dies gefährliche Folgen haben. Mit schwitzenden Händen und leichten Schwindel betrat ich dieses Konstrukt und als wir über dem Abgrund knapp die Mitte der Säule erreichten, dachte ich aufgrund meines Schwindels das selbe krankhafte Röcheln in den Weiten oder Tiefen des Spaltes mir eingebildet zu haben. Kurz darauf aber hallte ein kaltes Flüstern, klar und verständlich, durch den gesamten Abgrund. Es waren zwei Worte, die nur an mich gerichtet waren und mich zum Stehnbleiben trieben.
"Das ist unmöglich. Sie ist tot!"
Der Kuttenträger wusste nicht wovon ich sprach und blieb reglos und schweigend vor mir stehn.
"Die Frau, die neben mir saß.. Sie sagte Nicole würde noch leben.."
Wieder nahm jenes verdammte Schuldgefühl in mir zu. Unwohlsein und Übel rief es in mir hervor.
"Ich denke, sie missverstehen Das. Niemand hegt daran Zweifel, dass sie gestorben ist. Niemand.. außer Sie"
Entsetzt wie Fassungslos starrte ich ihn an. "..Sie denken, dass ich.. ", sagte ich und hielt ihm darauf den Rosenstrauß direkt vor sein Sichtfeld.
"Hier! Sehn sie Das !? Können sie diese Rosen durch ihren Kuttenschlitz erkennen !? Die sind für ihr Grab, also sagen sie mir nicht, dass ich zweifel! Ich weiß, dass sie tot ist"
Kurz wandte er seinen Blick von mir ab und richtete ihn auf den Korridor, auf der anderen Seite.
"Ab hier müssen sie nun allein weitergehn. Hören Sie das Orgelspiel ?"
Ich drehte mich um, doch so finster und verlassen dieser Korridor war, hörte ich dort auch kein Orgelspiel.
"Es ist für sie bestimmt. Sie müssen der Melodie nur Folgen"
"Ich hör aber kein Orgelspiel... Das ist doch jetzt nicht ihr Ernst, oder? Wolln sie mir etwa weismachen, dass die Beerdigung hier stattfindet?"
Er jedoch schwieg nur, während hinter meinem Rücken erneut das geisterhafte Flüstern erklang und Das aussprach, was nicht stimmen konnte.
"Besser Sie beeilen sich", warnte mich noch der Kuttenträger.
"Nicole ist tot ! Sie ist tot ! TOT !"
"Nicht zu ihrem Grab, sondern in einen Tunnel haben Sie mich gebracht. Sie haben mich in die Irre geführt !"
Kurz darauf erfüllte ein Röcheln den Raum des gesamten Spaltes. Es ertönte so laut, dass es mich dazu brachte, auf die andere Seite zum Ende der Säule zu rennen, da ich Angst davor hatte von dieser Kraft hinuntergeweht zu werden. Doch trotz, dass es den Kerzenleuchter und das Gewand meines Begleiters erfasste, spürte ich an mir Nichts, das auf ein Naturphänomen zurückzuführen wäre.
Als die Flammen des Kerzenhalters dieser Kraft nicht gewachsen waren zu Widerstehen, gaben Diese in ihrer Leuchtkraft so stark nach, dass es für einen Moment sehr Dunkel wurde, bis sich ihr Feuer erneut zu alter Stärke entflammte, nachdem die Kraft vorbeigezogen war. Doch was das Licht darauf zum Erkennen preisgab, war nicht das Gleiche wie zuvor. Die Welt um mich herum hatte sich zu einem verkommenen Spiegelbild geformt. Die zuvor noch glatten Betonwände waren nun schwer beschädigt und eingerissen. In Teilen bestanden sie nur noch aus der umliegenden Erde. Die Steinsäule war nun eine Masse aus Erde und im Korridor hinter mir, der zuvor noch unkenntlich dunkel war, brannten nun Kerzen in den mit Gittern abgesperrten Einmündungen. Nur mein Begleiter stand reglos mit dem Kerzenhalter in der Mitte der Brücke, während Laute den Raum des gesamten Spaltes erfüllten, die in jedem Menschen Abscheu hervorriefen und von Geziefer stammte, das in der Erde lebte.
"Was ist passiert ?", mühte ich mich mit lautstarker Stimme zu sprechen.

Doch genauso, wie sich alles um mich herum verändert hatte, schien auch der Kuttenträger eine groteske Transformation vollzogen zu haben. Diese Gestalt konnte nun nicht mehr Sprechen und unter dem Stoff seines Gewands schienen sich neue Körperformen Raum verschaffen zu wollen und bildeten dabei unregelmäßige Ausbeulungen wie bei einem Aussätzigen. Sein Kerzenhalter, der zuvor noch stabil im Griff ruhte, schwankte nun hin und her und die Kutte über seinem Haupt wölbte sich, weil sein Hals zuckte. Doch kaum versuchte ich Das, was ich sah zu verstehen, erklang erneut das schreckliche Röcheln, gefolgt von einer viel stärkeren unsichtbaren Kraft. Das Grauen blieb mir nicht erspart, wodurch ich einen Teil der abscheulichen Natur des Kuttenträgers erblicken musste, als er seinen neuen Arm offenlegte. Aus dem Stoff seines langen Ärmels schlängelte sich nur noch ein langer wurmartiger Tentakel heraus, der in die Richtung des Korridors hinter mir zeigte, bis die mächtige Kraft schließlich alle Flammen des Kerzenhalters endgültig zum Erlöschen brachte und eine Dunkelheit hervorrief, die auch den abscheulichen Lärm zahlloser Erdparasiten in Stille verwandelte.
Nicole
Mir kam es nicht mehr in den Sinn an Nicoles Beisetzung teilzunehmen, womit ich den Entschluss fasste Abzuhauen und zu einer Einmündung zu eilen, um mir eine Kerze zu nehmen. Die Kanten jener Gitterstäbe waren jedoch messerscharf geschliffen, so dass man sich daran verletzte, sollte man versuchen doch hindurch zu greifen. Dies war eine heimtückische Falle. Stattdessen nahm ich den Rosenstrauß und hielt dessen Blüten über die Flammen der Kerzen. Diese fingen jedoch kein Feuer. Wieder dachte ich an Zauberei, als sie sich quietschend, wie lebendig geworden, in meinen Händen windeten und sich braun, dann schwarz färbten. Ich lies sie fallen und hörte ein geisterhaftes, kaltes, Flüstern, das meinen Namen als Echo in alle Richtungen trug, während im selben Moment die Flammen aller Kerzen des Korridors in ihrer Leuchtkraft nachgaben und sich die Wände mit dem Wiederaufflammen in einer neuen Form zeigten. Alles hatte sich verändert, denn ich stand nun nicht mehr nahe eines Abgrunds, sondern mittendrin in dem Wegekomplex einer düsteren Grotte. Figuren aus Stein, die in zerrissenen Kutten wie große Gespenster wirkten, überzogen die Decke und reihten sich paarweise an den Seiten der Gehabschnitte. Zudem war es viel kälter als noch zuvor, sowie auch die verdorrten Rosen verschwunden waren.
Ich überlegte mir, welcher Richtung ich folgen sollte, doch möglicherweise war das in dem, von Geisteskraft, erschaffenen Wegekomplex egal, da jeder Weg dieser Grotte in die falsche Richtung führte. Dennoch beschloss ich in die Richtung zu gehen, aus der ich gekommen war, womit ich Weg für Weg zurücklegte, bis ich einen Abschnitt erreichte, an dessen Ende eine Tür grenzte. Sie war langförmig, ihre Türflügel verliefen in einem spitzen Winkel nach Oben. Des weiteren standen zwei mumienhafte Gestalten jeweils auf beiden Seiten in Einmündungen, die von zwei Kerzenhalter belichtet wurden. Ich eilte zu einem der Kerzenhalter, nahm ihn an mich und wendete mich dann der Tür zu. Sie lies sich allerdings nicht öffnen, doch als ich umkehren wollte, um einen neuen Weg zu erkunden, erklang das Flüstern aus jener Richtung der Tür erneut.
"Steven"
Ich blieb nur stehen, als sich die Türflügel öffneten, doch nur Schwärze dahinter offenbarten.
Nicole ist tot, vergewisserte ich mich, als plötzlich das Klackern von Schuhen aus der Finsternis zu hören war und in mir der unheimliche Gedanke aufkam, dass Nicole tatsächlich zurückkehrt. Schließlich trat Es in die von Kerzenlicht beleuchtete Schwelle. Sie trug das selbe Kleid wie Nicole, hatte die selbe Figur wie Nicole, doch war es nicht Nicole. Ihr Kopf war verschleiert. Er war etwa dreimal so groß wie ein normaler Kopf, wodurch diese Gestalt ihr Gewicht ausbalancieren musste und mit ausgestreckten Armen auf mich zu taumelte.
"Steven!", rief es mir zu, während die Leuchtkraft aller Kerzen nachlies, bis sie sich zu alter Stärke wieder entflammten.
Als ich Schritt für Schritt zurückweichte stürzte ich mit einem Mal rückwärts in einen finsteren Abgrund. Ich überschlug mich, als ich immer tiefer und tiefer fiel und dabei mit Schultern und Kopf gegen feste Erde stieß. Mit einem Mal spürte ich einen sehr schmerzhaften Stoß gegen meinen Kopf, und, als würde ich träumen, offenbarte sich vor meinen Augen ein surreales Bild. Ich schwebte in der Luft, war von Finsternis umgeben, als vor mir plötzlich eine merkwürdige Apparatur erschien. Es waren zwei schwere Rostgitter, die durch eine gespannte Federkonstruktion, fest aneinander zusammengepresst waren. Doch dann löste sich die Verrieglung, wodurch die Platten durch die Federn sprungartig auseinandergezogen wurden. Blut spritzte mir in die Augen, denn zwischen den Platten war grauenvollerweise ein Mann eingequetscht, der das selbe Aussehen wie Ich hatte. Die Augen meines Ebenbildes waren rot und seine Arme waren ausgestreckt. "Mööörder", sprach er mir zu, bis ich aus diesem Albtraum wieder zu mir kam.
Ich war in einem Schlammloch, tief unter der Erde. Vor mir lag der Kerzenhalter, der durch den Sturz allerdings Kerzen verloren hatte, weswegen nur noch jeweils drei übrig blieben, die vor sich her loderten. Schlamm floß durch eine Stelle von der Decke auf den Boden herab, bündelte sich wie in einem Pool, wo es in der Mitte wieder in den Boden gesogen wurde und neben dem ekligen Geräusch von abgesogenen Schlamm hörte ich des weiteren nun auch ein Orgelspiel erklingen. Dieses schwirrte jedoch aus weiter Ferne mir zu.

Mein Weg führte nicht zurück nach Oben, wo ich herunterfiel, sondern verlief durch dieses Tunnelsystem, durch Schlamm und Erde. Stets musste ich darauf aufpassen, dass nichts die Kerzen zum Erlöschen brachte und je tiefer ich vorstieß und an unheimlichen Stellen wie dreckverschmierte, morsche Särge vorbeiging, desto lauter wurde das Orgelspiel. Des weiteren verfolgte mich in dieser Finsternis auch das verfluchte Rufen jener Gestalt, das wie Nicole wirken wollte. Ich ging vorbei an Gedenkstellen, die teilweise in der Erde versanken, stets in Richtung des immer lauter werdenden Orgelspiels. Dabei erreichte ich eine schwere Eisentür, hinter der der Ursprung der Musik zu seien schien, doch als ich sie öffnete und einen Schritt eintrat, offenbarte sich vor meinen Augen das Grauen. Ich erblickte einen buckligen Kuttenmann, welcher einen Mann, der splitternackt war und an Ketten gefesselt war, auspeitschte. Oben schwankte zum Orgelspiel ein riesiger Kronleuchter hin und her, während die unterschiedlichsten Folterinstrumente an Ketten, die von der Decke herab hingen, hängten. Ich sah Messer, Äxte, Schwerter, Beile ... Die Auswahl an Folterinstrumenten war riesengroß, doch als die Eisentür hinter mir wieder zufiel und sich der bucklige Kuttenmann umdrehte und mich bemerkte, verlies ich diesen Raum wieder.
Adrenalin durchfloß meine Adern, als ich versuchte einen Weg heraus zu finden. Ich zwängte mich durch engere Tunnelabschnitte, überwandt Absperrungen, die nach Oben hin mit gefährlichen, langen Spitzen gespickt waren und lief zurück, wenn ich glaubte in die falsche Richtung zu laufen. Auch das rätselhafte Röcheln samt Luftzug, welches ich durch Verdecken des Kerzenleuchters versuchte abzuwehren, wehte durch Winkeln und Gehabschnitte der Gassen. Ich erreichte einen durch vertikale Eisenstangen versperrten neuen Abschnitt, hinter der eine schaurige Szenerie wachte. Die Figuren aus Wachs, die zwischen einen offenen Zugang, der mit Kerzenlicht erhellt wurde, wachten, waren groß. Ihr Aussehen wirkte jedoch nicht beliebig gewählt, sondern zeigte die Ebenbilder von Nicole und mir, die, wie Blut wirkend, mit rotem Wachs an Gesicht und Körper überlaufen waren, das zu Boden hinab floß und sich wie eine Blutlarche dort vereinte und als ich durch die Gitterstäbe starrte und einen Moment nicht aufpasste, blies erneut die rätselhafte Kraft hinter meinem Rücken und brachte alle Kerzen meines Kerzenhalters zum Erlöschen. "Steven", schwirrte das Flüstern mir entgegen, bis mich kalte, nasse Hände packten!
"Du bist nicht Nicole!", schrie ich und lies meine Hände mit einem mächtigen Stoß nach Vorne schwingen, wodurch die Gestalt mit einem insektenartigen Quietschen gegen die Wand knallte. Doch wieder hatte sich der Ort verändert und statt Matsch und Erde zierte nun gepflastertes Gestein den Boden. Kerzenlicht, das hinter doppelten Gitterstäben in Einmündungen die Mauern beleuchtete, zeigte mir einen Weg, an dessen Ende sich eine Treppe offenbarte, deren Stufen breit und übersichtlich waren. Und diese führten nur in eine Richtung.
Nach Unten.
Der Gefangene
Vollkommene Dunkelheit umgab eine Zelle, die in einem Nichts gelegen zu seien scheint. Der Mechanismus, der die Tür verschloss und sie zu Öffnen vermag, setzte sich aus spitzen Zahnrädern zusammen, die in der Lage waren jeder Kraft Widerstand zu leisten. Als würde der Schlüssel direkt vor ihm offenbart liegen, griff er durch das Zellenfenster. Stets geplagt vom schmerzhaften Feuer, das seinen Körper umschloss. So weit es ging streckte er seine Hand aus, öffnete und schloss dabei immer seine Faust. "Bring ihn mir. Bitte bring ihn mir!", sprach er in der Hoffnung, dass ihn jemand erhörte, während sich die Brandblasen auf seiner Haut ausbreiteten. Von Oben herab wurde darauf eine Kreissäge herunter gelassen, kurz davor ihm seine Hand abzusägen.
Ein Ausweg
In meinem aufgegebenen Geisteszustand saß ich auf dem Boden, dem Rücken gegen die Wand angelehnt. So viele Wege hatte ich ausprobiert, bin Treppe über Treppe hinabgestiegen, bis mich die Kraft Weiterzumachen verlassen hatte und ich verängstigt zu Boden sank. Es war unmöglich einen Ausweg zu finden und da ich über Treppen hinabstieg, musste ich nun tief unten in einem Untergeschoß angekommen sein. Plötzlich hörte ich Schritte immer lauter werden, bis eine Person hinter einer Ecke hervortrat. Prompt musste ich auch an die Trauergäste denken, da die Person von Kopf bis Fuß mit einem dünnen Stoff verhüllt war. Zu verhüllt, um zu erkennen, ob es ein Mann oder eine Frau war. Die Person bemerkte mich noch nicht, sondern stellte sich vor eine der Einmündungen, um mit einem äußerst qualvollen Hauchen zwei der Kerzen auszupusten. Danach schnappte sie nach Luft, fing an schrecklich zu Husten und löschte mit einem weiteren kränklichen Hauchen den Rest der Kerzen aus.
"Entschuldigen Sie", wand ich mich an sie, wodurch sie schreckartig zurückwich. "Wissen sie, wie man hier rauskommt?"
Sie entgegnete wenig Interesse mir zu helfen, doch meinen Kerzenleuchter betrachtete sie begehrlich. Sprunghaft ging sie auf mich zu und versuchte ihn an sich zu reißen, doch diese Person war schwach, sodass ich kaum Mühe hatte sie von mir weg zu stoßen, wo sie mit einem lauten Jauchzen zu Boden stürzte. Dann schnappte sie mehrmals wiederholt nach Luft.
"Bitte tu mir nichts", flehte sie mich an. Die Stimme lies auf eine männliche Person schließen.
"Kennen sie einen Ausweg?", hackte ich nochmals nach.
Er keuchte und schnappte wiederholt nach Luft, als er sich aufrappelte, doch auf meine Frage entgegnete er nur ein Kopfschütteln. Er war so schwach, dass sogar Sprechen für ihn anstrengend war.
"Ich weiß es nicht. Ich bin nur ein Diener, der seiner Pflicht nachkommt um die Kerzen zu löschen"
"Aber es muss einen Ausweg geben!", erwiderte ich.
"Ein solcher Weg ist mir nicht bekannt. Doch jetzt darf ich keine Zeit verschwenden und muss weitermachen"
Er wendete sich von mir ab, um die nächsten Kerzen einer Einmündung auszupusten. Dann verschwand er, keuchend nach Luft, hinter einer Ecke, worauf ich beschloß dem Mann zu folgen, in der Hoffnung doch einen Ausweg zu finden.
Es war ein Elend ihm dabei zuzusehen wie er wiederholt tief Luft holte und das Auspusten ihm Schmerzen bereitete. Mir lag nichts an seiner Gesundheit, doch fragte ich mich, warum er sich diese Quälerei antat. Schließlich vertraute er mir den Grund an: "Mein Herr suchte für mich eine Aufgabe und vergab mir ein schmerzhaftes Los. Ich habe Lungenkrebs und habe die Aufgabe bekommen alle Kerzen auszupusten. Und sollte ich versagen, wird meine Strafe noch härter ausfallen". Dabei blickte er immer wieder auf meinen Kerzenhalter, den ich im größtmöglichem Abstand von ihm fernhielt. Sein Schicksal machte mich stutzig. Neben seiner Aufgabe, sowie auch die rassiermesserscharfen Absperrungen vor den Einmündungen, schien alles einer sadistischen Einfalt zu bestehen.
Als wir Wege zurücklegten, erreichten wir mit einem Mal einen Raum, der mir emotional nah ging. Hinter einer Absperrung war, umgeben von Kerzen, eine Gedenkstelle errichtet, die einen Bilderrahmen mit dem Foto von Nicole umfasste. Sofort machte sich der verhüllte Diener auch an die Arbeit diese Kerzen auszupusten, doch lies ich das nicht zu und stieß ihn zu Boden. Hass überkam mich und ich wollte ihn treten, doch er fing im Krampf des Röchelns an zu lachen. "Ich werde dich an meinen Herr verraten, wenn du mich von meiner Pflicht abhälst"
"Tun sie, was sie tun müssen, doch die Gedenkstelle meiner Freundin lassen sie in Ruhe"
"Deiner Freundin? Was ist mit ihr passiert?", fragte er mich.
Jenes Schuldgefühl kam in mir wieder auf, doch schwieg ich weiterhin darüber was passiert war. "In diesem Moment glaube ich zu wissen, dass dir jemand weiterhelfen kann".
"Wer?"
"Man nennt ihn den Schlüsselmeister. Doch fällt es mir jetzt wieder ein, dass du ihn nicht erreichen kannst."
"Wo ist er?"
"Wie ich bereits sagte, ist er unerreichbar für dich"
"Aber er kann mir helfen?"
"Du bist auf dem falschen Weg, Junge. Du glaubst du kannst hier tun und lassen, was du willst, aber du irrst dich. Du kannst die Regeln nicht brechen, also vergiss es wieder"
Wütend trat ich auf seine Brust. Dann noch ein weiteres Mal. "Bitte hör auf damit", flehte er.
"Sie werden mich zu diesem Schlüsselmeister bringen. Jetzt gleich"
Vor Schmerzen stöhnend rappelte er sich auf. "Okay, verdammt nochmal. Okay"
Ich achtete darauf, dass er die Kerzen um Nicoles Bild herum nicht auspustete und folgte ihm. Wir passierten mehrere Gänge, bis er mich in einen finsteren Raum führte. Ein Rostgitter zierte dort den Boden und am Ende stand eine Statue aus Stein. Sie stellte einen Mann dar, der offenbar in Ketten gelegt und dessen Kopf in einer Haube vermummt war. Außerdem hatte sein rechter Arm keine Hand, sondern eine Art Kralle. Als ich vor der Statue stand und sie innig betrachtete, nutzte der Diener die Gunst meiner Unaufmerksamkeit aus und schnappte sich meinen Kerzenleuchter aus der Hand. Ich wollte ihn stoppen, doch im selben Moment löste sich eine der Verriegelungen des Rostgitters an der Statue, sodass ich fast in den Abgrund gestürzt wäre, hätte ich mich an der Kante nicht festgehalten. Meine Finger wurden dabei zwischen den Rostgittern eingequetscht. Die Schmerzen waren höllisch, sodass ich laut aufschrie. "Ja, schrei nur so laut du kannst", lachte der Diener.
"Ich halte mein Wort, doch wird dir mein Dienst nichts nützen, du Narr. Ich kann dir daher nur noch den Rat geben auf dich aufzupassen"
Diese Schmerzen!
Er holte tief Luft und pustete alle Kerzen des Kerzenhalters aus, womit sich eine neue Umgebung vor meinen Augen bildete. Des weiteren waren nun auch meine Schmerzen vergangen, sowie meine Finger wieder unversehrt waren. Und ich erkannte an den vertikalen Eisenstäben auch wo ich war. Sie verhinderten ein Weitergehen zu einem Raum, wo zwei Wachsfiguren in der Gestalt von Nicole und mir in rotem Wachs langsam zerliefen. Sie saßen auf zwei Säulen, zwischen denen ein Gang verlief. Anscheinend hatte der Diener recht gehabt. Der Schlüsselmeister musste irgendwo in diesem Bereich stecken, doch kam ich hier nicht weiter.
"Ich kann dir helfen"
Vor Schreck zuckte ich zusammen, da eine fremde Stimme zu mir sprach.
"Wer... Wer ist da?"
Sofort dachte ich an den Diener, doch war dieser nirgendwo zu sehen.
"Ich kann dir helfen, wenn du dafür mir hilfst"
"Was willst du von mir?"
"Ich lasse dich durch, wenn du mir dafür den Schlüssel zu meiner Zelle bringst"
Kurz überlegte ich, was ich sagen sollte. Es schien mir so, als würde ein Geist zu mir sprechen, doch war dieser Schlüsselmeister vielleicht meine einzigste Chance rauszukommen.
"Okay. Ich helfe dir", entgegnete ich.
"Gib mir dein Ehrenwort. Denn wenn nicht..."
"Ich helfe dir! Ich bringe dir den Schlüssel"
Dann, wie von Geisteskraft, verbogen sich die Eisenstäbe zu einem Durchgang so groß, dass ich hindurch passte. Ich wandte mich noch an die Stimme, mit wem ich es zu tun hatte, doch bekam ich keine Antwort. Auch fragte ich mich, warum die Wachsfiguren das Aussehen von mir und Nicole hatten, doch machte ich mich dann auf dem Weg den Schlüsselmeister zu finden.
Im Gegensatz zuvor, waren die Kerzen nicht hinter Gittergerüsten abgesperrt, sondern waren frei verfügbar. Es waren hunderte von Kerzen, die an den Wandabschnitten aufgereiht, die Räume belichteten. Alle Wände waren in Form eines gotischen Baus erstellt und eine unsichtbare Kraft, welche jegliches Kerzenlicht erlöschen wollte, gab es nicht. So folgte ich einem Korridor, Raum für Raum, bis er an einer riesigen Halle endete. Große Säulen ragten in die Höhe, sowie kolossale Figuren aus Stein oder Marmor zu beiden Seiten standen und von weißen Licht angestrahlt wurden. Am Ende der Halle konnte ich die Trauergemeinde erkennen. Einer folgte dem anderen zu einer Eisentür auf der linken Seite, neben der eine Person stand. Ich lief quer über die Halle hinüber und je näher ich dem anderen Ende kam, desto größer und mächtiger wurde diese Person. Er musterte jeden Einzelnen, der durch die schwere Eisentür ging und als auch der Letzte hindurch gegangen war, schloß er sie mit einem lauten Poltern.

"Entschuldigen Sie", wandt ich mich an ihn. Er hatte wohl mit niemandem mehr gerechnet, worauf er sich überrascht zu mir umdrehte. Ich kann nicht beschreiben, was durch meinen Kopf ging, als er mir gegenüber stand. Der Schlüsselmeister war ein kolossaler Hüne, wie aus einem Schauermärchen. Von seinen breiten Schultern hingen rostige Ketten herab, an denen Widerhaken befestigt waren. Über seinem Kopf, sowie seinem linken Arm, trug er einen Stoff, der aus dutzenden Teilen zusammengenäht war. Man denkt dabei, als würde der Stoff aus Hautfetzen bestehen. Vor seinem Gesichtsfeld waren Schlitze in den Stoff geritzt. Sein rechter Arm steckte in Eisenverbänden, wie in einer Ritterrüstung, der am Ende einen Handschuh hatte, der wie eine Kralle aussah. Und den Schlüsselbund trug er an einem Gürtel, direkt neben einem Fleischerhaken.
"Wissen sie... also ich suche einen Ausgang"
Regungslos blickte er nur auf mich herab. Dann auf die geschlossene Tür, wohl in der Verwunderung, dass ich auch dort hindurch müsste. Angst machte sich breit, als er dann mit schweren Schritten langsam auf mich zuging.
"Bitte! Ich bitte sie, ich flehe sie an! Bitte... ich will nur gehn"
Die Statue, die hinter mir in weißen Licht angestrahlt wurde, stellte einen Engel dar, der von zwei Männern festgehalten wurde, während ihn ein Dritter auspeitschte.
Schließlich wendete er sich von mir ab und ging auf die andere Seite der Halle. Dort öffnete er eine schwere Eisentür und drehte sich anschließend mir zu, wohl in der Erwartung, dass ich dort hineingehe. Schließlich kam Erleichterung in mir auf. Denn am Ende eines Ganges konnte ich eine Treppe erkennen, deren Stufen nach Oben führten. Ich lief der Treppe entgegen, doch nachdem der Schlüsselmeister darauf die Tür hinter mir wieder verschloß, schuf jene Geisteskraft wieder eine albtraumhafte Umgebung: Würmer windeten sich aus jedem Zentimeter von Wänden, die zu meiner rechten und linken Seite in eine grenzenlose Höhe empor ragten. Ich stand zwischen zwei brennenden Fackeln, die vor einem tiefen Abgrund in die Erde gestoßen waren, doch auch am Boden windeten sich in großer Anzahl widerwärtige Würmer und als ich in meiner Hoffnungslosigkeit schreien wollte, erklang aus der Finsternis vor mir das geisterhafte Röcheln und löschte das Licht der Fackeln.
Zwischen Wunsch und Verblendung
Alles war eine exakte Kopie davon, wie es meiner Erinnerung entstammte. Dies war eine Verdamnis, ein schreckliches Karma all meiner vergangenen Lebensmomente, oder es war eine neue Chance für mich einen fatalen Fehler zu korrigieren. Doch obwohl es mir nur vergönnt war zu leiden, hegte ich den Wunsch danach Nicole zu retten und eine Tragödie zu verhindern.
Und so kam es dazu, dass ich den frühstmöglichen Zeitpunkt erlebte, an dem ich Nicole kennenlernte. Dort nahm ich Platz an der Bar in meiner Lieblingskneipe. Es war Samstagabend und die jungen Leute tummelten sich in Massen hier herum. Nicole war mit Freundinnen anwesend, sie saßen an einem Tisch unweit der Bar. Damals gesellte ich mich mit meinem Freund Stan an ihren Tisch hinzu und sprach sie an, doch dieses Mal werde ich nur an der Bar sitzen und ins Glas schauen. Wir werden uns niemals begegnet sein und Nicole wäre damit gerettet.
Stan machte mich auf Nicole und ihre Freundinnen aufmerksam, sagte mir, dass sie zu uns mehrmals rüberblickten, aber ich beschwichtigte ihn nur, dass ich kein Interesse an ihnen hätte. Es war nicht leicht für mich Nicole vergessen zu wollen, doch ich musste sie retten. Schließlich änderte sich das Schicksal und Stan unternahm allein den Versuch Nicole kennenzulernen.
Da saß ich nun mit meinem Glas Vodka und lies die Zeit verstreichen. Selbst der Barkeeper bemerkte meine Lustlosigkeit und sprach mich an: "Ist wohl heute nicht dein Tag, was?"
Ich nahm einen Schluck aus meinem Glas. "Nein... Heute geht bei mir gar nichts", antwortete ich.
"Wie wär's mit Nachschlag?"
"Gerne", entgegnete ich. Er schenkte mir ein, bis das Glas voll war.
Ein Gast gesellte sich neben mir an die Bar und bestellte einen Drink. Mir fiel auf, dass er eine lange Narbe an seinem Unterarm hatte und kaum, als er seinen Drink bekam, verschwand er auch wieder in der Schar von Leuten. Ich blickte nochmals zu Nicoles Tisch hinüber und sah, wie sie mit Stan ausgiebig flirtete. Schließlich merkte ich, dass es Zeit für mich war zu Gehen.
"Wie viel bekommst du?", fragte ich den Barkeeper, um mein Getränk zu bezahlen.
"Nichts. Geht aufs Haus"
"Wirklich. Na dann danke. Wenigstens etwas Gutes", antwortete ich und lies ihm als Trinkgeld noch einen Fünfer auf dem Tisch. Dann drängelte ich mich durch die Massen und ging zum Ausgang, der jedoch verschlossen war, sodass ich mich wundernd nach einem Türsteher umsah, der sie vielleicht öffnen konnte. Aber kein Personal war in Sicht.
Mir fiel auf, dass viele der Gäste an Armen, Brust und Hals vernarbt waren. Feine, gerade Linien zierten ihre Haut. Ich ging nach Unten, in der Erwartung den Notausgang zu passieren, doch wartete dort etwas Schockierendes auf mich. Vor dem Eingang zur Herrentoilette stand ein Mann und hielt seinen abgetrennten Unterarm in der Hand. Dann wuchs sein Unterarm an den Oberarm wieder dran, bis nur noch eine lange, feine Narbe zurückblieb. Mir wurde übel bei dem Anblick, doch er warf mir nur einen Blick zu, sich wundernd, warum ich ihn anstarrte. Dann verschwand er auf der Treppe nach Oben. Ich stürmte in die Herrentoilette und übergab mich in einem der Waschbecken.
"Hier steckst du also"
Ich blickte auf, doch war ich allein im Raum. "Wer ist da?".
"Wir hatten eine Abmachung. Jetzt fordere ich den Schlüssel, den du mir versprochen hast"
Nun erinnerte ich mich wieder an die Stimme, die mir geholfen hatte, doch wagte ich es nicht dem Schlüsselmeister seinen Schlüsselbund zu entnehmen.
"Ich habe ihn nicht"
Schweigen herrschte.
"Ich werde ihn dir bringen, sobald ich zurück bin"
"Du hast dein Versprechen nicht gehalten. Dabei habe ich viele Schmerzen deinetwegen auf mich genommen. Ich musste Flammen und Peitschenhiebe aushalten, weil ich dir geholfen habe. Nun werde ich dir deine Selbstsüchtigkeit heimzahlen"
Der Boden erzitterte und die Kacheln an den Wänden zerbrachen. Danach zersprangen die Spiegel, als die Wand in der Mitte aufgerissen wurde und einstürzte. Ich wollte fliehen, doch die Eingangstür lies sich nicht öffnen. Dann sah ich die höllenhafte Gestalt, mit der ich es zu tun hatte. Seine Haut war mit Striemen und Brandblasen übersäht. Seine Handgelenke und sein Hals waren mit Stacheldraht an eine Maschine befestigt, die von einer grenzenlosen Höhe herabhing. Sein Unterleib, wie seine Beine fehlten ihm. Schläuche ragten in seinen geöffneten Brustkorb und drei Kreissägen waren mit der Maschine befestigt. Dann wurde der Motor der Kreissägen gestartet, wodurch er auf mich zu schwebte und mich versuchte mit den Sägen zu zerschneiden.
Verändertes Schicksal
Ich liebte meinen roten Mustang. Mit ihm hatte ich Spritztouren unternommen, die ich niemals vergessen werde. Die Straße war wie ein zweites Zuhause für mich. Auch der Rennstrecke war ich nicht abgeneigt, womit ich extra Rennfahrersitze in den Wagen einbaute. Doch die Sucht nach dem Geschwindigkeits-Kick war gefährlich. Viele meiner Freunde hatten schon Unfälle hinter sich und auch Ich habe aus meinen Fehlern gelernt. Dennoch war die Sucht stärker, womit mir und Nicole an jenem Tag etwas sehr Schlimmes passierte.
Ich liebte Nicole immer noch, aber ihr Leben hatte sich verändert. Sie war nun mit Stan zusammen. Ich dachte mir, wenn ich einmal das Schicksal ändern konnte, könnte ich es auch ein zweites Mal tun und mir Nicole zurückholen. Also habe ich sie in einer Nacht mit meinem Wagen mitgenommen, auf dem Weg zu ihr nach Hause.
Nicole blickte bloß auf ihr Handy. Den Rosenstrauß, den ich ihr geschenkt hatte, lag auf ihrem Schoß. Offenbar hinterlies meine Avance auf sie aber keinen bleibenden Eindruck. Was konnte ich nur tun, um das zu ändern?
"Wie kannst du deinem besten Freund nur so in den Rücken fallen?", fragte sie mich und schaute dabei auf die Rosen.
Ich dachte mir nur, dass Stan mit Nicole niemals zusammen gekommen wäre und es mir so vorkam, dass er sie mir gestohlen hatte.
"Nicole... Ich bin jetzt ein anderer Mensch geworden. Schluss mit Autorennen und Rasen"
"Schön für dich", entgegnete sie mir bloß.
"Ich weiß, dass du das nicht verstehst. Aber glaube mir, nichts liegt mir so am Herzen, dass es dir gut geht"
Sie erwiderte meinen Blick.
"Also ich weiß nicht was ich dazu sagen soll, aber ich bin mit Stan zusammen. Und die Rosen kannst du später auch wieder mitnehmen. Wenn du mich also bitte nur nach Hause bringen würdest"
Fast wäre ich aus Unachtsamkeit auf die andere Spur gekommen, worauf ein tonnenschwerer Laster zu Hupen begann. Schließlich wollte ich die Wahrheit vor ihr nicht mehr verbergen.
"Wir sollten zusammen sein. Du und Ich"
"Wovon redest du bitte?"
"Wenn wir eine Beziehung hätten, wären wir glücklich miteinander"
Nicole lachte.
"Ähm kann es sein, dass du auf Stan einfach nur eifersüchtig bist? Jedenfalls werde ich mich von dir nicht mehr Fahren lassen"
Plötzlich gaben die Lautsprecher ein Rauschen ab, während Nicole hektisch anfing zu atmen. Wie lebendig geworden windeten sich die Rosen auf ihrem Schoß, ehe sie anfingen zu verdorren. Dann zersetzte sich ihr Körper. Widerwärtige Würmer, sowie unzählige Käfer quollen aus ihrem Fleisch heraus. Mit einem Ruck ergriff sie darauf das Steuer, mit der Absicht, ihr altes Schicksal wieder heraufzubeschwören, womit der Wagen auf die andere Straßenseite navigierte. Panisch versuchte ich noch das Lenkrad zurückzureißen, doch die Kraft der verwesenden Nicole war stärker als meine, bis ein entgegenkommender Wagen nur noch Hupen konnte und ein Frontalcrash unausweichlich war.
Das Hupen eines tonnenschweren LKWs riss mich aus den Gedanken. Fast wäre ich unachtsam auf die Kreuzung gefahren. Geschockt hielt sich Nicole die Hand an die Brust. "Das war knapp", sagte sie voller Erleichterung heraus. An ihrem Zuhause angekommen drehte ich den Motor aus.
"Danke, dass du mich hergebracht hast", sagte Nicole.
"Kein Problem. Aber bitte denk nochmal darüber nach"
"Ich glaube, dass zwischen uns alles geklärt ist. Ich bin mit Stan zusammen, also akzeptiere es"

Sie legte den Rosenstrauß auf den Beifahrersitz und schloss die Tür. Draußen wehte der Wind das Laub auf, während ich der Melodie aus dem Lautsprecher lauschte, die durch ein Rauschen dann gestört wurde. Schließlich löste ich den Gurt, nahm die Rosen an mich und stieg aus dem Auto aus.
"Nicole! Nicole!", rief ich, doch hörte sie mich nicht. Ich versuchte sie einzuholen, bis sie jedoch hinter der Eingangstür zu ihrem Zuhause verschwand. Die Tür stand noch offen, also trat ich hinein.
Das erste, was optisch herausstach, war das Gedenkfoto von Nicole gewesen, das auf einem Tisch stand und von Kerzen belichtet wurde. Desweiteren wirkte das Haus verlassen. "Nicole!", rief ich nochmal ohne eine Antwort zu bekommen. Dann folgte ich einem Flur an dessen Ende Stufen einer Treppe nach Unten führten.
Bestrafung
Angst stieg empor, als ich zwischen alten grauen Gemäuern entlangschritt um etwas zu tun vor dem ich mich eigentlich drücken wollte. Mit einem Rosenstrauß in meiner Hand erreichte ich dann eine Pforte. Sie war groß, ihr Türholz alt und sie lies sich nur mit äußerster Mühe öffnen, in dem ich mich mit meiner Schulter gegen sie stemmte.
Ich betrat eine Kathedrale an dessen Ende ein Grabstein vor einem frischen Grab errichtet wurde, das mit matschiger Erde zugeschaufelt war. Davor weilte ein Ehepaar, das in völliger Stille der Toten gedachte. Beide waren in komplett schwarzer und ungewöhnlicher Beerdigungstracht gekleidet und trugen dichte Schleier, die von ihren feinen Zylindern bis zu ihren Schultern herunterhingen und ihre Köpfe ganz umhüllten. Als die Tür hinter mir mit dem lauten Quietschen des Scharniers wieder zufiel, drehten sich beide nicht mal zu mir um, sondern verschwanden rasch Arm im Arm in einen Gang, dessen Tür zufiel und mit einer herabfallenden Absperrung versperrt wurde. Rotes Licht, das durch die langen Fenster schien, durchflutete die Räumlichkeiten, die ich langsam erkundete und nach Vorne ging.
Vor dem Grab, in dessen Grabstein Nicoles Name eingemeiselt war, kniete ich nieder und legte die Rosen ab.
"Es tut mir so leid Nicole", flüsterte ich und erhob mich wieder.
Plötzlich durchzog ein Lachen die Stille.
Die Kerzen der zackigen Kronenleuchter flammten impulsiv auf, sowie sich die aufgestellten Fackeln neben mir von selbst entzündeten und stichflammenartig aufflackerten.
"Deine Reue ist nichts weiter als leere Worte". Es war die Stimme eines alten Mannes, doch war niemand außer mir im Raum.
"Das stimmt nicht! Ich habe Nicole geliebt!", rief ich. Langsam verdorrten und zerfielen die Rosen auf Nicoles Grab. Unzählige Totengräberkäfer schwärmten aus der Erde heraus und breiteten sich quietschend über ihrem Grabstein aus.
"Und dennoch leugnest du die Konsequenzen. Du kannst aber nicht entkommen, ich nehme euch beide!"
Aus der Erde, brach neben Nicoles Grab darauf ein weiterer Grabstein heraus auf dem mein Name stand.

"Nein! Das kann nicht wahr sein!", sagte ich, während das Lachen des alten Mannes wie ein Echo den Raum erfüllte. Auf Nicoles Grab fielen darauf menschliche Überreste von Oben herab, während über dem danebenliegendem Grab ein Mensch mit meinem Aussehen lose wie eine Marionette mit Gurten an Armen und Beinen herabhing. Er hatte keine Augen und der Mund war zu einem Loch ausgefräst. Zudem war ein Beatmungsschlauch in den ausgehöhlten Mund eingesetzt, worauf der Körper künstlich beatmet wurde und Laute eines krankhaften Röchelns abgab.
Ich rannte zur Tür zurück, doch sie klemmte. Ich zog und zog am Türgriff, aber sie lies sich nicht öffnen.
"Du kannst nicht mehr wegrennen, Steven", sagte die Stimme, die einen immer tieferen Tonfall annahm, bis der Leibhaftige persönlich sprach. "Du bleibst hier bei mir"

Zwischen den Gräbern brach darauf ein furchtbares Monster heraus. Spitze lange Zähne stachen aus beiden Kanten eines morschen Sarges heraus, den es anstelle eines Kopfes hatte. Rießige schleimige Würmer windeten sich zwischen der offenen Sargklappe, sowie aus dem geöffneten Unterleib und an seinen langen Gliedmaßen, die von Flecken übersäht waren, hingen Ketten. Furios stürmte es dann auf mich zu. Ich hatte der Kreatur nichts auszusetzen und konnte nur noch mit zitternden Körper zusehen, wie der Schlund dieses Ungeheuers immer näher kam und mich schließlich auffraß.
"Bitte... hörn sie auf", flehte ich.
Ein weiterer Peitschenhieb durchzog mein Mark, bis der bucklige Kuttenmann eine Pause einlegte. Orgelmusik erfüllte den Raum. Er wusste was er tun musste um mich zu foltern. Körperlich, sowie psychisch, worauf er langsam seine Finger über die Ketten laufen lies. Ganz langsam, worauf mich das Klirren der Ketten an die unzähligen Folterwerkzeuge denken lies, die an den Ketten hingen. Die Ketten an meinen Handgelenken waren fest und schmerzten. Anschließend peitschten zwei Hiebe erneut auf meinen Nacken nieder.
Dann hörte ich die Eisentür aufschwingen.
Jemand betrat den Raum und lenkte damit die Aufmerksamkeit des Kuttenmannes von mir auf sich ab. Ich sah nicht, wer es war, doch kurz darauf verschwand derjenige wieder, worauf die Folter weiterging. Hoffnungslos war mein Blick nach Unten geneigt, wo meine abgetrennten Beine lagen. Dann lies mich mein Peiniger die scharfe Kante einer Axt spüren, ehe er ausholte und ich nur noch einen zerreißenden Schmerz spürte, bevor das Dunkel sich vor meinen Augen ausbreitete.
Beerdigt soll sie werden

Ich weiß nicht, wie lange ich bewusstlos war. Möglicherweise waren es nur Minuten, vielleicht aber auch Stunden. Als ich erwachte stellte ich fest, dass ich nicht alleine war. Der alte Herr mit dem Gehstock blickte mich grimmig an. An seiner Seite wachten drei verhüllte große Männer, die bereit dazu waren, alles zu tun, was er befahl.
"Wo waren sie denn nur?", fragte er mich mit einem Grinsen. "Wollten sie etwa schon gehn?"
Ich kroch auf dem Boden, ehe ich vor Schreck die Kontrolle über meinen Körper verlor: Ich spürte einen beißenden Schmerz im Rücken und an meinen Armen und Beinen. Des weiteren konnte ich nicht mehr unbeschwert atmen, sondern spürte einen inneren Widerstand in der Brust. Speichel tropfte aus meinem Mund und ich quälte mich zum Ausgang, der nur ein paar Meter von mir entfernt war.
"Macht Platz", sagte der alte Herr, worauf die drei verhüllten Männer sofort zur Seite gingen und der Schlüsselmeister zu Sehen war.
Mit schweren Schritten ging er auf mich zu. Dann formte er seine Kralle zu einer Faust, die er mit einem gewaltigen Schlag in meinen Rücken rammte. Der Schmerz war extrem, doch wenige Momente darauf spürte ich meinen Körper wieder und konnte mich normal bewegen.
"Kommen sie mit", befahl mir dann der alte Herr. Ich stand auf, eilte allerdings schnell zum Ausgang, dessen Tür jedoch abgesperrt war.
"Wir haben hier einen Ausreißer. Wenn sie nicht freiwillig mitkommen, muss er sie eben dazu zwingen", sagte der alte Herr und blickte zum Schlüsselmeister.
Doch der Ausgang war für mich zum Greifen nah.
"Ich habe es mir anders überlegt. Nicoles Beisetzung ist für mich zu viel. Bitte lassen sie mich gehn", sagte ich und zog am Griff des Ausgangs.
"Anders überlegt? Sie gehören zur Trauergemeinde und haben geschworen Nicoles Beisetzung Zeuge zu sein!"
"Das stimmt nicht, ich habe nichts geschworen. Ich bin hier her gekommen um an der Trauerfeier teilzunehmen. Die ist vorbei, also lassen sie mich gehn".
Er blickte bloß zum Schlüsselmeister, der daraufhin meinen Kragen packte und mich vom Ausgang weg schubste. Mit der Unterstützung dieses Gehilfen war es zwecklos Widerstand zu leisten, worauf ich nichts anderes tun konnte, als der Anweisung des alten Herren zu befolgen.
Er wies die drei Männer an, die Treppe nach Unten zu nehmen, während er, ich und der Schlüsselmeister dagegen den Aufzug nehmen würden, dessen Fahrkabine scheppernd in das eiserne Gehäuse ankam. Wuchtig stieß mich der Schlüsselmeister dann in den Aufzug, gefolgt von dem alten Herren, der sich neben mir stellte. Nach einer Hebeldrehung setzte der Schlüsselmeister dann die Fahrkabine in Bewegung. Eine Fackel, die an einem Eisenstab befestigt war, erhellte die ganze Umgebung, die an uns nach Oben vorbeizog.
"Ich weiß, wer sie sind", sagte der alte Herr dann.
Ich schwieg, da ich Ärger vermeiden wollte.
"Sie sind derjenige, der sich um Nicole bemühte"
Er verwechselte mich mit Stan, doch wollte ich ihm nicht widersprechen. Als die Kabine einen tiefergelegenen Stock passierte, erhellte das Fackellicht den dortigen Zugang zum Aufzug. Für Sekundenbruchteile sah ich darauf mein Ebenbild, das mit Armen und Beinen an Gurten von Oben herab hing und dessen Mund ausgefräßt war. Mit dem Ausatmen durch den Beatmungsschlauch wehte uns auch die rätselhafte Kraft entgegen und brachte das Fackelfeuer zum Flackern.
"Und wer sind sie?", fragte ich.
"Ich bin Nicoles Großvater"
"Sind... Nicoles Großeltern nicht schon gestorben?", fragte ich, weil mir Nicole dies einmal anvertraut hatte.
Der alte Herr grinste mich an, als ich ihn der Lüge ertappte.
"Sie haben recht. Sie sind beide tot"

Ein Schmerz durchstieß meinen Kopf und mit einem Mal hatte ich wieder jene schicksalhafte Nacht vor meinem Auge, als ich das Steuer in der Hand hielt und mit Nicole auf der Überholspur des Highways raste.
"Wer... sind sie dann?"
"O glauben sie mir, dass werden sie noch früh genug erfahren. Doch ich kann ihnen verraten, dass dies ein Spiel für mich ist."
"Ein Spiel?"
"Ja. Vor kurzer Zeit breiteten sich menschliche Fragmente, die Überreste eines erlöschten Lebens, vor mir aus. Als ich alle Fragmente zusammenfügte und sie mir einverleiben wollte, ergriff mich das Ende des Liebespaares. Also entschloss ich mich dazu die Trauerzeremonie nachzuspielen"
Er stieß mich mit seinem Stock und trat näher an mich heran.
"Und wissen Sie auch, warum jeder seine Rolle so unglaublich echt spielt? So echt, als würden sie tatsächlich daran glauben, dass sie diese Person auch sind?"
Ich schüttelte den Kopf.
"Glauben sie mir, sie würden es vergessen wollen, wenn sie es wüssten", sagte der alte Herr.
Je tiefer wir unten ankamen, desto mehr veränderte sich die Beschaffenheit der Wände. Zierten am Anfang noch Mörtel und Ziegelstein die Wände, war es nun feste Erde die die Kabine umgab. Dann windeten sich Würmer aus jedem Zentimeter der Erde, ehe wieder Erde die Kabine umgab. Der Aufzug schien sich endlos nach Unten zu bewegen, bis wir immer langsamer wurden und schließlich ankamen.
Der Schlüsselmeister zog das Schiebegitter zur Seite und nahm die Fackel zur Hand. Hier Unten, in einem unvorstellbar tiefen Graben, sollte Nicoles Beerdigung stattfinden. Die Wände zur rechten und linken Seite ragten in eine grenzenlose Höhe, sowie wir auf das Licht der Fackel angewiesen waren um Weiterzukommen.
Wir gingen vereinzelt an verschleierte Personen vorbei, die in inniger Konzentration Gebete vor sich her flüsterten und allein in der Finsternis zurückblieben. Der Weg schlängelte sich durch Ecken und Abzweigungen, sodass wir immer tiefer in das Grabenlabyrinth vorstießen und ich den Überblick verlor. Schließlich tauchte die Trauergemeinde vor uns auf. In dem engen Grabendurchmesser, bildeten sie eine Gasse, damit der alte Herr unbeschwert nach Vorne durchgehen konnte. Vor einem Graben, an dessen Grenzen zwei aufgestellte brennende Fackeln standen, hielten zwei kräftige Männer jeweils zwei Seile fest, die nach Oben ragten und mit dem Sarg, der in einer nicht sichtbaren Höhe schwebte, verbunden waren. Doch sie wurden von der alten Frau belästigt, die versuchte sie in den Graben zu stoßen.
"Nein! Du hast versprochen, dass sie eingeäschert wird!", schrie sie zu dem alten Herr und versuchte einem der Männer das Seil zu entreißen.
Erbarmungslos schlug dann der Schlüsselmeister sie mit dem Fackelstiel zu Boden!
"Ich lasse doch nicht zu, dass meine Enkeltochter verbrannt wird!", entgegnete der alte Herr. "Los! Schafft sie hier weg!"
Zwei verhüllte Männer eilten heran und schleiften die alte Frau in den hinteren Teil, bis sie in der Dunkelheit nicht mehr zu sehen waren.
"Vater, bitte! Ich ertrage es nicht", sagte Nicoles Mutter, die sich mit einem Taschentuch die Tränen wegwischte.
"Du bleibst hier, so wie jeder andere!", schimpfte der alte Herr und befahl Nicoles Vater seine Frau festzuhalten.
Dann streckte er erhaben seine Arme aus.
"Endlich ist es so weit! Beginnen wir nun mit Nicoles Beisetzung. Da Jeder geschworen hatte Nicole zu begleiten, lösen wir nun unser Versprechen ein. Lasst uns beten..."
Ein jeder der Trauergemeinde nahm nun die Hand des anderen.
"Herr, wir nehmen einen Toten in unserem Kreis auf und geben ihn nicht frei. Gott erhöre uns, wir geben ihn nicht frei!"
Was sich wie ein normaler Spruch anhörte, war in Wahrheit jedoch ein todbringender Fluch, den jeder einzelne der Trauergäste zu tragen hatte.
Da mich der Schlüsselmeister außer Acht lies, zwängte ich mich durch die Trauergemeinde nach Hinten durch. In dieser Finsternis konnte ich jedoch den Weg zum Aufzug nicht zurück finden. Dann hörte ich eine Frau weinen. Sie weinte kläglich und an der Grenze zum noch Erkennbaren konnte ich eine verschleierte Frau sehen. In dem Weinen glaubte ich herauszuhören, wer diese Frau auch war. War das etwa meine Mum?
"...Mum?", rief ich, doch die Frau verschwand hinter der Ecke des Grabens. Ich versuchte ihr zu folgen. Wie blind geworden lief ich mit ausgestreckten Armen durch die Finsternis und folgte dem Weinen, bis neues Licht zweier aufgestellter Fackeln den Weg erhellte. Sie waren vor einem Graben aufgestellt, an dessen gegenüberliegendem Ende die Trauergemeinde betete. Und als ein Trauergast den alten Herr auf mich aufmerksam machte, schien der von Hass getrieben auf mich zu schimpfen.
"Du? Mörder! Mörder!", schrie er und befahl den zwei Männern die Seile loszulassen, die seinem Wort unmittelbar Folge leisteten. Der Sarg fiel somit ungebremst von Oben herab, ehe er in der unkenntlichen Tiefe des Grabens verschwand. Der alte Herr wusste nämlich, dass der Graben in zwei Seiten geteilt war: Jene Seite, die des Todes war und jene Seite, wo Leben herrschte. Und so, wie ich mich auf der sicheren Seite befand, war die Trauergemeinde nun dazu bestimmt, zu Sterben. Somit wurde das Quietschen zahlloser Erdparasiten von Oben herab immer lauter, bis der fallende Sarg in eine Tiefe vorstieß und der Todesfluch die Höhe der Trauergemeinde erreichte und aus jedem Zentimeter Erde, sowie jedem Zentimeter Haut, Würmer herausquollen. Jedes einzelne Mitglied der Trauergemeinde, der Schlüsselmeister sowie der alte Herr, zerfielen somit grotesk in einen einzigen Haufen von Würmern.
Ein Ende?
Hatte ich es überstanden? War ich nach all der Strapazen nun in Sicherheit?
Reglos schaute ich auf die andere Seite des Grabens und beobachtete dabei, wie die Würmer in der Erde verschwanden. Es war nun wieder friedlich still geworden.

Plötzlich schossen zwei wurmähnliche Tentakeln aus der Erde beider Seiten, umschlungen meine Arme und zogen sie auseinander! Aus dem tiefen Graben ertönte ein Röcheln, bis ein riesiges Monster daraus emporstieg. Seine Arme als auch sein Kopf waren enorme Wurmfortsätze, sowie sich sein Unterleib aus einem riesigen Beatmungsschlauch zusammensetzte, der mit Haut überzogen war. Sein linker Wurmfortsatz hatte außerdem Nicoles Sarg im Maul, aus dessen Inneren hektische Schreie und ein Klopfen zu Hören war. Das Monster saugte den Sarg langsam auf, sowie es beim Ausatmen die Laute eines Röchelns abgab.
Die Erde zur meiner linken Seite brach auf, sodass sich ein Tunnel in die Erde fortsetzte. "Steven!" erklang es mit einem geisterhaften Flüstern aus dem Tunnel, bis jene Gestalt herauskam, die wie Nicole wirken wollte. Als es vor mir stand, packte es meinen Hals und würgte mich. Mit ganzer Kraft zog ich meine Arme zusammen, sodass sich die beiden Tentakeln über dem Feuer der Fackeln verbrannten und meine Arme freiliesen. Hektisch ergriff ich darauf eine der Fackeln und stieß den Stiel in den verhüllten Kopf der Kreatur, die mich darauf kreischend los lies. Der Kopf jener Gestalt bestand aus fünf armlangen Wurmfortsätzen, die sich in alle Richtungen windeten und den Schleier abfallen liesen, wodurch ich die zweite Fackel nahm und das Kleid der Gestalt in Brand setzte. Mit einem insektenartigen Quietschen lief es dann rückwärts in den Tunnel zurück, der sich darauf von Geisteskraft wieder verschloss.
Als mich das riesige Monster darauf fressen wollte, hielt ich die Fackel in den großen Schlund, der sich voller Schmerzen abwandte. Doch anschließend schoß erneut ein Tentakel aus der Erde, umschloss meinen Hals und würgte mich. Auch sah ich verschleierte Personen im Graben herumstehen, die von Tentakeln gewürgt oder festgehalten wurden. Dann sah ich jene verschleierte Frau auf mich zukommen, die bei der Trauerzeremonie neben mir saß. Sie trug eine Axt in ihren Händen und wurde von den Tentakeln außer acht gelassen. "Mööörder!", flüsterte sie und rammte mir die Axt in meine Schulter. Ich kämpfte mit dem Tentakel, der mich würgte und hielt das Feuer der Fackel an sein Fleisch, womit er mich frei lies. Dann weichte ich aus, als die Frau mit der Axt nochmal zuschlug.
Mit Schmerzen in der Schulter rannte ich mit der Fackel an Verschleierten vorbei, die von Tentakeln malträtiert wurden, doch das riesige Monster verfolgte mich, sodass ich die Fackel in den Schlund werfen musste, um mich zu schützen. Dann erblickte ich in der Ferne eine Aufzugstür stehen. Ich beeilte mich und konnte mich in letzter Sekunde in den Aufzug retten, dessen Schiebetür zuging. Erschöpft legte ich mich auf den Boden. Die Fahrkabine fuhr allerdings nicht nach Oben, sondern nach Unten und die Spiegel an den Wänden waren zersplittert. "Gerettet", sagte ich und schnaufte mit geschlossenen Augen tief durch. Dann öffnete sich die Schiebetür.

Ich sah an den Räumen und Gängen sofort, dass ich in einem Krankenhaus war. Unmittelbar darauf fiel mir auch die Zimmernummer ein, die ich aufsuchen musste, doch als ich die Tür öffnete erstarrte ich voller Furcht. Nicole stand aufrecht vor mir, doch hatte sie das Aussehen wie jene Nicole aus dem Sarg. Ich fiel zu Boden, als ich ihr zusammengenähtes Gesicht sah. Dann tauchte die alte Frau und Mark auf. "Mörder!", schrie Mark und prügelte mit ungezügelter Wut auf mich ein. Die alte Frau jedoch umarmte Nicole voller Freude, ehe sie sie mit einem Benzinkanister übergoss und sie darauf anzündete.
Ein Arzt erreichte den nächsten Stopp seiner Visite. Als er auf das Patientenformular blickte, verkam sein Blick zu einem besorgtem Ausdruck, da er dem Patienten keine große Überlebungschance ausrechnete. Er wusste, dass die Mutter des Patienten noch zu dieser Stunde treuevoll neben dem Krankenbett weilte und war gekommen um ihr eine schlimme Nachricht zu überbringen. Doch kaum, als er hinter der Ecke hervortrat und die Frau im Stuhl erblickte, verlies er wegen des Schocks darauf sofort das Zimmer.
Ein gedämpftes, blaues Licht erfüllte den Raum.
Aus einer Schattenwand heraus, trat ich dann vor das Krankenbett und erblickte einen unförmigen Körper, der durch eine Beatmungsmaschine noch am Leben gehalten wurde. Er war komplett einbalsamiert. Nur der blau geschwollene Mund, der den Schlauch umschloss war erkennbar. Dann blickte ich zu meiner Mutter, weichte vom Schock aber sofort zurück! Sie trug sonderbare schwarze Beerdigungstracht und ihr Kopf war mit einem Schleier ganz verhüllt.