Joe[]
„Hey, schau dir diesen Freak mal an!“, sagte Hank, wobei er auf den Hausmeister wies, der just in diesem Moment seine Runde drehte.
„Was ist mit ihm?“, fragte Nelson desinteressiert, da er schon ahnte, worauf das hinauslaufen würde.
„Was mit ihm ist? Ist das dein ernst Nel? Ich meine, sieh‘ dir diesen Typen doch nur mal an!“
Nelson tat seinem übereifrigen Kollegen augenrollend den Gefallen, da er ohnehin vorher nicht locker lassen würde.
Statt den nächsten Bissen in sein Sandwich vorzunehmen, drehte er sich halb den Kopf, um den alten Joe zu betrachten, der, egal wo er hinkam, Blicke von allen Seiten auf sich zog. Kein Wunder, sah er doch aus, als wäre er direkt aus Walking Dead oder so in die Realität geschlurft; wie ein wandelnder Leichnam eben.
Keine sonderlich nette Beschreibung, die aber ihre Berechtigung in der Tatsache fand, dass sein vernarbtes, regelrecht entstelltes Gesicht, aussah, als wäre es durch den Fleischwolf gedreht und von Doktor Frankenstein wieder zusammengesetzt worden. Zudem humpelte er stark, was von einer Beinprothese herrührte, die minimale Standards erfüllte und betrachtete seine Umwelt stets mit einem starren, trüben Blick, der den Eindruck erweckte, er nehme diese überhaupt nicht wahr.
Nachdem er ihn kurz gemustert hatte, wandte Nelson sich wieder seinem Kollegen und Mittag zu. „Ich verstehe nicht, was dein Problem ist Hank. Der Mann hat im Krieg gedient, lass ihn doch einfach in Ruhe.“
Sein Kollege lachte laut auf, was dem Anderen unangenehm war, da das Gelächter innerhalb des kleinen Pausenraums bis in den hintersten Winkel reichte und manche der weiteren anwesenden Lehrkräfte schon fragend aufschauten – bis auf Joe, der seelenruhig seine Bahn zog.
„Im Krieg gedient, dass ich nicht lache! Der Alte ist verrückt, ich sag’s dir. Es gehen neuerdings Gerüchte um, dass er sich die Wunden selbst zugefügt haben soll. Dass er sich selbst verstümmelt hat. Kannst du dir das vorstellen?“
Nelson schaute sein Gegenüber seufzend an und schüttelte den Kopf. „Du glaubst auch wirklich jeden Mist, oder? Solltest du nicht, in deiner Vorbildfunktion, vermeintliche Fakten erst hinterfragen und validieren, ehe du sie für bare Münze nimmst?“
Die Antwort wollte er gar nicht hören. Hank war ein netter Typ, Nelson konnte sich bei oberflächlichen Themen gut mit ihm unterhalten und durchaus Spaß mit ihm haben, aber tiefgründige Diskussionen suchte er bei diesem trüben Gewässer vergeblich. Manchmal fragte er sich, wie er es überhaupt zur Lehrerschaft gebracht hatte, aber das war ja das Bittere daran: Sein Kollege war keineswegs auf den Kopf gefallen. Nur das Wissen allein keinen ausgeprägten Charakter formte.
Da er am heutigen Tag kaum Lust verspürte, dem Geschwätz des Anderen etwas entgegenzusetzen, meinte er: „Unsere Pause ist gleich rum, ich geh schon mal meine Sachen holen.“
Das ihre Auszeit noch über zehn Minuten andauerte und Nelson keine fünf brauchte, um sich vorzubereiten und seinen Klassenraum aufzusuchen, wussten beide nur zu genau. Hank verstand den Wink aber und hielt den Mund, was seinem Kollegen nur recht war.
Nachtschicht[]
Nelson schreckte inmitten der Nacht aus seinem tiefen Schlummer hoch. Zuerst hatte er Schwierigkeiten, sich zu orientieren, vermochte weder zu bestimmen, wie spät es war, noch warum er zu dieser Stunde in einem verwaisten Klassenraum, an seinem Pult saß.
Ein Blick auf die verstreuten Blätter vor ihm, verschafften Klarheit.
Er hatte nach Feierabend noch einige Klausuren kontrollieren wollen, ehe er sich auf den Heimweg begab, um sich dann damit nicht mehr auseinandersetzen zu müssen, sondern von der Arbeit distanzieren zu können.
Er erinnerte sich, recht bald die Erschöpfung des Tages und der letzten Wochen an sich nagen gespürt zu haben. Die Sommerferien konnten – so empfanden es seine Schüler ebenfalls – gar nicht früh genug kommen.
Nur kurz die Augen zumachen, hatte er sich beschworen und war gleich darauf schon in einen tiefen Schlaf gefallen.
Da er nunmehr einen ungefähren Plan darüber hatte, was vorgefallen war, lehnte Nelson sich erst mal zurück, streckte sich genüsslich und gähnte herzhaft. Dabei betrachtete er das Chaos auf seinem Tisch, welches die schlafende Version seiner selbst angerichtet hatte. Das würde er erst sortieren und einpacken müssen, ehe er sich nach Hause und in sein kuschliges Bett begab.
Unter dem Stapel Papiere befanden sich auch die Klausuren, von denen er hoch und heilig versprochen hatte, sie bis zum nächsten Tag korrigiert zu haben. Die können bis morgen warten ... Obschon er damit einmal mehr das Risiko einging, von seinen Schülern gelyncht zu werden. Dann wiederum, waren sie es von ihm nicht anders gewohnt – was freilich nicht für ihn und seine Praktiken diesbezüglich sprach ...
Seine sieben Sachen zusammengepackt, erhob er sich, nahm sein Jackett vom Stuhl, warf es sich über und schnappte sich die Ledertasche, deren abgenutzter Gurt sich geschmeidig auf seine Schulter legte. Er widmete einen letzten Blick der Kaffeetasse, die noch auf seinem Tisch stand und schüttelte den Kopf. Morgen. Sie in den Pausenraum zu bringen, wäre ein zu großer Umweg.
Bereit nach Hause zu fahren, entschied seine Blase, ihm zuvor einen Strich durch die Rechnung zu machen.
Da stand er nun, auf dem dunklen Flur des Schulgebäudes, welches nur durch hereinscheinendes Licht von draußen und von den Notausgangsleuchten erhellt wurde und überlegte für den Bruchteil von Sekunden, als wie wahrscheinlich er es einstufte, einen knapp einstündigen Fahrweg ohne vorigen Toilettengang zu überstehen.
„Ach was soll’s, die paar Minuten mehr ...“, brummte er vor sich hin, obwohl sein weiterhin müder Verstand entgegen dem Druck auf seiner Blase danach schrie, den direktesten und schnellsten Weg ins traute Heim anzutreten.
Also machte er kehrt, schlich in die andere Richtung, weg von dem erlösenden Ausgang, welcher zusammen mit seinem fernen Bett nach ihm zu rufen schien. Seine Füße schleiften auf dem Boden, weil er sich zu schlapp fühlte diese ordentlich anzuheben. Es kam ihm vor, als hätte jemand ihm Stahlbarren an die Beine gebunden. Gute Güte, wann war er zuletzt so erledigt gewesen?
Die Augen hatte er nur halb geöffnet, gerade genug das er erkannte, wohin er lief, um nicht gegen die nächstbeste Wand zu rennen – oder vielmehr zu schleichen, von „rennen“ konnte keine Rede sein. Deswegen sah er ihn beim Aufstoßen der Tür zu den Lehrertoiletten nicht sofort und erschrak so heftig, dass seine Müdigkeit schlagartig weggeblasen wurde. Mitten im Raum stand eine hagere Gestalt und wischte sorglos den Boden.
„Herrgott Joe, Sie haben mir vielleicht einen Schrecken eingejagt!“ Der Angesprochene reagierte überhaupt nicht, sondern ging weiter seiner Arbeit nach. Eine wörtliche Erwiderung dürfte Nelson aber ohnehin nicht erwarten, denn der alte Joe war bekanntermaßen stumm.
Wie er da so mitten im Raum stand und wie losgelöst von der Welt, den Untergrund reinigte, war er dem Lehrer, dessen Herz sich langsam wieder beruhigte – weswegen ihm in gleichem Maße die Müdigkeit erneut einholte – ein wenig unheimlich. Eingestehen wollte er sich das zwar nicht, kam aber trotzdem nicht umhin, weitere sinnlose Fragen zu stellen, um über seine eigene Nervosität hinwegzutäuschen.
„Was machen Sie denn noch so spät hier? War das Wischen des Bodens so dringend nötig, dass Sie nicht mehr bis morgen damit hatten warten können?“
Keine Reaktion. Joe schob weiter den Wischer hin und her, reinigte eine Fläche, die längst blitzte und funkelte – strenggenommen hatte der Andere dieser keiner näheren Untersuchung unterzogen, es kam ihm schlicht suspekt vor, dass der Hausmeister um diese Uhrzeit noch aktiv war.
„Na ja, sagt wohl der Richtige was?“, lachte Nelson, wobei ihm sein eigener Laut im Hals stecken blieb und er sich verlegen räusperte. „Ich werd‘ nur nochmal schnell auf die Toilette und dann geht’s ab nach Hause“, führte er unnötigerweise näher aus. Als ob das irgendjemanden und insbesondere Joe interessierte.
Dieser ließ sich nicht stören, wischte unentwegt die gleiche Stelle. Eine irrationale Angst erfasste Nelson und wuchs immer weiter an, je länger er ihm dabei zusah.
Ach mach dich nicht lächerlich!, sagte er zu sich selbst. Das ist doch nur der alte Joe. Der tut keiner Fliege was zu Leide. Er ist nur ein wenig ... verschroben. Eine Aussage bar jeder Beweiskraft, da er in dieser Nacht das längste „Gespräch“ mit dem alten Mann führte, seit er ihn „kannte“.
Dennoch schüttelte er, das ungute Gefühl von sich ab und schritt selbstsicher auf eine der Kabinen zu. Während er so da saß, hörte er von draußen unablässig das Geräusch des Wischmopps. Ein konstantes Hin und Her, Hin und Her ...
Der Klang hatte etwas Hypnotisierendes an sich. Die erschöpfende Müdigkeit des Lehrers legte sich wie eine schwere Decke über ihn. Nur mit äußerster Mühe gelang es ihm, nicht erneut einzuschlafen. Ausgerechnet auf dem Klo sitzend!, schellte er sich selbst, bei dem Gedanken, was Kollegen und Schüler hinter vorgehaltener Hand flüstern würden, fänden sie es heraus.
Schließlich stand er auf, zog die Hose hoch, betätigte die Spülung und hörte durch den dadurch ausgelösten Lärm der Toilette nicht, wie das Konstante plötzlich erstarb.
In dem Moment, in dem Nelson die Kabinentür öffnete und er hinauszutreten im Begriff war, wurde ihm ein altes Tuch auf Mund und Nase gedrückt. Zuletzt sah er nur die ausdruckslose Kluft, die das Gesicht von Joe darstellte und dachte, bevor alles in endloser Schwärze versank nur dies: Chloroform.
Das Tonband - Teil 1[]
Nelson erwachte keuchend in absoluter Finsternis. Sein Kopf wummerte, ihm schwindelte, sein Magen drehte sich um.
Ehe er zu fragen vermochte, wo er sich befand und wie er hierhergekommen war, vor allem aber, warum zum Teufel er auf einem Stuhl saß, an dem seine Gliedmaßen derart festgebunden worden waren, dass Hand- und Fußgelenke bereits zu schmerzen begannen – Füße an den Stuhlbeinen, Hände hinter dem Rücken –, ging das Licht an und strahlte ihm grell ins Gesicht. Der Schein drang direkt durch seine Augäpfel hinein in seinen Schädel, wo er bestrebt schien sein Hirn nicht nur mit feinen Nadeln zu durchbohren, sondern es gleich dazu durchzuschmoren.
Instinktiv kniff er fest die Lider zusammen, das minderte sein Elend ein wenig. Dennoch hämmerte weiterhin ein Pochen auf sein Schädelinneres ein. Zudem verselbstständigte sein Körper sich, zog und zerrte an den Fesseln, die ihn banden, was gleißende Blitze durch fixiert Gelenke, aber auch durch seine Schultern jagte, da diese scheinbar schon seit geraumer Zeit in eine unbequeme Position gezwungen wurden.
Nach ein paar Sekunden öffnete er die Lider blinzelnd. Eine Handlung die weder seinem Wohlsein, noch seiner aufkeimenden Panik zuträglich war. Denn jetzt schaute er direkt in das vernarbte Antlitz, welches er zuletzt gesehen, ehe Schwärze es erst umrahmt und dann verschluckt hatte.
Der alte Hausmeister musterte ihn mit kalten, leeren Augen. Oder vielmehr mit einem kalten, leeren Auge. Nun, da Nelson ihm so nah war, wie nie zuvor, bemerkte er, dass das linke Sehorgan, keines war, sondern aus Glas bestand.
„Joe ... was zum ...“, krächzte der Lehrer. Wie lange saß er hier schon fest? Sein Hals war völlig ausgetrocknet. „Was ist hier los? Was soll das?“, setzte er von Neuem an, nachdem er sich ein paar Mal geräuspert hatte, was seine Sprachfähigkeit nur bedingt besserte.
Doch Joe antwortete nicht, nicht mal durch Gestik oder sich verändernde Mimik. Stattdessen entfernte er sich kommentarlos aus Nelsons Sichtfeld, worauf das Geräusch von kleinen, quietschenden und ratternden Rädern erklang, die auf dem Boden entlangfuhren. Bereits kurze Zeit später kehrte der Hausmeister mit einem fahrbaren Tischchen wieder. Auf diesem lag ein einziger Gegenstand: Ein altes, schwarzes Tonbandgerät, dessen wenige, einst weiße Tasten, über die Jahre vergilbt waren.
Nelson verspürte den irrsinnigen Drang zu lachen. Er erwachte in einem alten, versifften Keller – nach kurzer Inspektion kam er zu der Überzeugung, dass es sich um den Heizungskeller der Schule handeln sein musste –, war an einem Stuhl gefesselt und vorher von dem alten Joe, dem gottverdammten Hausmeister, betäubt worden. Und jetzt schob Selbiger ihm ein Tonband vor die Nase, das mindestens genauso alt wie er selbst zu sein schien. Wie viel verrückter, konnte das Alles noch werden?
Entrückt oder nicht, er bereute es fast, die Frage nur gedacht zu haben ... Denn obschon ihm die ganze Situation realitätsfremd und wie ein Albtraum erschien, aus dem er zu erwachen erhoffte, ließ sich das Entsetzen, welches sein Herz fest im Griff hielt, doch nicht von der Hand weisen.
Der Vernarbte ließ sich von der Gedankenwelt seines Gefangenen wenig beeindrucken, sondern betätigte einen Knopf, wodurch das Tonbandgerät zum Leben erwachte und das eingelegte Band abspielte.
„Hallo, wer-auch-immer-Sie-sein-mögen“, krächzte eine alte, brummende Stimme aus dem Gerät – die von Joe, schoss es Nelson durch den Kopf. „Wenn Sie dies hier hören, wurden Sie auserwählt. Auserwählt von mir, dem alten, verrückten Joe. Wenn Sie mich nicht vorher schon für mindestens geistig verwirrt gehalten haben – was ich für wahrscheinlich halte – tun Sie es spätestens jetzt. Ich habe Sie entführt und an geeigneten Ort gebracht. Sie werden sich fragen, warum ich das getan habe.
Die Beantwortung dieser Frage, obliegt zum Teil Ihnen selbst. Ich lege nur den Grundstein, für ein Wissen – nein, ein Bewusstsein – dass Ihr Leben für immer verändern, oder beenden wird.
Ganz recht. Es liegt im Rahmen des Möglichen, dass Sie hier und heute sterben. So spielt das Leben gelegentlich. Sie werden sich fragen, warum es ausgerechnet Sie erwischt hat. Machen Sie sich darum keine Gedanken. Fokussieren Sie Ihren Geist lieber auf das, was wirklich zählt. Worum es sich dabei handelt, werden sie hoffentlich im Laufe dieses Tages erfahren.
Ich habe meinem Leben einem Ziel gewidmet. Dies Ziel lautet, den Menschen dieser Welt nahezubringen, was wirklich wichtig ist. Um diese Lektion selbst zu lernen, habe ich mich Dingen ausgesetzt, die Sie sich vermutlich nicht einmal vorstellen möchten. Sie werden vielleicht gehört haben, dass mein Zustand aus einem lange vergangenen Krieg herrührt. Das ist gelogen. Ich habe mir all das – und mehr – selbst beigefügt. Um zu lernen. Um zu erfahren. Um bereit zu sein.
Ich habe meinem Selbst Aspekte genommen, physischer und psychischer Natur, die nicht von Belang sind, die nicht wichtig sind, die ich nicht brauche und die eventuell auch Sie bald nicht mehr benötigen werden.
Aber das kommt ganz auf Sie an. Jeder Mensch hält unterschiedliche Grundlagen im Leben für gut und richtig – für wichtig! Der Großteil der Menschheit ist dieser Tage jedoch so verweichlicht, dass sie fast alles für essenziell erachtet. Eine Schande, wenn Sie mich fragen.
Sie hören all dies von mir auf Tonband, weil ich mir nach dieser Aufnahme, die Zunge entfernen werde. Verbale Kommunikation ist für mich nicht länger von Bedeutung. Sie war notwendig um diese Aufzeichnung vorzubereiten, aber nicht wichtig. Das ist ein Unterschied, merken Sie sich das.
Und nun, werden sie erfahren, was mir wichtig ist.“
Das Tonbandgerät verstummte abrupt.
Er hat Recht, lautete der erste Gedanke, den Nelson fasste. Hank lag richtig mit seiner Annahme. Dieser Mann war ein Freak. Nein, er war mehr als das, er war völlig durchgeknallt. Verrückt. Nelson wusste mit eiskalter Gewissheit, dass er den heutigen Tag nicht überleben würde. Seltsamerweise – womöglich aufgrund des Schocks – rührte dies kaum eine Regung in ihm an.
Zumindest jetzt noch nicht. Sobald der Schock sich legte, sobald die grausame Klarheit in seinen Verstand sickerte, dass dies hier nicht nur ein schrecklicher Traum war, aus dem er bald erwachte, sondern die bittere Wirklichkeit, würde diese ihn mit Haut und Haaren verschlingen, durchkauen und die Überreste ausspucken.
Werden sie meinen verstümmelten Leichnam hier unten oder oben in den Mülltonnen finden, womöglich auf mehrere aufgeteilt? Ihm drehte sich erneut der Magen um, sein Kopf erinnerte sich an das Pulsieren, welches ihn malträtierte und ein feuchter Fleck breitete sich in seinem Schritt aus. Ein Umstand, den er zu diesem Zeitpunkt längst nicht mehr wahrnahm.
Indes Nelson seinen irrwitzigen Gedanken nachging, wobei er stur in die Leere starrte, war Joe ein weiteres Mal hinter ihm verschwunden. Als er wieder hervorkam, hatte er ein Skalpell in der Hand. Das Licht reflektierte sich in der blanken, hauchdünnen Klinge, welche dem Opfer präsentiert wurde.
Dieses hörte damit auf, das Nichts zu fokussieren, und schaute nunmehr seinem Ende entgegen. Nüchtern, fast tonlos, fragte es: „Nun werde ich erfahren, was dir wichtig ist, nicht wahr Joe? Na bin ich ja gespannt ...“
Im Grunde seines Wesens wusste er es unlängst, doch da sich bebende Angst, die kalte Schweißströme auslöste und gleichgültige Rationalität sich in diesem Augenblick die Hände reichten, sah sein Unterbewusstsein sich nicht in der Lage die Interpretation des Gehörten an die Oberfläche zu spülen.
Für den Moment war es einerlei. In seinen letzten Sekunden, vor dem eigentlichen Akt, zwang sein Körper ihn sich erneut gegen die Fesseln zu stemmen, an dem Stuhl zu rütteln und zu zerren, sich die Seele aus dem Leib zu schreien ...
Es nutzte alles nichts. Die Seile waren zu eng gestrickt, die Mauern schluckten jeden Laut. Auch dann noch, als es längst nicht mehr nackte Todesangst war, die ihn kreischen ließ, sondern gleißende, nicht enden wollende Qualen, die in Wellen wieder und wieder über ihm zusammenbrachen, die Grundfesten seines Wesens zertrümmerten und aushöhlten.
Anfangs wünschte er sich, dass es aufhören soll, später, dass er sterben möge und schließlich, gar nichts mehr, weil sein Verstand sich zu keinerlei Gedanken länger fähig sah.
Verlust[]
Ein dumpfes Pulsieren in den Augenhöhlen war das Erste, was Nelson wahrnahm, als er erwachte. Er öffnete die Lider oder versuchte es zumindest. Da um ihn herum vollständige Finsternis herrschte, konnte er nicht mit Bestimmtheit sagen, ob sie nun offen waren oder nicht, allen voran, weil sein ganzer Kopf sich seltsam taub anfühlte.
Die Wahrscheinlichkeit bestand also, dass Joe erneut das Licht ausgeschaltet hatte. Gut, das bedeutete wohl, dass er vorerst nicht zurückkehren würde, und gab dem Lehrer damit Gelegenheit, seine Gedanken zu sortieren ... was sich als nahezu unmöglich herausstellte.
Der Versuch, sich an die letzten Ereignisse zu erinnern, scheiterte kläglich. Da war ein Tonband gewesen und ein Messer ... ein Skalpell? So viel hatte er behalten. Danach ... nichts mehr.
Der weitere Verlauf lag hinter einem grauen Schleier verborgen. Die Taubheit, die sein Hirn in Watte packte, benebelte ihn. Und dann dieses stete Pulsieren in den Augenhöhlen, kein direkter Schmerz, aber dennoch unangenehm.
Nelson versuchte, in die Dunkelheit zu blinzeln, hoffte, dass seine Augen sich an sie gewöhnten, damit er wenigstens ein paar Schemen erkannte, vorbereitet war, sollte sich etwas oder jemand aus den Schatten, herausschälen. Nichts, völlige Finsternis. Allerdings war er sich nicht sicher, ob er überhaupt geblinzelt hatte ...
Das Gefühl der Betäubung zentrierte sich auf seine Augen und schien von dort auf seinen restlichen Kopf zu strahle, während er unterschwellig die ganze Zeit dieses Pulsieren wahrnahm.
Langsam wurde es enervierend, begann ihn in den Wahnsinn zu treiben, und es gab nichts, was er dagegen unternehmen konnte!
Er hob die Hände und ... Moment. Er hob die Hände?
Tatsächlich, sie waren nicht länger gefesselt! Augenblicklich versuchte, er seine Beine zu bewegen, und so unglaublich es schien, diese waren ebenfalls frei. Keine Seile banden ihn mehr an den Stuhl, er war fähig, jederzeit aufzustehen und ...
Das ist eine Falle, schoss es ihm blitzartig durch den Sinn. Sobald er zu flüchten versuchte ... Über die potenziellen Möglichkeiten wollte er gar nicht erst nachdenken. Gott allein wusste, was dieser Wahnsinnige ihm antun würde.
Und wenn schon, kam der Widerspruch. Unter Umständen wäre dies seine erste und letzte Gelegenheit auf eine erfolgreiche Flucht. Wenn er sie nicht ergriff, käme er hier womöglich niemals lebend raus. Entweder er starb bei dem Versuch, oder weil er zu feige war, das Rettungsseil zu ergreifen, welches über einem klaffenden Abgrund hing.
Was hatte er zu verlieren, außer ...
Nelson erstarrte. Wie ein brennend heißer Stachel bohrte sich durch seinen Verstand, brannte eine Erkenntnis hinein, die ihn nie mehr loslassen würde. Er erinnerte sich mit perfider Klarheit an das, was vor wenigen Stunden erst mit ihm geschehen war. Nein ... lass das nicht wahr sein ...
Erneut hob er die Hände zu der Stelle, zu der er sie zuvor hatte heben wollen. Dieses Mal führte er die Bewegung zu Ende. Die kurze Berührung seiner Augenlider ließ ihn aufschreien.
Es waren keine Schmerzen, die diesen Schrei hervorbrachten, denn von diesen blieb für den Augenblick weiterhin nur das dumpfe Pochen, welches unter der Betäubung hervorbrach. Nein, es war der Schock, der ihn kreischen, toben und schließlich wimmern ließ.
Seine Finger ertasteten Lider, die wie nutzlos Lappen über leeren Augenhöhlen lagen. Der verrückte Joe, der verfluchte Hausmeister, verdingte sich offenbar als Teilzeit-Chirurg und hatte ihm die Augen herausgeschnitten.
Die Dunkelheit wurde es ihm endlich klar, sie rührte nicht daher, dass das Licht ausgeschaltet worden war, nicht im ursprünglichen Sinn zumindest. Nelson würde es nie wieder sehen, würde nie wieder überhaupt irgendetwas sehen.
Der Gedanke löste einen erneuten Schreianfall aus, gefolgt von erbarmungswürdigem Geheule. Er fragte sich, ob er noch zu weinen fähig wäre, während sein Hirn sich ein Leben in endloser Finsternis ausmalte. Ein klaffendes Schwarz, dass Tag für Tag jede Erinnerung an Helligkeit und Farbe verschlang, bis sie vollkommen und er dem Wahnsinn nah wäre.
„Beruhig dich!“, zischte es aus den Schatten.
Erst nahm der Lehrer es überhaupt nicht wahr, doch die Worte wurden so oft wiederholt, dass sie bald von seinem Gehör in sein Bewusstsein sickerten. Die Stimme sprach nicht laut, aber bestimmend. Bestimmend und bekannt. Nelson verstummte.
„Hank?“, fragte er nach einer Weile unsicher, als sie nicht erneut erklang.
„Allerdings“, antwortete sein Kollege monoton. Jetzt, da er auf sie achtete, konnte er seine Stimme direkt vor sich ausmachen.
„W-was machst du hier?“ Er sehnte sich danach Erleichterung darüber zu empfinden, nicht allein in diesem Höllenloch zu sitzen, doch sein unbarmherziger Verstand stellte lieber eine berechnende Frage, die ihn vielmehr wieder in Terror versetzte: Was, wenn Hank mit dem Verrückten gemeinsame Sache machte?
„Na was glaubst du wohl?“, erwiderte der Andere sarkastisch. „Ich halte ein kleines Kaffeekränzchen mit unserem alten Kumpel, Joe.“
Das klang ganz nach Hank, aber wie sollte er sich da sicher sein? Vielleicht spielte er nur ein perfides Spiel mit ihm, schürte Hoffnung, wo längst keine mehr war. „Wurdest du auch entführt?“, fragte er vorsichtig.
„Ja.“
Okay, Karten auf den Tisch, dachte er, denn, was hatte er schon noch zu verlieren?
„Woher soll ich wissen, dass ich dir glauben kann?“ Stille. Sein Kollege antwortete nicht. „Hank?“
„Ich sitze direkt vor dir“, kam die nüchterne Antwort, die rein gar nichts erklärte.
„Ja, ich weiß, aber...“
„Taste nach meinen Beinen“, befahl Hank, bevor Nelson seinen Satz beendete.
Diesen überkam auf einmal ein ungutes Gefühl. Unweigerlich fragte er sich, ob er den Beweis für Hanks Unschuld unbedingt brachte. Aber gleich, wie er sich dagegen sträubte, sowohl die Angst, einem Verräter gegenüberzusitzen wie eine perverse Neugier, zwangen ihn dazu, dem nachzugehen.
Vorsichtig lehnte er sich nach vorn und tastete nach den Beinen seines Kollegen. Er fand sie sofort, berührte zaghaft die Oberschenkel des Anderen, der direkt vor ihm saß. Eine Tatsache, die ihn stutzig werden ließ. Wenn sie sich so nah waren, hätte Nelson dann nicht mit seinen Füßen gegen die seines Gegenübers stoßen müssen, als er sie ausgestreckt hatte, um seine Beinfreiheit zu prüfen?
„Tu es“, sagte Hank, nachdem er gemerkt hatte, dass Nelson langsam begriff.
Mit zitternden Fingern fuhr er die Oberschenkel herab. Bald schon ertastete er etwas, dass sich nach einem Verband anfühlte, er war feucht – vom Blut! – und dann, nichts mehr. Die Extremitäten endeten kurz über der Stelle, an der die Kniegelenke hätten liegen sollen.
„Oh Gott ...“, murmelte Nelson, dem wieder übel wurde. Aber so sehr sein Magen auch rebellierte, er behielt den Inhalt bei sich.
„Richtig“, bestätigte der Andere kühl. „Der Pisser hat mir die Beine amputiert und mich danach mit Morphium oder so vollgepumpt. Glaubst du mir jetzt, dass ich nichts mit ihm zu schaffen habe?“
Nelson glaubte ihm.
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„Oh mein Gott ...“, rezitierte Nelson immer wieder, nachdem er seine – vom Blut leicht klebrigen – Finger von Hanks Beinen genommen hatte. Sein Hirn brachte keinen klaren Gedanken mehr zustande, flüchtete sich in ein Mantra, bwohl es nur zu genau wusste, dass es kein Entkommen gab.
„Gott, hat damit nichts zu tun“, erwiderte der Andere anhaltend nüchtern. Das Betäubungsmittel schien nicht nur seine Nervenbahnen lahmzulegen.
Obgleich sein Verstand noch immer wie eine kaputte Schallplatte die gleiche Melodie abspielte, brachte sein Mund abweichende Worte hervor: „Was ist hier los Hank? Was soll das alles? Wer ist dieser Psychopath und warum tut er das?!“
Mit jeder Silbe schrie und kreischte nahezu er ein wenig lauter. Der Lehrer stand im Begriff aufzuspringen, war bereit, einen die Tatsache zu ignorieren, dass er nichts sehen im Stande war und vermutlich nur stumpfsinnig gegen die nächstbeste Wand rennen würde.
„Hinsetzen!“, brüllte der andere plötzlich, als Nelson Anstalten machte tatsächlich aufzustehen. Dieser ließ sich so abrupt zurückfallen, dass der Stuhl fast umkippte. „Hör‘ mir jetzt gut zu Nel, hörst du mir zu?“
„Ja, ich höre dir zu Hank.“ Sein Kollege sprach in ruhigem Ton auf ihn ein, fast schon sanft. Nelson ließ sich für einen Moment von seiner Stimme einlullen. Er betete innerlich, dass sie ihm mitzuteilen plante, dass alles gut werden würde und dass sie hier gemeinsam wieder herauskämen. Wunschdenken, wie sein Unterbewusstsein sich unlängst abfand.
„Ich habe strikte Anweisungen bekommen, was von jetzt an geschehen soll. Befolge ich diese nicht, sterbe ich. Hast du mich verstanden Nelson?“
Dem Angesprochenen floss die Botschaft wie Eiswasser durch die Gehörgänge. Die Kälte, mit der sie verkündet wurde, die wieder nichts Ruhiges oder Sanftes an sich hatte, stand im krassen Kontrast zum Inhalt.
Der Andere verarbeitete noch, als Hank weitersprach. „Ich nehme dein Schweigen mal als ‚ja‘. Also, zum Ersten: Du darfst unter gar keinen Umständen aufstehen! Wenn du das tust, bin ich tot.“
„Woher weißt du das?“, fragte Nelson atemlos.
„Er hat es mir gesagt.“
„Aber wie? Ich dachte ...“
Hank ließ ihn nicht ausreden. Er schien darauf bedacht, seine Informationen schnellstmöglich zu teilen. „Er mag keine Zunge zum Reden mehr haben, aber seine Hände sind durchaus noch zum Schreiben in der Lage.“
Ja, das ergab Sinn, darauf hätte er selbst kommen können. Wenn nur das Wummern hinter seinen Augen ... Seine Hände verkrampften als ihm klar wurde, dass er für einen Moment vergessen hatte, was ihm widerfahren war. „Ok, ok ...“, keuchte er, dem nächsten Nervenzusammenbruch nah. „Nicht aufstehen, verstanden.“
„Gut.“ Sein Gegenüber blieb weiterhin absolut nüchtern und besonnen. „Dann unterhalten wir uns jetzt ein wenig.“
„Wie bitte?“ Die Situation wurde immer absurder. Nelson zitterte. Wann hörte dieser Albtraum endlich auf?
„Keine dummen Fragen Nel, tu einfach, was ich dir sage. Ich habe zwar keine Beine mehr, aber das heißt noch lange nicht, dass ich unbedingt sterben will. Also: Wir unterhalten uns jetzt ein wenig.“
„Ok, klar, unterhalten wir uns.“ Ein hysterisches Lachen schlich sich seine Kehle empor. Mit Mühe schluckte er es herunter. Das Pochen in seinen leeren Augenhöhlen nahm zu, er bekam Kopfschmerzen.
Wie lange hielt die Betäubung noch an? Wann setzten die Schmerzen wieder ein, so dass er sich auf dem Boden windend zusammenbrach? Wie viel Zeit blieb dann, bis Joe zurückkam, um Hanks Leben ein jähes Ende zu bereiten? Wieso überhaupt zurückkommen? Womöglich befand er sich ja in diesem Augenblick, mit ihnen im Raum, beobachtete sie ... Woher sollte Nelson das wissen? Er konnte ihn ja nicht sehen und Hank ihm das unter Umständen nicht sagen, weil es eine der Bedingungen für sein Weiterleben war. Allein die Vorstellung, dass dieser Wahnsinnige vielleicht keine zwei Meter von ihm entfernt stand ...
Ich will hier raus!, schrie er in Gedanken, aber sein Wunsch wurde nicht erhört.
„Erde an Nel, bitte kommen! Wir haben keine Zeit für so einen Blödsinn man!“
Der Angesprochene erwachte aus seinen Gedanken. Er konzentrierte sich wieder auf Hank. Versuchte es zumindest. Dieses verdammte Pochen!
„Also, du hast auch das Tonband gehört.“ Keine Erkundigung, sondern eine Feststellung. „Die alles entscheidende Frage, die über Leben und Tod entscheidet, lautet: Was ist es, was Joe so wichtig ist?“
Hierbei wurde eine Antwort erwartet. „Woher sollen wir das wissen?“, fragte Nelson hektisch. Es juckte ihn nicht, was diesem Spinner wichtig war, er wollte nur hier raus!
„Konzentrier dich Nel!“, mahnte sein Kollege. „Du weißt, was er sich selbst angetan hat, oder?“
„Ja, natürlich Hank. Ja ich weiß, dass er sich selbst verstümmelt hat, mein Gott!“
„Gut, gut, das ist gut.“
Was ist daran verdammt nochmal gut?!, schoss es dem Anderen durch den Kopf, aber er sprach es nicht aus. Hank war vermutlich doch fertiger, als Nelson bisher angenommen hat. Kein Wunder bei dem, was er durchmachen musste. Er selbst hatte sich, während der kleinen Operation die Joe an ihm vorgenommen hat, nur gewünscht zu sterben. Was sein zweites Opfer empfunden hat, indes ihm die Beine amputiert wurden ... Allein darüber nachzudenken ...
„Warum glaubst du“, holte besagtes Opfer ihn erneut auf die Erde zurück, „könnte er das getan haben?“
„Ich habe keine Ahnung Hank“, wimmerte er. „Was soll der Scheiß?“ Die Kopfschmerzen wurden immer heftiger. Es fühlte sich an, als züchtete jemand eine verfluchte Melone in seinem Schädel.
„Der ‚Scheiß‘, bestimmt darüber ob ich lebe oder sterbe Nel, also reiß dich bitte zusammen!“
Obgleich monoton formuliert, kam es Nelson so vor, als hätte sein Kollege ihn verbal geschlagen. „Ist ja gut, ich versuche es doch.“ Er atmete einmal tief durch. Es half. Nur ein wenig, aber immerhin. „Ok“, erklärte er schließlich. „Nochmal von vorn. Warum hat der Kerl sich selbst verstümmelt? Ist es vielleicht eine Form von sexueller Auslebung?“
„Wäre ihm, dass das Wichtigste auf der Welt?“, kam die prompte Gegenfrage.
„Nein ... vermutlich nicht. Andererseits, er ist verrückt.“
„Das mag sein, zählt aber nicht. Denk nach.“
Nelson war im Begriff zu fragen, warum nur er darüber nachdenken sollte, doch die Antwort lag auf der Hand: Es handelte sich um ein Spiel. Hank kannte des Rätsels Lösung längst, aber er durfte sie nicht ausplaudern, denn sonst ... Somit hing sein Leben am seidenen Faden oder vielmehr, an der geringen Leistung, zu der der Verstand seines Kollegen unter den gegebenen Umständen noch fähig war.
„Ein Hinweis“, sagte Hank, womit er Nelsons Gedanken zurück auf das Wesentliche lenkte. „Joe ist Hausmeister, ihm fehlt ein Bein, ein Auge, die Zunge, sein Gesicht ist völlig entstellt ... würde mich nicht überraschen, wenn er sich selbst kastriert hätte. Aber was ist unbeschadet?“
„Seine Hände“, erwiderte er intuitiv.
„Korrekt, aber warum?“
Nelson überlegte. „Er braucht sie, zur Ausübung seines Jobs.“
„Ding, ding, ding“, gab der Andere von sich, als wäre das hier eine Gameshow. „Wieder korrekt. Wofür braucht er den Job?“
„Um Geld zu verdienen“, bevor Hank die nächste Frage stellte, beantwortete Nelson sie schon selbst. „Und das Geld braucht er, um zu leben!“
„Sehr gut und jetzt zur Hauptpreisfrage: Was ist Joe am wichtigsten in seinem Leben, dass er dafür bereit ist, alles andere zu opfern?“
Es fiel ihm wie Schuppen von den Augen – wenn er doch nur noch welche hätte ... Voller Euphorie, wie ein kleines Kind, das eine schwierige Aufgabe gelöst hatte, posaunte der Lehrer, der hier selbst zum Schüler wurde, die Lösung regelrecht raus: „Überleben! Joe ist bereit, alles zu opfern, um zu überleben! Und das ist die Lektion, die er den Menschen erteilen will. Sie wollen so vieles, halten jedes noch so kleine Körnchen Nichtigkeit in ihrem Leben für absolut notwendig und vergessen dabei, das Essenziele. Den Aspekt, der das Leben überhaupt erst bedingt und ermöglicht: das Überleben. Sie sind blind für das, was am Ende einzig und allein zählt, ohne das alles andere hinfällig ist.“
Für einen Moment herrschte Stille, so dass Nelson schon fürchtete, etwas Falsches gesagt zu haben und das Joe sein Gegenüber in seinem Redefluss längst getötet hatte.
Dann erlöste Hank ihn. „Sehr gut Nel, du hast dir deinen Preis redlich verdient“, sagte er, wobei seine Stimme in einer Kälte gipfelte, die der Andere bis dahin nicht für möglich gehalten hatte, da er glaubte, diese längst erreicht zu haben.
„Was meinst du damit?“ Der Verlust seines Augenlichts schien Nelsons verbleibenden Sinne zu schärfen, denn er hörte förmlich, wie sein Gegenüber den Arm hob, meinte regelrecht zu spüren, wie die Luft vibrierte, da dieser leicht zitterte.
„Es tut mir leid Kollege“, erklärte Hank, nur dass er nicht so klang, als könne er überhaupt noch etwas empfinden, geschweige denn ihm etwas leidtun. „Hier geht es um mein Überleben und das hast du mir soeben ermöglicht. Ich richte in diesem Moment eine Waffe auf dich und werde diese gleich abfeuern. Hätte ich das getan, bevor du die Lösung erraten hättest, wäre ich getötet worden. Hätte ich versucht, dich zu erschießen oder hätte dich gar erschossen, während du auf mich losgehst, weil du etwas geahnt und versucht hättest, mich vorher auszuschalten, wäre ich getötet worden. Hättest du die Lösung nicht innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens gefunden, wäre ich getötet worden. Wenn ich dir dies alles jetzt nicht noch gesagt hätte, bevor ich die Waffe betätige ...“
„... wärst du getötet worden“, beendete Nelson den Satz. Er meinte Hank nicken zu hören, wie seine Halswirbel sich ein wenig spannten, um die Bewegung auszuführen. „Dann tu, was du tun musst, oder gibt es noch mehr zu beachten?“ Seltsamerweise beunruhigte ihn die Aussicht, auf seinen kommenden Tod nicht. Er fühlte sich nur ... leer.
„Ja, eine Sache gibt es noch. Nimm bitte die Hände nach hinten und greif, was auch immer dort auf dem Tisch hinter dir liegt.“
Nelson sah zwar keinen Sinn darin, aber das war einerlei. Selbst wenn Hank ihn nicht erschoss, würde Joe ihn vermutlich umbringen. Wozu sich noch auflehnen? Er hatte das Rätsel gelöst und würde trotzdem sterben. Er kam hier nicht lebend raus. Opferte nur sein Leben, um das Überleben eines anderen zu sichern.
Er drehte die Arme hinter sich, tastete nach dem ominösen Gegenstand. Als seine Finger ihn berührten, begriff er langsam und eine tiefe Entspannung legte sich über ihn. Er vermochte nicht mit Bestimmtheit zu sagen, woran es lag, aber intuitiv wusste er, dass dies doch nicht das Ende war.
„Hast du den Gegenstand?“, fragte sein Gegenüber. Allmählich wurde er nervös.
„Ja“, er klang nun genauso nüchtern wie sein Kollege zuvor.
„Gut. Nelson? Es tut mir leid.“ Hank drückte ab.
Klick.
Nicht mehr. Nur ein leises, Klick.
Kein donnernder Schuss, der den Raum erfüllte. Kein Blut und keine Gehirnmasse, die Boden und Wände besudelten. Kein Leben, das ausgehaucht wurde. Nur Klick.
„Was hat das zu ...? Nein!“ Jetzt dämmerte es auch Hank. „Das verräterische Klicken“, zitierte er die Aufnahme, die von ihm selbst stammte. „Das hat es also zu bedeuten ...“
„Korrekt Hank“, sagte Nelson, wobei er sich erhob. Gleichzeitig nahm er die Hände nach vorne, wodurch der Andere das Skalpell, welches bis eben auf dem Tisch gelegen hatte, zu Gesicht bekam. Dieselbe Klinge, die Nelson für immer seinen Sehsinn genommen hatte.
„Gehorsamkeit garantiert kein Überleben“, führte Nelson weiter aus. „Du bist nicht derjenige der heute überlebt Hank. Du hast rein gar nichts gelernt. Nicht ich, sondern du bist hier der Blinde.“
Unter dem Schreien und Flehen seines Kollegen beugte er sich über diesen und stach zu.
Das Tonband - Teil 2[]
Während Nelson in Todesqualen schrie. Während Joe ihn auf das Kommende vorbereitete. Während der Lehrer seine Behandlung längst hinter sich hatte und unter Schmerzen gekrümmt auf dem Boden liegend, auf seine Betäubung wartete. Während all dieser Zeit war eine weitere Aufnahme auf dem Tonbandgerät abgespielt worden. Wieder und wieder und wieder. So lange, bis sie sich in Nelsons Verstand eingebrannt hatte. Und doch hatte er sie vergessen, bis zu jenem verräterischen Klicken ...
„Ich habe dich gefragt, was zum Teufel hier los ist Joe!
Was soll das Alles, warum hast du mich gefesselt und warum hast du Nelson hier runtergeschleppt? Antworte mir verdammt noch mal!“
Die Stimme verstummt für einen Moment, als ein lauter Schlag zu hören ist, gefolgt von dem Scheppern, eines zu Boden gehenden Stuhls.
„Ahhhh! Verdammt, das wirst du mir büßen, du beschissener Freak! Nein, warte! Ist ja gut ... ich habe verstanden. Brauchst ja nicht gleich gewalttätig zu werden ...“
Geräusche von einem Stuhl der wieder aufgerichtet wird, begleitet von einem leisten Flüstern.
„Mein Gott, wie stark sind Sie eigentlich Joe, dass sie den Stuhl mitsamt mir darauf so mühelos anheben?“
Laute eines heranrollenden, fahrbaren Tischchen.
„Was ist das? Ein Zettel, ok. Was soll ich damit? Was? ... Ich soll ihn lesen? Ok ... Au! Was denn?! Ich lese doch! Ach, ich soll ihn vorlesen, dann sag das doch verdammter ... nein warte! Ich lese ihn ja schon vor, Herrgottnochmal. Also: ‚Auch, wenn deine Augen blind sein mögen, deine Ohren sind es nicht. Wenn das verräterische Klicken erklingt, nimm den Gegenstand, den ich dir gab und verrichte dein Werk, für das Einzige, was im Leben zählt.‘ Oh man ... Joe, du bist echt noch verrückter, als ich gedacht habe. Hey warte Mal! Was hast du mit dieser Säge vor?!“
Hier endet die Aufnahme abrupt.