Deutsches Creepypasta Wiki
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Brainfood - Der erste Gang

Mit einem leisen Knirschen zertrat die dunkelhaarige Frau die aufgerauchte Zigarette unter ihrer Stiefelsohle. Ihr Blick ruhte dabei auf der schäbigen Hintertür eines dubiosen Gasthauses, das in speziellen Kreisen für seine teils äußerst unorthodoxe Speisekarte bekannt war. Natürlich nur, solange der Preis stimmte. Die nächste Zigarette bereits im Anschlag, hob sie den Kopf, als ein hässliches Knarzen die Stille der Nacht zerschnitt. Ein staubiger Lichtstrahl durchschnitt die Düsterheit der Gasse und eine hagere Gestalt schlüpfte aus der Türe. Die leicht schwankende Person fest im Blick, entzündete die Frau in aller Ruhe ihre Zigarette. „Konstantin?“, fragte sie, als der Bursche an ihr vorbeiwankte, ohne sie dabei auch nur im Entferntesten wahrzunehmen. „Konstantin Petrovic?“ Der junge Mann wirbelte mit einem leisen Keuchen herum. Mit der leicht gebückten Haltung und den zuckenden Mundwinkeln, glich er dabei mehr einem verschreckten Kaninchen als einem Menschen. Die geröteten Augen in seinem eingefallenen Gesicht waren glasig wie vom Fieber, doch sah ein halbwegs erfahrenes Auge schon auf den ersten Blick, dass es die Art von Fieber war, gegen die kein Antibiotikum der Welt etwas ausrichten konnte. Mit dem fettigen Haar, der wächsernen Haut sowie der zerknitternden, bereits unangenehm riechenden Kleidung, bot er den gebrochenen Anblick eines Menschen, dem das Leben hoffnungslos entglitten war. Fast schon bemerkenswert, gedachte man dem kurzen Zeitraum, in dem dieser Verfall von statten gegangen war. Ebenso bemerkenswert war die ehrliche Empathie in den Augen der Frau, die den jungen Mann weitaus mehr verstörte, als die Tatsache, am Ende der Welt gerade von einer wildfremden Person mit Namen angesprochen worden zu sein. „Das dort-“, sie nickte in Richtung der schäbigen Hintertüre, „-ist kein Ort, an dem man sich freiwillig aufhalten sollte. Egal wie groß der Hunger auch sein mag.“ Konstantin fühlte einen Schauder das Kreuz hinablaufen. Die Art, wie sie das Wort Hunger aussprach, war zu eindeutig um ein Zufall zu sein.

„Wa-…“, presste er stimmlos hervor, die Zunge noch halb taub von dem, was er vor wenigen Minuten in manischer Verzweiflung herabgewürgt hatte. „Wer…wer sind Sie?“

Die fremde Frau schüttelte den Kopf. „Komm mit.“, erwiderte sie lediglich. „Das hier ist weder ein guter Ort zum Essen, noch zum Reden.“

Eine halbe Stunde später fand Konstantin sich an einem kleinen Tisch im hintersten Winkel eines billigen 24-Stunden Imbiss wieder. Vor ihm stand eine abgewetzte Plastikschale voll dampfender Nudelsuppe, in der er lustlos mit dem Löffel rührte. Die immer noch namenlose Dame beobachtete ihn stillschweigend. „Kein Appetit, nicht wahr?“, sagte sie nach einer Weile. „Es fühlt sich an, als hätte alles an Farbe verloren. An Farbe, Geschmack und auch Sinn.“ Konstantin rührte weiter in der Suppe.

„Ich weiß nicht, wovon sie sprechen.“, erwiderte er mit schleppender Stimme. In den bis dato größtenteils freundlich wirkenden Augen der ominösen Frau, blitzte es scharf auf. „Hör zu, Junge… tu dir und vor allem mir den Gefallen und erspar uns beiden das leidige Spielchen, in dem du so tust, als wüsstest du nicht wovon ich rede und in dem ich dir jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen muss. Ich weiß so einiges über dich, vermutlich sogar mehr, als du selbst. Zum Bespiel weiß ich von den verschwundenen Katzen in deiner früheren Nachbarschaft, dem heimlich im Restmüll entsorgten Graupapagei oder dem missglückten Einbruch im städtischen Zoo, den du in den Monaten davor, auffallend oft besucht hast!“

Konstantins ohnehin schon blasses Gesicht wurde mit einem Schlag kreideweiß. Der Suppenlöffel fiel mit einem leisen „Blub“ in die Schüssel, zusammen mit einem klammen Schweißtropfen der von seiner Stirn perlte. „Sie… Sie können mir nichts bewei-“

„Doch, das kann ich, Junge!“, schnitt die mysteriöse Dame ihm das Wort ab. „Wir beobachten dich nämlich schon eine ganze Weile. Du denkst, du hättest deine Spuren verwischt, doch du wärst selbst dann nicht auffälliger gewesen, wenn du in Unterwäsche mit einem leuchtenden Transparent durch die Straßen gerannt wärst.“ Sie schnalzte mit der Zunge. „Oder einem Kochlöffel, je nachdem.“

Konstantin schüttelte leise stöhnend den Kopf. „I-ich hör mir das nicht länger an…“

„Du hältst es tatsächlich nur für einen Witz was?“, fragte die Dame spöttisch, als er sich mühsam vom Tisch erhob. „Herrgott nochmal, mach die Augen auf, Junge! Wir sind beide gebürtige Europäer, die mitten in der Nacht in einem billigen Imbiss in Peking hocken, der Hauptstadt von China! Ich weiß, dass du seit über drei Monaten arbeitslos bist und sogar dein Auto für einen Trip in diese Goldgrube der abartigen Essgelüste aufgegeben hast. Die Wochen davor, hast du sowohl deine Eltern als auch deine Schwester wieder und wieder um Geld angepumpt, um deine immer kostspieligeren Einkäufe zu finanzieren, darunter zwei ziemlich dilettantische Bestellungen im Darknet, die dich fast in den Knast gebracht hätten. Ich weiß, dass deine allerletzten Heller in die Hände eines Restaurantbesitzers gewandert sind, der morbiden Touristen die Möglichkeit gibt, das Gehirn eines noch lebenden Affen zu verspeisen… und ich weiß auch, was du in den vergangenen Tagen getan oder vielmehr mit dir hast tun lassen, um an das Geld für diesen höchst fragwürdigen Genuss zu kommen. Muss ich wirklich weitersprechen, oder habe ich endlich deine Aufmerksamkeit?“

Konstantins Körper sackte wie ein Bündel nasser Wäsche zurück auf den Stuhl. Die dunkelhaarige Dame musterte seine gebrochene Erscheinung einen Moment, um sich dann leise seufzend eine Zigarette anzuzünden. „Ist nicht leicht, ich weiß.“, sprach sie, der Tonfall jetzt wieder merklich sanfter. „Die Entzugserscheinungen, meine ich. Vor allem, weil es nicht dein Körper ist, der danach giert. Es spielt sich alles alleine in deinem Kopf ab, deinem Geist. Cold Turkey auf mentaler Ebene, sozusagen. Ich kenne das Gefühl. Haben wir alle schon durchgemacht. Wie bei allen Drogen ist der Trick, sich davon nicht beherrschen zu lassen. Es ist eine Sache des Willens, mehr nicht.“

Konstantin hatte sichtlich Mühe den locker über ihn hinweg plätschernden Worten zu folgen. „Wir…?“, fragte er heiser. „Es gibt… es gibt mehrere wie mich?“

Sie lächelte belustigt. „Wie dich?“

„Verrückte.“, flüsterte der junge Mann mit leerer Miene. „Wahnsinnige… Mo-Monster.“

„Monster.“ Das hübsche Gesicht der Fremden wurde eine Spur weicher. „Ist es das, für was du dich hältst? Ein Monster?“

„Ich habe… Gedanken.“, flüsterte er heiser. „Schlimme Gedanken. Zuerst betrafen sie nur Tiere aber… aber jetzt wird es schlimmer. Immer schlimmer.“

„Gedanken, hm? Gedanken, die sich ums Essen drehen?“

Konstantin vergrub das Gesicht in den Händen. Seine Schultern zuckten unkontrolliert und gedämpftes Schluchzen erfüllte das schmierige Lokal.

„Nein.“, sagte die Fremde ruhig, nachdem ihr Schützling in spe sich wieder etwas beruhigt hatte. „Du bist kein Monster, mein Junge. Zumindest nicht mehr und nicht weniger, als alle anderen auf dieser blauen Kugel auch.“ Sie griff in ihre Tasche, um einen breiten Briefumschlag daraus hervorziehen. „Hier. Der ist für dich.“

Ein tränennasser Blick wanderte über den Umschlag. „Was…was ist das?“

„Flugtickets. Inklusive ein wenig Geld für einen Aufenthalt in einem angemessenen Hotel.“

„I-ich verstehe nicht-“

„Es ist ein Geschenk.“, schnitt sie ihm erneut das Wort ab. „Ein Service, wenn du es so nennen möchtest.“

„Ein Service…“, Konstantins brüchige Stimme gewann an frischer Skepsis. „Von wem?“

Die ominöse Dame griff mit einem Lächeln erneut in ihre Tasche. Diesmal förderte sie eine Visitenkarte zutage, die sie ihm mit zwei manikürten Fingerspitzen entgegenhielt. Noch während Konstantin die Karte betrachtete, erhob sie sich von ihrem Platz. „Flieg nach Hause, Junge. Wasch dich, schlaf ein wenig, meld dich bei deiner Familie… und komm in vier Tagen zu der Adresse auf dieser Karte.“

„Wa-warten Sie!“, stammelte Konstantin, mit der bizarren Situation jetzt restlos völlig überfordert. Wer sind Sie überhaupt??“

„Nenn mich Marla. Wenn du dort bist, frag nach deiner Tischdame.“ Und dann war sie auch schon fort. Zurück blieb ein abgerissen wirkender junger Mann, dessen geröteter Blick sich zuerst auf den Umschlag und danach auf die Visitenkarte in seiner Hand legte. Die Karte war mintgrün und beinhaltete, außer einer händisch geschriebenen Adresse samt Uhrzeit, lediglich das Symbol eines menschlichen Profils in einem runden Kreis. Eine geheime Organisation? Ein Club womöglich? Oder am Ende einfach nur ein schlechter Scherz? Er spähte vorsichtig in den Umschlag. Es befand sich tatsächlich Geld darin. Geld und Flugtickets, sogar erste Klasse! „Das ist verrückt…“, murmelte er. „Einfach nur verrückt.“ Er betrachtete sein verzerrtes Spiegelbild in der immer noch unangerührten Suppe. Verrückt… ja, eindeutig. Aber eigentlich spielte das jetzt auch schon keine Rolle mehr.


Vier Tage später, fand Konstantin sich auf einem zugemüllten Hinterhof im hintersten Winkel seiner Heimatstadt wieder. Er sah nur bedingt besser aus, wenngleich geduscht und gepflegt, was schon seit längerer Zeit nicht mehr der Fall gewesen war. Entgegen „Marlas“ Empfehlung, hatte er auf eine Aussprache mit seiner Familie verzichtet. Was er derzeit überhaupt noch an Kraft aufbringen konnte, musste er für sich selbst aufsparen. Er würde später mit ihnen sprechen… wenn es denn ein Später für ihn gab. Er schob den düsteren Gedanken, der schon seit geraumer Zeit in seinem Kopf herumspukte, hastig beiseite. Nein… noch war er nicht soweit. Es fehlte nicht mehr viel aber noch war nicht bereit dazu. Bereit es zu beenden. Den Hunger, die Angst… und alles andere auch. Schaudernd holte er die grüne Visitenkarte aus der Tasche. Die Adresse stimmte... aber war er hier wirklich richtig? Er betrachtete die vor sich angehäufte Ansammlung aus Sperrmüll und Unrat. Am Ende doch nur ein dummer Scherz der ihn in eine plumpe Falle von Trickbetrügern locken sollte? Doch seit wann folgten einem solche Leute quer über den Globus? Konstantins suchender Blick fiel auf eine schmale Türe, deren Erscheinungsbild mit dem Wort „schäbig“ noch sehr entgegenkommend beschrieben war. Aus Mangel an Alternativen klopfte er zaghaft an das von absplitterndem Lack bedeckte Holz. Nach einigen Sekunden bangen Lauschens entschied er, dass ein einzelnes Klopfen wohl nicht ganz ausreichte. Er hob gerade die Hand, da ertönte dicht hinter der Türe eine übelgelaunte Stimme: „Privatbesitz! Verschwinde oder ich ruf die Polente!“ Konstantin machte einen Satz rückwärts. Im ersten Moment war er so perplex, dass er beinahe tatsächlich auf dem Absatz kehrt machte und Fersengeld gab. Dann aber fasste er sich wieder und trat erneut vor die Türe. „Ich soll hier nach meiner Tischdame fragen!“, rief er mit zitternder Stimme.

Ein, zwei Sekunden verstrichen ohne Reaktion. Schließlich öffnete sich die Tür einen Spalt und ein Mann, dessen Erblinie irgendwann einmal in die Klaus Kinski Ecke abgebogen sein musste, spähte skeptisch hervor. „Keine Namen.“, sagte er scharf. „Niemals Namen. Niemals!“

„Okay…“, murmelte Konstantin stirnrunzelnd. „Keine Namen. Verstanden.“

Der gruselige Türsteher nickte grimmig. „Gut!“ Er öffnete die Türe gerade soweit, dass ein Mensch hindurchpasste. Konstantin verstand die stumme Aufforderung und quetschte sich kommentarlos durch den engen Spalt. Er war kaum mit beiden Füßen über die Schwelle, da wurde ihm von hinten auch schon eine Art Sack über den Kopf gestülpt.

„WA-WAS SOLL DAS?! HILF-“

Eine dünne aber erschreckend starke Hand hielt ihm abrupt den Mund zu. „Bist du verrückt?!“, zischte die Stimme des Türstehers. „Brüll noch einmal hier rum und du kannst dich vom Club verabschieden!“

Konstantins Augen rollten wild in den Höhlen. Sein Körper knisterte vor Adrenalin und wäre er bei vollen Kräften gewesen, hätte er wohl schon wild um sich geschlagen. Stattdessen gelang es ihm sich so weit zu beruhigen, dass die schraubstockartige Hand um seinen Kiefer wieder verschwand. „Dämlicher Penner…“, knurrte es hinter ihm missmutig. „Neulinge sind echt die Pest!“ Konstantin fühlte sich unsanft vorwärts geschoben. „Nun beweg dich schon! Bist verdammt spät und die warten nicht gerne aufs Essen!“ Der junge Mann setzte sich zögernd in Bewegung. Der Stoff über seinem Kopf war dünn genug, um problemlos atmen zu können, allerdings völlig blickdicht. Ihm blieb daher nichts anderes übrig, als blindlings vorwärts zu stolpern und dabei zu hoffen, dass der Kinski-Verschnitt ihn nicht gegen eine Wand rennen ließ. Was zum Kuckuck machte er hier eigentlich? Was passierte gerade mit ihm und wieso riss er sich diesen Fetzen nicht vom Kopf und rannte, als wäre die spanische Inquisition persönlich hinter ihm her? Die Antwort war einfach: weil es dafür schon längst zu spät war. Etwas in Konstantin hatte bereits vor mehreren Tagen begriffen, dass er bereits viel zu weit gegangen war, um jetzt noch an einen Rückzieher zu denken. Was immer er mit seinem Handeln und Taten und letztendlich auch dem selbstzerstörerischen Pfad der Sucht ausgelöst hatte, er spürte instinktiv, dass er ihm gleich gegenüberstehen würde. Ein erschreckender Gedanke, der zugleich aber auch das bebende Prickeln auslöste, das er in den vergangenen Wochen und Monaten so verzweifelt gesucht hatte. Verflucht… konnte es tatsächlich sein, dass er trotz dieser grotesken Situation gerade glücklich war??

„Was gibt’s da zu lachen?“, murrte Kinski hinter ihm irritiert.

„Ich weiß nicht…“, sagte der junge Mann, dessen Mundwinkel unter dem dunklen Stoff leicht zu zucken begonnen hatten. „Vermutlich gar nichts.“

„Hrmm… Neulinge sind wirklich die Pest.“

Sie schienen mindestens drei verschiedene Räume von enormer Länge zu durchqueren, ehe Konstantins Führer ihm so abrupt einen Stuhl unter den Hintern schob, dass er mehr hinein plumpste anstatt darin Platz zu nehmen. Gleich im Anschluss wurde ihm der Sack vom Gesicht gezogen, was seine Sicht allerdings kaum verbesserte. Der neue Raum war sowohl in tiefe Stille als auch völlige Dunkelheit gehüllt. Er fühlte die knochigen Hände des Pförtners an seinem Gesicht, die ihm fahrig etwas aufsetzten, das sich wie eine billige Karnevalsmaske anfühlte. „Schön aufbehalten.“, erklang eine ihm bekannte Stimme von rechts. Konstantins Kopf ruckte herum.

„Marla?!“

Das Klacken eines Lichtschalters ertönte und schlagartig verschwand die Dunkelheit. „Keine Namen.“, ermahnte die ominöse Dame ihn ebenfalls, wenngleich deutlich sanfter als der Portier zuvor. „V-Verzeihung. Ich wollte nur-“ Konstantin verstummte verblüfft. Marla – seine „Tischdame“ – trug eine goldfarbene Halbmaske, die bis auf den Mund ihr gesamtes Gesicht verdeckte. Die Maske repräsentierte die klischeehafte Darstellung eines Schweines, inklusive dicker Backen und der typischen Steckdosennase. Er benötigte keinen Spiegel, um zu wissen, dass er selbst offenbar ebenfalls eine derartige Maske trug. Etwa zum selben Zeitpunkt wurde ihm zudem bewusst, dass er und Marla nicht alleine waren. Verwirrt drehte er den Kopf. Sein dem Geschehen deutlich hinterherhinkender Verstand teilte ihm dabei mit, dass er offenbar an einer Art Festtafel saß, auch wenn deren Gestaltung sich auf kunstvoll gefaltete Stoffservietten sowie eine einzelne, silberne Gabel beschränkte. Rings um den riesigen Tisch saßen mehr als ein Dutzend weiterer Personen, die Gesichter ausnahmslos von goldfarbenen Schweinemasken verdeckt. Alle trugen schwarze, nichtssagende Kleidung, was bei vielen sogar die Geschlechterbestimmung unmöglich machte. Keiner sprach auch nur ein Wort, was die anfangs noch sehr komische Atmosphäre rasch ins Bedrohliche rutschen ließ. Man schien auf etwas zu warten und Konstantin erinnerte sich an die knurrigen Worte des Pförtners. Er war spät dran, hatte er gesagt… spät dran… spät dran für was? Wie zur Antwort griff einer der Maskierten – Konstantin tippte aufgrund der Größe auf einen Mann – nach einem silbernen Glöckchen das vor ihm auf dem Tisch stand. Der Ton war beinahe zarter als die Glocke selbst, erfüllte seinen Zweck allerdings mehr als eindrucksvoll. Irgendwo im Dunkel schwang hörbar eine Türe auf und gut ein Dutzend weiterer Leute strömte einheitlich in den Raum. Sie trugen reinweiße Masken, wie man sie aus dem Theater kannte und repräsentierten in ihrer Aufmachung offenbar das Küchenpersonal der Twillight Zone. Flink und lautlos eilten sie an den Tisch, um jeder Person ein silbernes Tablett inklusive blickdichter Servierglocke vor die Nase zu stellen. Konstantin sah dem perfekt synchronen Schauspiel gebannt zu, konnte die Enttäuschung aber kaum verbergen, nachdem die Glocken angehoben worden waren. Auf dem riesigen Teller, genau im Zentrum, lag ein einzelnes, an einen Cocktailsnack erinnerndes Häppchen aus gräulichem Fleisch. Es war garniert und hoch dekorativ arrangiert aber dennoch kaum größer als eine Olive. Noch während er ratlos auf dieses winzige Etwas starrte, geriet in die bis dato völlig regungslosen Gäste spontan Bewegung. Silber blitzte im dämmrigen Licht, als ein Dutzend Gabeln in einer beinahe schon feierlichen Geste gleichzeitig angehoben wurden. Gebannt verfolgte Konstantin mit, wie die unheimliche Gesellschaft die winzigen Happen in einheitlichem Schweigen zum Mund führte. Hilfesuchend sah er zu Marla, doch die hatte sich dem merkwürdigen Ritual bereits angeschlossen. Die maskierten Gäste kauten langsam und bedacht, fast schon konzentriert, was einen prickelnden Adrenalinstoß in dem jungen Mann auslöste. Mit zitternden Fingern griff er nach seiner Gabel, um das winzige Gourmethäppchen damit aufzuspießen. Sein schien sich nicht zwischen Panik und Euphorie entscheiden zu können. Konstantins Lippen bebten, als er den Mund öffnete. Ein kalter Schweißtropfen rann ihm das Genick hinab. Er begann zu kauen, versuchte die ihm unbekannten Gewürze herauszuschmecken… und erkannte den malzigen Geschmack eines guten, gereiften Whiskeys auf der Zunge. Er atmete seufzend aus. Der Geruch von billigen Zigarren und selbstgedrehten Zigarillos schwängerte die ohnehin schon stickige Luft, in der sich dumpfes Kneipengebrumm und altmodische Musik mischte. Vor ihm stand ein Glas mit bernsteinfarbener Flüssigkeit, in dem einige Eiswürfel träge vor sich hinschmolzen. Die Gesichter rings um ihn, waren ihm so vertraut wie das dunkle, fleckige Holz des Tresens an dem er saß. Hier… hier war alles gut. Hier drückte nur die schwermütige Atmosphäre seinen von Sorgen überladenen Kopf nieder, hier verstummte das ewige Krakeelen das ihm entgegen tönte, sowie er sich zuhause blicken ließ. Hier… hier war die Welt, seine Welt in Ordnung. Solange er einfach hier saß und sein Glas nicht leer wurde, solange konnte er sein Leben fast ertragen. Eine schon in die Jahre gekommene aber immer noch sehr freizügig angezogene Dame zwinkerte ihm von der Seite zu. Er zwinkerte grinsend zurück und bestellte zwei neue Drinks. Die Dame rückte näher. Er glaubte sie zu kennen. Betty…? Betsy…? Spielte es eigentlich eine Rolle? Ihrem Lächeln fehlten einige Zähne, doch es galt ihm alleine. Ihre Hand legte sich gerade auf sein Bein, da wurde Konstantin so ruckartig in die Wirklichkeit zurückgerissen, dass er sich an der Tischkante festhalten musste, um nicht seitlich vom Stuhl zu kippen.

„Ist was ganz anderes als Kälber, Rinder oder Affen, nicht wahr?“

Mit immer noch rasendem Puls drehte Konstantin den Kopf. Er erkannte, dass er und Marla die einzigen noch verbliebenen Leute am Tisch waren. Einzig die Masken der übrigen Gäste waren noch da, allesamt säuberlich auf den nunmehr leeren Tellern abgelegt. Ihre leeren Blicke jagten Konstantin einen kalten Schauer über den Rücken. Marla selbst hatte ihre eigene Maske ebenfalls abgelegt und musterte den jungen Mann vor sich nun mit abwartender Miene. „Was…“, fragte er, nachdem seine Atmung sich wieder normalisiert hatte. „Was ist das hier?“

Nennen wir es der Einfachheit halber doch einfach einen Dinnerclub.“

Konstantin lachte atemlos auf. Es klang wie ein gepresstes Zischen. „Ein Dinnerclub…“, wiederholte er kopfschüttelnd. Er sah auf seinen leeren Teller. „Ich habe also-“

„Ja.“

Er nickte langsam. . Die Erkenntnis war dunkel und grauenvoll, seltsamerweise aber auch weitaus einfacher zu ertragen als erwartet. „Und… woher?“, fragte er weiter. „Oder vielmehr Wer?“

„Unwichtig und nicht von Belangen.“

Konstantin warf ihr einen langen Blick zu. „Nicht von Belangen?“

Marla rieb sich seufzend den Nasenrücken. „„Menschen sterben, Konstantin. Jeden Tag. Sie sterben an Altersschwäche oder durch Unfälle, sie fallen Treppen hinunter oder werden von einem Auto überfahren. Manche werden Opfer von Überfällen und wiederrum andere schaufeln sich über längere Zeit ihr Grab durch Drogen oder Alkohol. Gerade jetzt, während wir hier miteinander sprechen, sterben statistisch gesehen gerade mehrere hunderte, wenn nicht gar tausend Menschen, ohne dass du oder ich auch nur das Geringste damit zu tun haben. Verstehst du, was ich damit sagen will?“

Er überlegte einen Moment. „Ja… in der Natur nennt man so etwas Aasfresser.“

Marla verzog das Gesicht, als hätte er ihr gerade ein Stück Scheisse unter die Nase gehalten. Gleichwohl er nicht wusste in welche Richtung sich das Gespräch noch entwickeln würde, verspürte er bei dem Anblick doch einen Funken Genugtuung. Wenigstens einmal hatte er diese bis dato so unantastbar wirkende Frau aus dem Konzept gebracht. So schnell sie die Fassung verloren hatte, so schnell fand sie selbige aber auch wieder. „Kennst du das Buch ‚Animal Farm‘?“, nahm sie den Faden nahtlos wieder auf.

„Animal Farm… von Orwell? Ja. Natürlich.“

„Gut. Das heißt, du kennst die Tiere in der Geschichte. Das arbeitssame Pferd, die dummen Schafe, die schnatternden Gänse-“

Er nickte ungeduldig. „Ja, ja, ich kenne die ganzen Tiere in der Geschichte. Kommt jetzt auch die Auflösung, was das alles hiermit zu tun hat? Mit diesem verschwiegenen Geheimbund, dessen Schutzpatron offenbar Hannibal Lecter darstellt?“

Marla lächelte reserviert, ließ sich aber nicht mehr aus der Reserve locken. Stattdessen griff sie nach der goldenen Maske auf ihrem Teller. „Wir… sind die Schweine, Konstantin. Die Tiere, die ein bisschen gleicher sind als all die anderen.“

Ein skeptischer Blick traf sie von der Seite. „Die Schweine waren Mörder.“, sagte er düster.

„Ja, das waren sie. Aber genau da unterscheiden wir uns von ihnen. Wir bringen niemanden um. Wenn überhaupt, kannst du uns höchstens als Diebe bezeichnen. Wir nehmen uns einen kleinen Teil von denjenigen, die ihn ohnehin nicht mehr brauchen.“

„Und wie?“, fragte er höhnisch. „Schickt ihr in Nacht und Nebelaktionen Ninja-geschulte Sous-Chefs in die Pathologien, damit sie dort mit dem Filetiermesser die besten Stücke sichern?“

Marlas Miene fror erneut ein. „Du solltest mehr auf deinen Tonfall achten.“, ermahnte sie ihn gefährlich leise. „Immerhin bis du das erste Mal seit Monaten mental klar genug, um wieder ein sinnvolles Mitglied der Gesellschaft darzustellen. Etwas mehr Dankbarkeit wäre im Augenblick folglich deutlich angebrachter als beißender Spott oder Hohn.“

Konstantin biss sich auf die Lippe. So ungern er es zugab, doch sein mit einem Mal wieder völlig rund laufender Verstand war leider nicht zu leugnen. All die Unruhe, die Verzweiflung und auch die in den letzten Wochen immer stärker an ihm zerrenden Depressionen waren restlos verschwunden. Tatsächlich fühlte er sich seit langer Zeit wieder richtig lebendig. Geradezu energiegeladen und erfrischt. Zum ersten Mal seit mehreren Monaten, fühlte er sich wieder wie ein vollwertiger Mensch. Wog sein protestierendes Gewissen denn wirklich schwerer, als dieses tiefe Gefühl endloser Erleichterung? Er hob nachdenklich den Blick. Marlas Aufmerksamkeit lag unverwandt auf ihm. Er sah ihr an, dass sie warte. Lauerte. Abwägte. Was wohl passierte, sollte sie entscheiden, dass sie den Falschen in ihre geheimen Reihen geholt hatte? Wobei, hatte sie das denn wirklich?

Konstantin lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Also ein Club.“, sagte er langsam. „Ein Dinnerclub.“

Marla entspannte sich deutlich. „Ja.“, bestätigte sie. „Ein Ort, an dem wir das ausleben, was wir sind.“

„Also…Vampire?“

Sie lachte unvermittelt auf. „Vampire?! Wie kommst du denn jetzt auf so einen Begriff??“

„Ich habe das Leben dieses Mannes in mich aufgenommen.“, erwiderte Konstantin ernst.

„Nein, hast du nicht.“, lächelte sie. „Du hast nicht seine Seele verschlungen, falls es das ist, was dir gerade durch den Kopf geht.“

„Und was war es dann? Was hab ich gesehen, gehört, gespürt? Was passiert wenn wir… wenn wir essen?“

Diesmal ließ Marla sich mit ihrer Antwort deutlich mehr Zeit. „Nennen wir es eine Momentaufnahme.“, sagte sie nach einer Weile. „Ein Einblick in das Leben eines Anderen. Ein kurzer Blick in einen anderen Kosmos.“

Konstantin lächelte milde. „Eine Art mental-organischer Schnappschuss? Ernsthaft jetzt?“

Marla tippte sich gegen die Stirn. „Das Gehirn ist ein ganz und gar erstaunliches Organ.“, flüsterte sie verschwörerisch. „Es speichert Erinnerungen und Erfahrungen mittels elektrischer Impulse wie ein organischer Supercomputer. Du und Ich und eine Handvoll anderer Leute… wir sind in der Lage, diese Informationen, dieses kurze aber intensive Bild eines anderen Seins, wahrzunehmen und zu erleben. Einen Moment lang, können wir in die Haut eines Anderen schlüpfen und ein uns fremdes Leben samt all seiner Freuden oder Leiden teilen.“ Marla betrachtete abwesend ihre perfekt manikürten Fingernägel. „Womöglich hast du sogar Recht und wir sind nichts weiter als Vampire… Parasiten die sich am Leben anderer oder vielmehr dessen Resten laben.“ Ihr Blick richtete sich wieder auf Konstantin und ihre Augen funkelten im dämmrigen Licht des Raums wie die einer Katze. „Vielleicht macht es uns aber auch zu Göttern. Niedere Götter zwar nur aber dennoch Götter. Höhere Wesen, die ein Stückchen weiter gehen können als alle anderen.“

„Gleicher als die anderen.“, murmelte Konstantin.

„Ja…“, flüsterte Marla. „Ein kleines bisschen gleicher als die anderen.“ Sie lehnte sich etwas vor, um eine Hand sanft auf seinen Arm zu legen. „Es ist eine Gabe, Konstantin. Selten und kostbar. Je eher du das begreifst, umso schneller wirst du daraus Kraft ziehen können.“

Er sah auf die milchkaffeefarbene Hand auf seinem Arm. „Kraft…“, wiederholte er wie in Trance.

„Kraft, Inspiration, Motivation… jeder schöpft auf seine ganz eigene Art aus dieser besonderen Quelle. Du wirst mit der Zeit erkennen, welche Art von Stärke du daraus ziehen kannst.“ Marla erhob sich. „Und jetzt komm… nach dem Essen sollst du ruhen, wie es so schön heißt. Ich fahre dich nach Hause.“

Fortsetzung folgt...

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