Deutsches Creepypasta Wiki
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"Wer andere kennt, ist klug.

Wer sich selber kennt, ist weise.

Wer andere besiegt, hat Kraft.

Wer sich selber besiegt, ist stark.

Wer sich durchsetzt, hat Willen.

Wer sich selber genügt, ist reich.

Wer seinen Platz nicht verliert, hat Dauer.

Wer auch im Tode nicht untergeht, der lebt."

[Laotse (6. oder 4. - 3. Jh. v. Chr.), eigentlich Laozi, nur legendenhaft fassbarer chinesischer Philosoph, Begründer des Taoismus]


Teil 1

Dunkelheit umgab ihn. Es war nass und eiskalt. So kalt, dass sein Körper schmerzte und er sich kaum bewegen konnte. Nein, lag dies wirklich an der Kälte? Ein unheimlicher Druck lastete auf ihm. Doch er rührte sich nicht. Seine ausgedöhrten Lungen brannten wie Feuer und schrien gequält nach frischen Sauerstoff, der ihnen schon seit viel zu langer Zeit verwehrt geblieben war. Doch er kam diesem verzweifelten Wunsch nicht nach. Wie hätte er auch? Ein einziger Atemzug würde seinen sicheren Tod bedeuten.

Stattdessen streckte er weiterhin alle Glieder von sich, trieb er in der Dunkelheit und lauschte. Doch es war still. Ohrenbetäubend still. Angespannt umklammerte er das Etwas fester, was er später als Baumwurzel identifizieren würde. So sehr sein Körper auch meuterte und seine Lungen beinah zerbarsten, er durfte nicht loslassen.

Doch urplötzlich verschand der Druck von seinem Rücken. Er hörte etwas. Ein Schmatzen. Schritte. Schmatzende Schritte. Im Schlamm? Sie entfernten sich!

Er hielt es nicht mehr aus. Mit letzter Kraft riss der Junge den Kopf gegen die Gewalt dessen, was ihn umgab, nach oben. Grellles Licht wurde ihm förmlich ins Gesicht gespuckt. Es blendete ihn. Kühlschwarzer Schlamm sickerte aus seinen Haaren, lief in seine Augen und Ohren. Weiße Phantome kamen ihm entgegen und begrüßten ihn an der Oberfläche. Mit kalten Fingern berührten sie seine verschmierte Haut. Gierig saugte er den eisigen Dampf in seine Brust.

Angestrengt blinzelte Jacob dem plötzlich scheinenden Mond entgegen. Er sah Bäume um sich. Krüppelbirken und Fichten. Eingekleidet in Gewänder aus graugrünen Flechten und Algen. Windschief verwachsen und traurig verkümmert standen sie vereinzelt am Rande des dunkel gähnenden Wassers. Hier und da unterbrochen von Heidekraut und knochigen Geäst. Silberne Spinnfäden hingen wie Watte darin und bewegten sich Gespenstern gleich im eiskalten Nebelhauch des Moores, welches Jacob noch immer zu verschlucken versuchte.

Doch der Junge war ruhig. Ja fast beängstigend ruhig. Fest umklammert hielt er die lebensrettende Wurzel, stemmte sich mit beiden Beinen gegen zwei Felsen, welche dafür sorgten, dass er flach wie eine Wasserleiche auf dem unsicheren Untergrund lag, noch halb vom Schlamm bedeckt. Aber er war ruhig. Denn egal was passierte, er durfte weder schreien noch weinen, klagen und rufen. Denn in der Ferne, dort in der Narbe Brachland, welche den Wald vom Moor trennte, entfernten sich einige schwarze Gestalten von ihm. Kriechende, kauernde, scheußliche Kreaturen, vor denen Jacob noch vor einigen Minuten wie der Teufel durch den Wald geflohen war. Es waren einige dieser aggressiven Sorte, denen man lieber nicht die Stirn bieten sollte, wenn man an seinem teuren Leben hing.

Jacob dankte im Stillen Gott, dem Schicksal, Karma oder sonst wem dafür, dass er auf der Flucht vor den Monstern ausgerechnet eine so unglaublich flache Stelle des Moores fand. Eher ein Zufall, als Geschick. Der scharfe, modrige Gestank von Verwesung und toten Blättern, den das Wasser absonderte, überdeckte Jacobs eigenen süßen Geruch. Dies hatte Thomas ihm einst ganz genau erklärt. Wie ironisch, dass ausgerechnet ein Jahrhunderte altes Moor, welches immer wieder hungrig unachtsame Wanderer verschlang, ihm am heutigen Tage das Leben rettete. Vorausgesetzt, er würde es irgendwie schaffen, sich aus dem Matsch zu befreien, selbst wenn diese Stelle noch so flach war...



Es dämmerte bereits, als Jacob schlussendlich hustend und spuckend seinem feuchten Gefängnis entkam. Seine letzten Kräfte hatten bereits seinen magernen Körper verlassen. Er musste sich ausruhen. Keuchend lehnte er sich gegen einen toten Baum und sank erschöpft zu Boden. Seit einigen Tagen schon hatte er nichts richtiges mehr gegessen. Seit er von Thomas und seiner Gruppe getrennt wurde. Jacob hatte sich schon lange mit dem Gedanken angefreundet, sie nie wieder zu sehen. Zumindest nicht lebend.

Jacob war noch zu klein, als jenes Ereignis passierte. Er war quasi mit dem Tod aufgewachsen. Wörter wie Sicherheit und Schutz waren ihm fremd. Solange er sich erinnern konnte, war er ein mehr mal weniger hilfreiches Mitglied dieser Gruppe von Rockern. Dort hatte er die Rolle des Jüngsten besetzt. Seine Mutter war verzweifelt und halb verhungert mit ihm zu Thomas gekommen, dem Anführer. Er hatte sie aufgenommen. Und beschützt. Ja, seine Mutter musste sich gut mit Thomas verstanden haben. Schließlich wurde sie jeden Abend in sein Zelt gerufen, zusammen mit zwei anderen Frauen. Die anderen Männer hatten Jacob dann immer gesagt, er dürfe auf keinen Fall hinein. Und wenn er es doch versuchte, setzte es Prügel bis ihm der Schädel brummte. Oder schlimmeres...

Jacob wischte sich den schwarzen Schlamm aus dem Gesicht und schloss für ein paar Sekunden die Augen. Mmh, wie sah seine Mutter nochmal aus? Er hatte sie zuletzt als kleines Kind gesehen. Genau, sie hatte die selben dunklen Haare wie er, nur viel länger. Auch seine grau-grünen Augen hatte sie ihm hinterlassen. Allerdings war sie dünn wie eine Bohnenstange gewesen, ihre weiche, weiße Haut spannte sich geradezu über ihr Gerippe. Ein Wunder wie die Zombies überhaupt etwas zu kauen an ihr fanden. Das wäre ja so, als ob man auf einem Zahnstocher rumbeißen würde...

Bei dem Gedanken überkam Jacob eine Welle von Hunger, der ihn schließlich zwang seinen Platz zu verlassen und wieder tiefer in den Wald vorzudringen. Das purpurne Licht der aufgehenden Sonne schien vereinzelt zwischen den Ästen der hohen Kiefern hindurch, welche sich langsam und ächzend in einem geheimen Rythmus wiegten. Ein Hämmern ertönte in der Ferne und das dumpfe Ächo hallte in Jacobs Ohren wieder. Vermutlich ein Buntspecht. Jacob leckte sich über die Lippen, beschleunigte seine Schritte und lief zwischen den Kiefern über ein weiches und doch schmerzhaftes Bett aus Nadeln und Zapfen, welches den gesamten Waldboden bedeckte und kleine Sträucher und Gräser bereits im Keim gnadenlos erstickte. In solch monotonen Wäldern war kein Platz für frisches Blattwerk. Die hohen Nadelbäume raubten allen anderen Pflanzen gierig das Sonnenlicht.

Irgendwann erreichte der Junge schließlich eine geeignete Stelle. Ein mächtiger Baum, der dominant seine Äste den anderen Bäumen regelrecht in die Rippen bohrte. Behutsam tastete Jacob seine raue Rinde ab. Im Vergleich zu den anderen Hölzern rundherum, war diese hier fett und vollgesaugt mit Wasser und Nährstoffen; Leben, dass der Baum seiner Umgebung stetig entzog. Lächelnd zückte Jacob sein Bowie Messer. Es war bereits alt und die Klinge schartig, vermutlich hatte es seinem Vater oder so gehört, aber in diesem Fall erfüllte es seinen Zweck. Geschickt schnitt er ein kleines Stück Rinde an und riss es schlussendlich mit einem Ruck heraus. Wind fuhr durch die Äste des Baumes und er schüttelte seine Zapfen, welche auf Jacob niederprasselten.

“Stell dich nicht so an.”, murmelte Jacob grinsend und blickte zu dem Riesen empor. “Ich habe auch Hunger.”

Gierig verschlang er das Stück und wischte sich über die Lippen, eher er ein Weiteres anschnitt. Und dann noch eins. Ringsherum um den Stamm zog er Streifen um Streifen ab, ähnlich den Rehen im Winter. Geschmacklich zwar eine Beleidigung, aber sättigend.

Als Jacob den letzten Rest Rinde herunterriss, hellte sich seine Miene plötzlich auf. Unter der Haut des Baumes war eine fette, weiße Kreatur zum Vorschein gekommen. Mehrere Glieder schmiegten sich ans Holz und ein wohlgenährter Körper zog sich blitzartig zusammen.

Jacobs Augenwinkel zuckte, als er die fette Made nam und sie sich in den Mund steckte. Der Trick dabei war sich vorzustellen, dass dieses kleine wabbelige Tier, welches einem die Speiserröhre hinunterkroch, in Wirklichkeit ein schönes, saftiges Stück Fleisch war. So richtig rot und blutig. Ähnlich wie das Fleisch, was Thomas immer von seinen Streifzügen mitgebracht hatte. Das klappte eigentlich immer.

Plötzlich hielt Jacob in seiner Bewegung inne. Was war denn das? Es roch... verbrannt. Der Junge schnupperte angestrengt. Ja, es lag eindeutig ein unangenehm stechender Brandgeruch in der Luft. Es roch nach verkohlten Holz und... Benzin. Ganz eindeutig. Neugierig sah er zum Himmel und drehte sich langsam um die eigene Achse wie ein Brummkreisel, bis er entdeckte, was er suchte.

Hinter den Baumwipfeln stieg, einem bedrohlichen Giganten gleich, eine dunkle Rauchsäule empor. Eine Schar Saatkrähen flatterte aufgebracht gen Himmel; versuchten den Wald und all seine Bewohner mit ihrem durchdringendem Geschrei vergeblich zu warnen. Jacob leckte sich die Mundwinkel und überlegte. Feuer hieß Gefahr, soviel war ihm bewusst. Aber es konnte auch ein starker Verbündeter sein. Zombiefleisch brannte gut. Und wo Feuer ist, sind Menschen normalerweise auch nicht weit...

Schlussendlich siegte seine Neugier über die Vernunft und er machte sich in die Richtung auf, in der er das Feuer vermutete.


Die wilde Glut nagte hungrig an den im heißen Hauch peitschenden Zweigen, wirbelte schwarzen Staub über Gräser, Müll und alte Wohnwagen, durch deren rostiges Metall sich die Feuersbrunst fraß. Wie eine gigantische offene Wunde wirkte die brennende Lichtung inmitten des Waldes, auf der eine Art provisorischer Campingplatz sich grotesk an die Natur zu schmiegten versuchte. Jacob stand etwas abseits im Dreck und beobachtete das ihm dargebotene Spektakel. Der sandige Boden war durchtränkt von Blut. Doch keine Leichen waren zu sehen.

“Schade eigentlich...”, dachte Jacob seufzend und im selben Gedankengang, kam er zu dem Schluss, dass es so vermutlich besser war. Leichen waren immer so aggressiv.

Fast schon unbedarft spazierte der Junge zwischen den brennenen Schrottteilen der Campingwagen umher. Er versuchte sich vorzustellen, wie es wohl wäre, in solchen Dingern zu leben. Soweit er wusste, gab es sie früher häufiger; man fuhr damit weg, wenn man frei hatte, um Spaß zu haben. Eine seltsame Vorstellung.

Ein Geräusch riss ihn abrupt aus seiner Fantasie zurück in die hässliche Realität. Sofort verspannten sich alle Muskeln in seinem Körper und er bückte sich leicht, bereit loszurennen, wenn es denn sein musste. Er spitze die Ohren.

Es war eine Art Weinen, ja eher Winseln. Es klang wie ein kleiner Hund, der von seinem Herrchen getreten wurde. War es menschlich? Jacob konnte es nicht genau sagen. Falls es ein verletztes Tier sein sollte, war es die erste echte Mahlzeit seit Langem. Und falls es ein Mensch sei sollte... tja... Pech gehabt.

Vorsichtig ging er dem Geräusch hinterher. Mit jedem Schritt wurde es lauter. Diese klagenden Laute, die hohen schrillen Töne, Schluchzen. Jacob war erstaunt, wie schwer sein Körper sich plötzlich anfühlte. Sein Herz schmerzte, als wolle es zerbersten. Es war ihm so elend zumute. Jacob packte sich an die Brust. Wie konnte er jetzt nur krank werden? Entgeistert bemerkte er, wie seine Augen sich plötzlch mit Wasser füllten. Wie ungesund sich das anfühlte!

Die Quelle des Geheuls befand sich scheinbar in einem alten, aber immer noch intakten Wagen, der etwas abseits von den anderen im Gestrüpp stand. Die braunen Pflanzen überwucherten dieses riesige Stück Rost, als wollten sie es einer Schlange gleich, erwürgen. Jacob zwängte sich mühsam durchs Geäst, Dornenranken zerrissen seinen Jumpsuit und die darunterliegende bleiche Haut. Er merkte wie etwas Warmes seinen Arm hinunter lief, doch es störte ihn nicht weiter. Er kannte nun wirklich schlimmeres, als so ein banaler Kratzer.

Am Wagen angekommen überlegte er kurz. Das Geheul war verstummt. Kein Laut war mehr zu hören. Doch er war so unglaublich neugierig! Vorsichtig öffnete er die knarrende Tür und spähte hinein.

Es hätte ein so hübscher Anblick sein können. Verblichene Häkelvorhänge an den Fenstern, bunt geblühmte Teetassen auf dem Tisch verteilt. Der Boden war mit einem uralten Teppich von persisch anmutenden Stoff ausgelegt. Es roch muffig. Topflappen und Bilder hingen an der Wand. Doch alles war mit einer Zentimeter dicken Staubschicht bedeckt, die sich wie ein schützendes Tuch über alles gelegt hatte. Alte Konservendosen und Müll lagen am Boden, die Wände verostet. Der Zahn der Zeit hatte ganze Arbeit geleistet. Schubladen waren durchwühlt, deren Inhalt im ganzen Wagen verteilt war, als wäre eine Granate eingeschlagen. Scheinbar war Jacob nicht der erste Besucher. Er machte ungläubig ein paar Schritte hinein. Er sah Dinge, die er nicht kannte und einige von denen er sich nicht sicher war, was sie sein sollten. Behutsam, als wäre sie ein großer Schatz, zog er eine verbogene Gabel aus dem Sofakissen. Gedankenversunken drehte und wendete er sie in seiner Handfläche. Sein linkes Bein kribbelte, es fühlte sich... taub an? Verwirrte sah er an sich hinab... und erblickte eine grässliche Fratze, die ihre verfaulten Zähne in sein Fleisch grub.



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