»Mama? Wird Opa sich wieder ausgraben können und eines Tages nach Hause zurückkehren?«
Diese Frage richtete der kleine Jakob an seine schwarz gekleidete Mutter, als zeitgleich der Sarg vorsichtig in die ausgehobene Grube hinuntergelassen wurde und ein Geistlicher seine Worte der Trauerzeremonie beitrug.
»Nein mein Schatz. Opa ist jetzt an einem anderen Ort. Einem besseren Ort. So ist nun mal der Lauf der Dinge«, sagte sie, während eine einsame Träne auf ihrer Wange verlief. Dann zog sie den kleinen Jakob etwas an sich. Verträumt und sich im kindlichen Dasein noch nicht ganz bewusst, wohin die Reise von Opa nun eigentlich gehe, und die Tatsache, dass er ihn nie wieder sehen würde, starrte Jakob auf den kleinen heranfahrenden Bagger, der für das endgültige Zuschütten des Grabes zuständig war.
Nachdem die Beerdigung vorüber gewesen war und alle Angehörigen dem Ort der letzten Ruhestätte den Rücken zuwendeten, begann sich das zuvor trübe Wetter nun - fast schon in symbolischer Weise – in aufkommenden Regen zu verwandeln. Mama zückte sofort den Regenschirm hervor, nahm mich an der Hand und auch wir verließen schließlich den Friedhof, wobei manch einsamer Regenfluss am Wegesrand versickerte.
Einen allerletzten Blick warf der kleine Jakob noch zurück in die trübe Ferne, in der sich die Begräbnisstätte befand. Sein dem Regen lauschender Grabstein wurde zu einem Teil dieses Ortes. Mach es gut, Opa.
...
Und nun halten Sie schon einmal Stift und Kugelschreiber bereit, damit ich Ihnen eine kleine Geschichte erzählen kann ...
Damals, am Tag von Opas Beerdigung war ich sieben Jahre alt, und ich kann mich noch sehr genau an Tag von Opas Abschied erinnern. Der Tag, an dem der Tod sozusagen an der Tür klopfte, kam damals völlig unerwartet über uns herein, und das, obwohl ihm nach ärztlicher Angabe stets ein noch langlebiger Gesundheitszustand nachgesagt worden war. Genauso bei Oma Gertrud, die übrigens früher verstarb, als ich noch jünger (ein zweijähriger Windelträger) gewesen war. Um Lebenserwartungen vorherzusehen, würde es hiernach gehen, kann anscheinend genauso gut eine Münze geworfen werden ...
Großvater hatte wenige Stunden vor seinem Tod wie immer seine Lieblingsbar aufgesucht, um sich ein paar Drinks zu gönnen. Bier, Bier und Bier war, was ihn bis zum Ende seiner Tage glücklich und zufrieden stimmte. Als er dann eines Abends zurückkehrte, zur Tür hereinkam, kippte er tot um. Einfach so. Dabei riss er noch eine von den pinken Gardinen mit sich, die immer so grässlich aussahen, um genau zu sein. So nahm es nun mal seinen Lauf.
Man könne nichts mehr tun, teilte uns die Ärzteschaft am selbigen Abend noch am Hörer mit. Er starb mit 69 Jahren.
Es war das Jahr 1967 (Opa Klaus musste damals 27 und Oma Gertrud 32 Jahre alt gewesen sein), als meine Großeltern sich ein bäuerliches Landhaus mit umliegendem Grundstück leisten und sich somit ihren langersehnten Traum erfüllen konnten. Die Rede ist von dem Landhaus, in dem ich als Enkelkind des Öfteren das Wochenende bei Opa Klaus verbrachte. Etwas abseits des Hauses befand sich die anliegende Scheune, in die ich als Kind zwar oft zum Spielen hineinwollte - es aber nie durfte – und die stets mit einem Schloss verriegelt war.
Als ich fragte, warum ich denn nicht hineindürfe, zauste Opa mir durchs Haar und meinte: darin hause ein Wesen, das sich ungern zeige und das sehr gefräßig sei. Hahaha. Was werden kleinen Kindern nicht alles für Gruselgeschichten erzählt, damit sie ja keinen womöglich mit gefährlichem Arbeitsgerät voll stehenden Ort betreten. Das wäre wohl der naheliegendste Gedanke.
Doch angenommen handelte es sich wirklich nur um Arbeitsgerät oder sonstiges Gerümpel, an dem sich der Enkel nicht verletzen solle ... Wieso konnte ich dann meinen Großvater einige Male vom Fenster heraus beim Transport von prallgefüllten Plastiksäcken beobachten? Wie er damit innerhalb der Scheune wie hinter einem schwarzen Vorhang verschwand, zeitlich immer dann, wenn ich mich zufällig fernab der Scheune befand? Einmal stieß ich auf wenige getrocknete Blutflecken an der Scheune sowie Federn am Boden, die ich laut meinen gegenwärtigen Erinnerungen als Hühnerfedern einschätzen würde.
Ein anderes Mal spielte ich gerade Ball im hinteren Hof, dabei stieß ich zufällig auf etwas Bizarres. In den hinteren Mülltonnen lagen seltsamerweise randvoll irgendwelche Knochen von Klein oder Geflügeltieren. Es erschien mir merkwürdig. Es erinnerte mich an das, was ein hungriges Raubtier übriglassen würde, nachdem es seine Beute bis auf die Knochen abgenagte. Als ich meiner Mutter davon berichtete, meinte sie schlicht, es handele sich wohl nur um alte Küchenabfälle oder vergessene Suppenknochen. Opa sei seit Omas Tod etwas wirr im Kopf geworden, und ich bräuchte mir keine Sorgen zu machen. Handelte es sich wirklich um geschlachtetes Hühnerfleisch, das in der Scheune gelagert und irgendwann vergessen worden war? Falls ja, dann wohl bloß auf die altmodische Art mittels eines Eisblocks wie Anno 1800, da ich mir kaum einen modernen Kühlschrank vorstellen kann, der dort gestanden haben soll.
Die alte Frau Holle drehte jedenfalls weiter an der Jahresuhr. Aus Winter wurde Frühling, aus Frühling wurde Sommer, aus Sommer wurde Herbst. Und als Großvater sich jenes Tages dazu entschloss, seiner geliebten Gertrud nachzugehen, rückte auch das Geheimnis des Schuppens in unerreichbare, düstere Sphären.
Das sage ich deshalb, weil Großvater in seinem Testament verfügt hatte, dass das Grundstück nach seinem Ableben an eine Ferienhäuser-Kette, die Interesse an der Lage zeigte, verkaufen zu wollen und dass der Erlös gleichmäßig unter den Vermögenserben verteilt werden müsste, darunter auch meine Mutter. Zu Lebzeiten hatte er immer wieder betont, dass das Anwesen aus unserem Besitz verschwinden müsse.
Besonders der Schuppen müsse weg von uns, hatte er stets betont ... Und so geschah es schließlich auch.
Zwei Jahre waren seit der Beerdigung vergangen, als sich plötzlich die Türklingel meldete. Mama machte auf. Dort stand ein seltsamer Typ mit altmodischer Melone und einem Trenchcoat. In den Händen hielt er einen seltsam aussehenden, schwarz-rot gestreiften Koffer.
»Mein Name ist Rainer Weiß. Ich bin Vertreter der Immobilieninstandhaltung der Ferienhäuser-Kette und bin für die ehemalige Wohnung Ihres, bedauerlicher Weiße, von uns gegangen Vaters zuständig«, erklärte er mit einer geheimnisvollen Stimme.
Er hob meiner Mutter den Koffer entgegen und erklärte: »In diesem Koffer fanden wir etwas, mit dem wir nicht wussten, wie damit zu verfahren sei, da es Ihr Vater nirgends gelistet hatte. Wir dachten uns, dass der Inhalt des Koffers vielleicht etwas für den kleinen Jakob wäre und wir es doch am besten dem Enkel des Großvaters überreichen sollten, bevor es irgendwo im Gerümpel untergeht, was schade wäre.«
Meine Mutter fragte, wo er sie gefunden hatte, und er antwortete, dass er sie im alten Schuppen gefunden hatte. Daraufhin blies draußen ein ziemlicher Wind, der die Windräder im Blumenbeet, die sich hinter dem unbekannten Mann befanden, zum Drehen und Klappern brachten.
Bevor sie den Koffer öffnen konnten, verabschiedete sich der Mann schnell und meinte: Er müsse nun zum nächsten Termin und sei spät dran.
Mit einer Hut zückenden Geste ließ er Mama mit verwundertem Gesichtsausdruck und dem Koffer in den Händen an der Türschwelle zurück, während der Wind weiterhin um das Haus heulte und sich das klappernde Windrad im Beet gar nicht mehr zu beruhigen schien.
Mit skeptischem Blick auf den Koffer gerichtet, trat sie zurück in den Eingangsflur.
Sie rief mich zu sich: »Jakob? Schatz, kommst du mal kurz her?«
Ich stürmte heran. Meine erste Frage, die aus mir herausschoss, war: »Was ist das da für ein Koffer?«
Sich den Koffer skeptisch in den Händen umher drehend sowie diesen genau begutachtend, fragte mich Mama, meiner Frage vorerst keine Beachtung schenkend: »Jakob ... Hast du in letzter Zeit draußen beim Spielen irgendwo einen seltsamen Mann mit Anzug und Hut bemerkt?«
Einen komischen Mann hatte ich draußen und auch sonst wo nie bemerkt, also verneinte ich die Frage. Auch hatten wir diesen Koffer nie zuvor schon mal irgendwo gesehen, geschweige denn den unbekannten Inhalt. Was sich darin wohl befinden mochte?
»Jakob, ich hoffe mal sehr, dass darin keine Bombe versteckt ist und niemand einen Anschlag auf uns geplant hat«, sagte sie mit sarkastischem Unterton, während sie ihre Finger schon am Verschluss ansetzte, unter dem Vorhaben; den Koffer gleich zu öffnen. Während der Verschluss des Koffers bereits einmal zu knacken begann, suchte ich mir Deckung und warf mich, während ich mir die Ohren zuhielt, Schutz suchend zu Boden. Um im Falle einer tatsächlichen Bombe, gewappnet zu sein. Was bei einer echten Explosion selbstverständlich auch nichts mehr bringen würde.
Nach einem weiteren Knacken sprang der Oberdeckel schließlich auf. Kein Anschlag. Keine Explosion. Glück gehabt. Voller Neugierde wollte ich wissen, was sich in dem Koffer befand.
Mama griff in den Koffer. Sie holte etwas heraus, ich sah es noch nicht. In dem Koffer befand sich ein sorgsam platziertes Stofftier. Um ehrlich zu sein, sah es nicht sonderlich schön aus. Es sah sehr bizarr aus. Es sah wie ein Hund aus - nur ohne Ohren. Über dessen Gesicht zog sich ein breites Grinsen, das schon fast bis nach hinten ragte. Das Design des Stofftieres wirkte so, als wären die Erschaffer mit der Intention vorangegangen, etwas besonders Kinderfreundliches erschaffen zu wollen, doch wirkte es eher gespenstisch und nicht kinderfreundlich. Mama hob es mit fragwürdigem, teils angewidertem Gesichtsausdruck in die Höhe. Sie sah es sich genau an. Sie entdeckte einen Eingang am Plüsch und schob die Hand rein. Das ohrenlose Stofftier stellte sich als eine Handpuppe heraus.
Sie begann damit, ein paar Handbewegungen mit ihr zu machen, was das Maul der Puppe auf und zu schnappen ließ. Die Bewegungen verliehen der Puppe eine noch bizarrere, noch mehr verstörende Note.
»Was für ein scheußliches Ding! Ich werde es wohl eher gleich entsorgen«, fasste Mama den Entschluss. Doch mein damaliges ich protestierte dagegen.
»Ich finde die Puppe aber cool, bitte lass mich sie behalten!«
Mama wunderte sich über meinen Geschmack. Sie bot mir als Alternative sogar an, eine bessere Puppe, eine schönere Puppe, zu kaufen. Doch genau diese seltsame Handpuppe gefiel mir und ich wollte sie behalten. Was Mama schließlich einwilligen ließ. Sie drückte mir den Koffer als auch die Handpuppe entgegen, zauste mir durchs Haar und wünschte mir viel Spaß mit der Puppe. Jene Handpuppe, welche angeblich aus Opas mysteriösen Schuppen stammte ...
Es war später am Abend. Mich selbst im Spiegelbild betrachtend war ich mir dabei, die Zähne zu putzen. Die Schlafenszeit war hereingebrochen. Die Handpuppe oder besser gesagt den komischen Hund mit rundem Kopf und fehlenden Ohren lag ich zuvor am Rande des Waschbeckens ab, wobei seine schwarzen Perlaugen mir entgegen schielten ... In ganz steriler Weise … Und irgendetwas ... Irgendetwas faszinierte mich just in diesem einen Moment am dümmlichen Gesichtsausdruck der Puppe. Als ob die Welt kurzzeitig den Atem anhielt.
Ich stülpte mir »Mr. Dingles« über den Arm. Das war der Name, der auf der Innenseite des Koffers stand. Diesen Namen gab der Puppe, und ich starrte ihr für einen kleinen, anhaltenden Augenblick tief in die Augen. Ich verlor mich dabei selbst in Gedanken.
Ja. In tief fern liegende Gedanken ...
Dunkle Gedanken ...
Wie in Trance ...
Der Fernseher flimmerte und brabbelte im Wohnzimmer vor sich hin. Mama lag auf dem Sofa. Die Aufmerksamkeit ganz auf den Röhrenfernseher gerichtet. Auf einmal schoss etwas hervor: »HAAHR HUAAARR! Duu wiiiirst jeeetzt GEEFRESSEN!«
Mama erschrak als ich hinter dem Sofa versteckt, plötzlich nach oben sprang und Mr. Dingles an ihr mit dem Stoffmaul herumbeißen ließ. Mit einem darauffolgenden Lächeln sagte sie: »Jakob! Es ist längst Schlafenszeit! Ab ins Bett mit dir! Du kannst Morgen weiterspielen.«
Nach diesen Worten rannte ich mit meinem neuen Freund Mr. Dingles (der immer noch meinen Arm schmückte) zurück in mein Zimmer; ich flog förmlich ins Bett. Selbst den Pyjama zog ich mir fast noch im Flug über, wobei ich noch paar kindische Laute von mir gab, mit der übergestülpten Puppe.
Bevor ich endgültig Schlafen ging, stand ich nochmal auf und verstaute meinen Kumpel wieder in seinem Koffer. Es dauerte nicht lange, ehe ich einschlief.
Leider begannen für mich damals die Dinge von nun an unheimlich zu werden. Denn wissen Sie: Kinderaugen sehen die Dinge oftmals noch ziemlich klar, und sie haben noch diesen Zugang zu anderen, vielleicht auch düstereren Welten. Welten, die ihre Mauern und Tore für Erwachsene längst verschlossen haben und sich gleichzeitig wiederum bei den Kindern eines Tages verschließen werden, sobald sie zu Erwachsenen geworden sind.
Zumindest ist dies meine Theorie.
Doch nun weiter im Text.
Es erfolgte Stille. Egal ob Flur, Wohnzimmer, Badezimmer, Keller, Dachboden oder meinem Kinderzimmer: alle Räumlichkeiten waren in nächtlicher Ruhe getränkt. Einzig das Ticken der alten Kaminuhr im Flur war zuhören. So hielt es sich eine Zeit lang in der nächtlichen Stille bis ... Bis ein seltsames Geräusch zu hören war ... erst kaum hörbar. Dann immer etwas lauter. Nach einer Weile war es klar zu hören. Da war etwas ... Versteckt in der Dunkelheit des Hauses.
»Auf und zu.« »Auf und zu.« »Auf und zu.« »Klick, wumms.« »Klick, wumms.« »Klick, wumms.« »Näher.« »Näher.«
»Noch näher.«
Es ist hier: »Wumms!!!«
Ich wurde von seltsamen Geräuschen wach. Sie hörten sich an, als würde etwas gegen die Wand im Kinderzimmer stoßen - immer wieder. Vielleicht waren es nur die Restlaute eines Traumes. Vielleicht aber auch nicht. Mit halb schläfrigen Augen machte ich das Nachtlicht an. Ich starrte hinüber, zum Koffer; zum Schlafplatz von Mr. Dingles.
Der geschlossene Koffer lag unberührt im hinteren Teil der Kommode am selbigen Fleck. Ich wunderte mich, rieb mir die verschlafenen Augen. Doch schien alles in meinem Zimmer normal wie immer zu sein. Da ich nichts vorfand, schlüpfte ich langsam wieder zurück ins Bett, zog die Decke über die Schultern und dreht mich auf die Seite.
Als ich dies tat, erschrak ich. Denn, als ich mich herumdrehte, trat plötzlich Mr. Dingles grinsendes Gesicht Millimeter gegen mein eigenes Gesicht. Seine künstlichen Perlenaugen starrten mich wie immer dümmlich an. Abermals schlug ich die Bettdecke bei Seite und schaltete diesmal das große Licht an, was das ganze Zimmer nun hell werden ließ.
»Ich habe dich doch eben erst im Koffer verstaut, Mr. Dingles! Was machst du plötzlich hier?« Ich wunderte mich, während ich die gräuliche, flauschige Handpuppe wieder in den Koffer legte.
Der Mittag des nächsten Tages war hereingebrochen. Die Sonne schien. Ich saß gerade am Mittagstisch und hatte einen Teller Gemüsesuppe vor mir stehen und – wie sollte es auch anders sein – befand sich der gute Mr. Dingles bei mir, mein treuer Begleiter. In der Brühe zogen diverse Kartoffel und Gemüse-Stücke langsam ihre Bahnen. Die frische Suppe dampfte und es roch sehr gut.
»Mama! Mr. Dingles hätte gern auch was zu essen! Das hat er mir gerade gesagt!«
Mit mehrfachen Handbewegungen fuchtelte ich mit der Puppe am Esstisch herum. Mr. Dingles Maul schnappte dabei wie wild auf und zu. Meine Mutter saß am anderen Tischende und beobachtete mit genervtem Blick das »Puppentheater«, welches von mir dirigiert wurde. Ich war als Kind sehr energiegeladen und hatte oftmals meine euphorischen Ausbrüche. Und ein solcher Moment schien auch jetzt gekommen zu sein. Weiterhin gab ich am Esstisch nervtötende Geräusche von mir, und ich gautschte auf dem Stuhl vor und zurück, was ein metallisches Quietschen am Boden erzeugte. Zwischen all den Faxen versuchten die Worte meiner Mutter zu mir durchzudringen.
»Jakob, leg jetzt endlich die Puppe bei Seite und iss!«
Ich zappelte fast schon wie ein Fisch im Netz und als einzige Antwort, als kindische Antwort, kam nur ein: »Haaahr! Nein, nein! Ich will nicht! Mr. Dingles und ich wollen nicht! Huuuarr! Haaaaaahhhr! Du wiiiirst geeefreseeen!!«
Meine Theatralik ging so lange, bis ich den vollen Suppenteller mit einem Wisch vom Tisch fegte. Der Suppenteller schlug am Boden auf, zerbrach in seine Einzelteile. Die Brühe dehnte sich langsam über den Boden aus, wobei ich abrupt mit dem Gezappel innehielt. Ich starrte nur noch dumm wie ein Auto auf die am Boden liegenden Scherben des Tellers.
Mama bekam vor Zorn einen hochroten Kopf und posaunte: »Jakob! Es reicht!« Sie nahm mir Mr. Dingles weg und schickte mich auf mein Zimmer. Dort sollte ich über mein Fehlverhalten nachdenken.
Ich saß auf meiner Bettkante, in einer nach Vorn geneigten Haltung. Die Ellbogen auf dem Schoss abgestützt und mein grübelndes Gesicht in den Händen abgelegt. So saß ich etwa zwanzig Minuten, bis mich ein spontaner Impuls auf meine Matratze starren ließ.
»Die dumme alte Hexe! Jetzt hat sie mir Mr. Dingles weggenommen.« Ich strich, abermals in Gedanken versunken, über die unordentlich-platzierte Bettdecke neben mir. An einer Stelle der Decke blieb meine Hand stehen. Eine seltsame Wölbung oder Widerstand machte sich darunter bemerkbar ... Etwas war unter der Decke. Also zog ich neugierig die Bettdecke mit schnellem Handgriff zur Seite. Ich konnte es kaum glauben: dort lag seelenruhig Mr. Dingles. Meine geliebte Handpuppe.
Ich kann Ihnen versichern: ich war damals zu Einhundert Prozent Zeuge davon, wie Mutter Mr. Dingles in Gewahrsam nahm (ihn in den Küchenschrank steckte). Wie kam er also in so kurzer Zeit zurück unter die Decke? Wie kam er überhaupt unter die Decke? Wie war das möglich? Sicher … Über all jene Fragen machte ich mir als Kind keinerlei Gedanken.
Für mich zählte in diesem Moment nur eines: Den guten, alten Mr. Dingles wieder bei mir zu haben und in den Arm nehmen zu können. Oder anders gesagt, über den Arm.
Ich rief: »Mr. Dingles! Da bist du ja wieder! Ich habe dich schon vermisst!«
Sofort zog ich ihn mir über. Doch etwas war diesmal komisch ... Etwas war anders ... Etwas fühlte sich nicht richtig an. Und dies nicht nur rein intuitiv. Auch im wahrsten Sinne physisch.
Das Innenfutter der Puppe fühlte sich so ... schleimig an, und in meinem Zimmer roch es auf einmal nach nassem Hund. Ich ließ mit mulmig aufkommendem Gefühl meinen Blick übers Zimmer schweifen, ehe ich wieder die Handpuppe beäugte. Ich war so froh, Mr. Dingles wieder bei mir haben zu können, dass mir jenes Gefühl im Inneren der Puppe, in jenem Augenblick nichts ausmachte. Sein Gesichtsausdruck war der gleiche wie immer: dümmlich, steril. Dazu das breit-gezogene Lächeln eines Mischwesens aus Hund und einfach etwas Seltsamen. Wie immer wollte ich ihn unter dem Antrieb meiner Hand zum »Reden« bringen, was mich bis jetzt immer so zum Lächeln brachte. Also öffnete ich langsam das Mundwerk jener Puppe.
Als ich den Hundemund aufschnappen ließ, betrachtete mit Entsetzen eine Reihe spitzer, langer sowie furchteinflößende Reißzähne. Wie aus dem Nichts. Diese spickten plötzlich aneinanderreihend das gesamte Innenleben des Maules.
Mit erschrockenem Blick donnerte ich Mr. Dingles an die Zimmerwand. Mein Herz pochte wie wild. Er lag nun regungslos am Boden. Mit der Rückseite zu mir geneigt, sodass sein Gesicht nicht mehr sichtbar zu mir zeigte, sondern sich wie beleidigt von mir abwandte. Ungläubig saß ich wie versteinert auf der Bettkante. Ich starrte auf die dort liegende Handpuppe. Als die Schockstarre nach und nach abließ, und ich langsam wieder zu klarem Verstand zurückfand, erhob ich mich und bewegte mich langsam auf die Handpuppe zu ... Furcht und Neugierde befanden sich dabei im Schwitzkasten - wobei die Neugier gewann.
Schließlich stupste ich ihn vorsichtig mit den Zehenspitzen an. Dabei machte ich so ein ernstes Gesicht, dass die Falten zwischen meinen Augenbrauen zusammentrafen. Ich stupste ein weiteres Mal … Und nochmal … Die Handpuppe rollte dadurch willkürlich auf den Rücken zurück. Das dümmlich sterile Gesicht aus Stoff glotzte einfach nur. Ich wunderte mich. Von Reißzähnen war jetzt absolut nichts mehr zu sehen.
Ich hob ihn auf und nahm ihn wieder an mich. In dem einen Augenblick war mir etwas mulmig zu mute. Im anderen tat ich dieses Erlebnis einfach als Einbildung ab. Ich schlüpfte mit der Hand wieder in die Puppe. Es fühlte sich auch nichts mehr sonderbar an. Alles war wieder wie vorher. Weich und plüschig.
Im späteren Tagesverlauf hob Mama den Arrest wieder auf – aber, dass ich Mr. Dingles vor wenigen Stunden seltsamerweise in meinem Zimmer wiederfand, statt, dass er sich doch eigentlich im hohen Küchenschrank hätte befinden sollen - hätte auch jetzt noch befinden sollen -, worin ihn Mama steckte, behielt ich vorerst für mich.
Ich kann Ihnen versichern: ich wusste damals nicht einmal ansatzweise, welches Schreckensszenario mir noch bevorstehen und welches Grauen mich noch erwarten würde ...
»Jakob, ich habe den Stubenarrest zwar wieder aufgehoben, aber das scheußliche Ding bleibt vorerst noch im Küchenschrank. Denn über den zerbrochenen Teller bin ich immer noch wütend. Es war ein wertvolles Erinnerungsstück«, gab sie von sich, während wir zum Abendessen am Tisch saßen.
In Gedanken versunken und mit dem Besteck in den Makkaroni mit Käse herumstochernd, gingen mir abermals die Bilder von diesen Zähnen durch den Kopf. Diese grauenerregenden Reißzähne ... Die mir bedrohlich entgegen funkelten ... Hatte ich mir das Ganze wirklich nur eingebildet? Aber die Erinnerung daran ... Sie waren so frisch ...
So klar und greifbar ...
Und so ... real.
»Was das nur gewesen sein konnte? War es Einbildung oder nicht?« Dies ging mir als einziges durch den Kopf.
»Fressen ...werde dich ...«
»Eine Stimme aus ferner Distanz ... Es spricht etwas aus ferner Distanz zu mir ... Kaum hörbar ... Ich höre es, sacht. Ja ... schreiben Sie es bitte auf.
Notieren Sie alles«
»Jaco ...«
»Jakob ...?«
»Jakob! Hörst du mir zu?«, fragte mich Mama mit Nachdruck. Es riss mich wieder aus den Gedanken zurück in die Gegenwart. Ich antwortete genervt: »Ja, verstanden.« Hatte ich zwar durch meine Gedankenabwesenheit nicht wirklich, doch was denn nun schon wieder los war, interessierte mich zu dem Zeitpunkt nicht. Na ja, bis ich hörte um was es ging. Dann interessierte es mich doch. Sogar sehr.
»Fressen ... werde sie ... im Weg ...«
Mama lächelte und sagte: »Gut. Da du so ein trauriges Gesicht ziehst, und ich dies nicht ertragen kann, darfst du Mr. Dingles wieder zurückhaben. Aber keine Faxen mehr mit ihm am Tisch! Verstanden?«
Nach dieser Aussage blieben mir fast die Makkaroni im Halse stecken, und kaum, dass ich vom Stuhl hervor preschen konnte - um zu verhindern, dass sie den Schrank leer vorfinden würde – stand sie bereits vor dem Schrank und tat genau dies, was ich eben noch zu verhindern versuchte: Den Küchenschrank öffnen und nichts darin vorfinden.
Sie reagierte darauf mit einem: »Nanu? Wo ist denn die Puppe hin? Ich habe sie doch ganz sicher in den Schrank gelegt.«
Sie schwang die Küchenschranktür wieder zu. In Sicherstellung, die Puppe vielleicht nicht doch in ein anderes Fach verlegt zu haben, zog sie zwei, drei weitere Küchenschubladen hervor. Doch auch darin war nichts. Natürlich war da nichts. Ich wusste ja selbst nicht, wieso das alles passierte. Mama stemmte die Hände in die Hüften und stand dabei völlig ratlos vor dem Küchenschrank, mit dem Rücken zu mir gerichtet.
Ich wollte die Dinge nicht noch komplizierter machen, also machte ich ein falsches Geständnis: »Mama, ich war's! Ich habe Mr. Dingles zuvor herausgeholt! Du hast es nur nicht mitbekommen. Ich stürmte vorhin, vor wenigen Momenten, an den Küchenschrank, bin über die Ablage geklettert und habe mir Mr. Dingles aus dem Schrank genommen. Mr. Dingles liegt jetzt in seinem Koffer.«
Mama drehte sich mit einem überraschenden Ausdruck zu mir um und sagte: »Ach so ist das! Mensch! So leise und schnell ... erstaunlich! Wie ein kleiner James Bond! Aber gut, dass du ehrlich zu mir warst.«
Da sie die Notlüge annahm, atmete ich einmal tief durch. Ich aß den Teller leer, stellte diesen zum anderen dreckigen Geschirr auf die Spülmaschine und verließ schließlich die Küche. Ich begab mich in Richtung meines Zimmers, in dem eine einsame Sprechpuppe auf ihren Besitzer wartete und still und leise ausharrte.
»Töten ... Blut ... Sie muss weg von uns Jakob ...«
Es war wieder mitten in der Nacht. Ich schlief seelenruhig und lag im Bett meines Kinderzimmers. Allerdings wurde ich irgendwann später wieder von seltsamen Geräuschen aufgeweckt ... Es waren dieselben Geräusche, wie ich sie schon aus der kürzlichen Nacht vernehmen konnte. Es war ein sich wiederholendes Klicken mit einem dumpf-folgendem Schlag.
»Klick ...Wumm!«
»Klick ...Wumm!«
»Klick ...Wumm!«
Es kam eindeutig aus der dunklen Ecke meines Zimmers … Es schien von Mr. Dingles Koffer auszugehen. Ich spürte, dass meine Schlaftrunkenheit langsam nachließ. Dann saß ich aufgerichtet in meinem Bett. Die Bettdecke war dicht an mich gezogen. Ich wollte das kleine Nachtlicht anschalten, um nachzusehen, woher diese Geräusche kamen ... Doch das Licht ging seltsamerweise nicht mehr an - auch nach mehreren Versuchen nicht.
»Klick ...Wumm!«
»Klick ...Wumm!«
»Klick ...Wumm!«
Meine Augen gewöhnten sich nach und nach an die Lichtverhältnisse. Das Mondlicht, welches durch die Rollos schien, sorgte für einigermaßen Sichtbarkeit. Dieses Geräusch, das mich eben noch aus dem Schlaf gezogen hatte, war wieder erloschen. Die Ruhe überzog erneut das Zimmer. Irgendetwas beunruhigte mich. Etwas im Verborgenen ... Eine Dunkles ... Nichts greif oder Fassbares. Ich ließ meinen Blick durch das stille Zimmer schweifen. Mein Puls beschleunigte sich; meine Atmung nahm zu und ich zog meine Knie schützend näher zu mir heran.
Mein Blick schweifte so lange durch den Raum, bis dieser sich auf die Ecke des Zimmers - in der sich jener Tragekoffer befand – fest-fixierte.
Meine Atmung wurde schneller und schneller.
Etwas unendlich Böses und Grausames kam mir entgegen. Zumindest dachte ich damals, dass es nur das sein konnte.
Meine Augen begannen sich zu weiten, als mit einem finalen »Klick!« und einem geschwungenen »Wumms!« schlagartig der Koffer aufsprang, sodass er gegen die Zimmerwand stieß. Mein Atmen schlug schon fast in regelrechtes Luftringen über, und ich bekam es langsam ernsthaft mit der Angst zu tun. Erst recht als ich sah, wie sich etwas innerhalb des Koffers langsam aufrichtete und es sich daraus langsam erhob. Wie ein Vampir aus seiner Gruft.
Dieses Etwas war deutlich zu erkennen ... Mr. Dingles gewesen. Mein Herz drohte fast in meiner Brust zu zerreißen. Ich wusste nicht, wie ich mit dieser Situation umgehen sollte, also blieb ich einfach stillsitzen; dabei wie gebannt auf jenes Szenario blickend, das sich gerade direkt vor meinen Augen abspielte. Alles in mir bebte. Und als Mr. Dingles nun völlig aufrecht, innerhalb des weit offenen Koffers stand und mich direkt anstarrte, lief es mir eiskalt den Rücken herunter. Er starrte still und regungslos aus der Dunkelheit direkt zu mir rüber. Aus der hinteren Ecke meines Zimmers. Seine schwarzen Perl-Augen stachen wie zwei Diamanten aus der Düsternis.
Wenn das absolut Böse, Satan, die Hölle und damit alles Unheil und Finstere der Welt existieren sollte, dann würde sich dies, im damaligen Moment, vollständig im Blick jenes Wesens manifestiert haben ...
Die dämonische Handpuppe fing an breit zu grinsen. Sie riss dann ihr Maul so weit auf, dass sie sich selbst das Fell abzuziehen begann, von oben nach unten, und es sich langsam vom Kopf herunter schob ... Bis eine rötlich-nasse Fleischmasse zu Vorschein kam, die an Hirnmasse erinnerte, wobei der vorherige Gesichtsteil nicht mehr zu bestimmen war.
Mr. Dingles lange Reißzähne ragten plötzlich nicht nur aneinandergereiht aus seinem Maul, sondern spickten sich nun wie ein grauenhafter, deformierter Seeigel komplett um seinen Schädel - oder das, was von ihm übrig blieb. Tränen schossen mir in die Augen, und ich konnte nicht anders, als mich zu übergeben.
Durch diesen grauenvollen und albtraumhaften Anblick, fiel ich gnädiger Weise schließlich in Ohnmacht.
Wo der ganze Albtraum für mich nun endlich endete.
Gott sei Dank.
»Bevor meine Sicht verschwamm, kurz vor meiner Ohnmacht, sah ich noch Mr. Dingles aus dem Koffer herausspringen … Er verschwand in der Dunkelheit. Dann dieser Markerschütternde Schrei. Kein gewöhnliches Schreien ... Es war ein Schreien des sich ankündigen Todes. Des unausweichlichen Todes. Arme Mutter ... Mr. Dingles mochte sie wohl einfach nicht.« Dies sind die Worte eines Mannes, der im Schatten sitzt und sich noch nicht zu erkennen gibt.
Jener Mann lehnt sich nun auf seinem Stuhl gemütlich nach hinten; dabei lässt er seine Geschichte mit den folgenden finalen Worten abrunden: »Tja … So hatte sich das Ganze damals bedauerlicherweise zugetragen.«
Die ergraute Wolkendichte klärt auf und ein heller Lichteinfall strahlt durch das hohe Gitterfenster, was die Gesichter nicht nur einer, sondern zweier Personen aus dem schwindenden Schatten heraus erkennbar macht sowie den kleinen Raum – in dem sie sich gegenübersitzen – gänzlich mit Licht durchflutet.
Auf einer Seite des Tisches sitzt ein Mann mit weit sichtbaren Geheimratsecken und Brille, der sich mit aufmerksam-ernster Mimik etwas auf den Notizblock notiert, was deutliche Falten auf seiner Stirn bildet. Er trägt ein Hemd mit Namensschild »Doktor Großmiller«.
Ihm gegenüber sitzt ein etwas jüngerer Mann. Er trägt einen weißen Overall und hat schulterlange, ungepflegte Haare. Der jüngere Mann hat einen süffisanten Ausdruck mit Blick, der gefühlt in alle und doch in keine Richtungen geht; dazu trägt er eine Handpuppe, die über dessen Arm gestülpt ist. Sie sieht aus wie ein Hund ohne Ohren. Sie hat einen dümmlichen Gesichtsausdruck und einen breit lächelnden Mund. Hinten auf der Puppe ist klein »Mr. Dingles« aufgedruckt. Der junge Mann fängt an seine Handpuppe sorgsam zu streicheln und eigenartig zu lächeln.
Der Doktor legt den Notizblock bei Seite. Dann nimmt er die Brille ab, um sich das Nasenbein zu massieren, als wäre es eine erholsame Geste in Miniaturform. Der Doktor gibt daraufhin folgendes zur Ansprache: »Jakob ... jedes Mal, wenn wir hier sitzen und unsere Stunde abhalten, endet ihre Geschichte immer an derselben Stelle. Wir kommen erst dann eine Stufe weiter, und können ihre Medikamentendosierung auch erst dann eine Stufe herabsetzen, wenn sie endlich verstehen, was sie ihrer Mutter angetan haben.«
Der Doktor schaut hoch zum Gitterfenster, wo das helle Tageslicht hereinströmt. Dabei bilden sein ausgestreckter Daumen und seine restlichen vier Finger eine Maske, die eine von unzähligen kräftezehrenden Patientengespräche gezeichnete Mimik kaschieren soll. »Sie müssen die Tat akzeptieren und zur Einsicht gelangen. Sie müssen verstehen und begreifen. Solange sich bei ihnen diese Evidenz noch nicht abgezeichnet hat, sind sie noch Lichtjahre von einem möglichen Resozialisierungsprogramm entfernt. So leid es mir tut«, sagt er.
Der Patient Jakob Windstein gegenüber, nimmt die Worte kaum zur Kenntnis. Er streichelt viel lieber behutsam seine Handpuppe.
Dann gibt er allerdings doch etwas von sich: »Aber Dok ... Etwas anderes werden sie von mir nicht hören. Es war einzig Mr. Dingles Wille, weshalb es auf diese Weise enden musste. Er mochte sie nicht und wollte wohl lieber mit mir zusammen sein.«
Doktor Großmiller neigt sich nun mit ernster Mimik nach vorne, was den folgenden Worten mehr Gewichtung verleihen soll: »Jakob, Sie haben auf ihre eigene Mutter im Schlaf über dreißig mal eingestochen. Sie haben den Leichnam teils wie ein verdammtes Steak verzerrt. Teils bis auf die Knochen abgenagt. Als die Polizei damals eintraf, stießen sie auf einen grauenhaften Anblick. Jener Anblick, was in diesem Haus passierte, war so fürchterlich, dass einer der Polizisten daraufhin den Dienst quittieren und sich in psychiatrische Behandlung begeben musste. Die DNA-Proben, die Bewertungen der Gerichtsmedizin ... alles weist unter glasklarer Beweisgrundlage auf Sie als sicheren Täter hin. Deshalb sitzen sie doch all die Jahre bedauerlicherweise schon hier, in dieser Anstalt. Dieses scheußliche Ding dort ... auf ihrem Arm … Es ist nur ein lebloses Stück Stoff! Es findet alles in ihrem Kopf statt! Begreifen Sie es doch bitte, Jakob.«
Der Doktor schnauft durch. Der Mann mit der Handpuppe schaut mit süffisantem Lächeln aufmerksam dabei zu.
»Nun gut. Für Heute sind wir dann wieder einmal durch. Wenigstens machen sie ein klein wenig Fortschritte, das ist gut. Wir sehen uns wieder in drei Wochen. Auf wiedersehen«, sagt Großmiller, woraufhin er seine Dokumente und Unterlagen unter den Arm klemmt und die weiße Sicherheitszelle verlässt, wobei ein junger Mann namens Jakob zurückbleibt, der mit seiner Handpuppe spricht und herumfuchtelt und wohl den Rest seines Lebens in den Vier Wänden eines Hochsicherheitstrakts der speziellen Heilanstalt verbringen wird.
Der Doktor kehrt in sein Office zurück. Er schließt die Tür, setzt sich hin, und trinkt erschöpft aus der Wasserflasche. Danach lehnt er sich in seinem Bürostuhl gemütlich nach hinten. Auf den einen Moment betätigt er den Knopf, um die Tonaufzeichnung nochmals abzuspielen, dabei seinen Kopf in den Nacken legend. Auf den anderen Moment schaut er auf den bereits verblichenen Zeitungsartikel, der auf seinem Schreibtisch liegt. Letztlich schließt er die Augen und faltet die Hände über dem Bauch, im Ansatz zu einem Nickerchen.
Auf dem Artikel steht groß in reißerischer Aufmachung: »Kleinstadt unter Schock! - Mutter bestialisch von zwölfjährigem Sohn ermordet – von Dämonen besessener Kannibalismus?«
Der Doktor schläft nun tief und fest und gibt Schnarchgeräusche von sich. Und während draußen die Sonne scheint, läuft im Hintergrund das kratzige Geräusch des summenden Tonbands: »Das ist Mr. Dingles. Und er ist mein bester Freund!«