Deutsches Creepypasta Wiki
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Jonathan stand wie jeden Morgen auf, zog sich an und fuhr zur Arbeit. Er stempelte sich ein, grüßte den Rezeptionisten und betrat sein Büro. Er legte seinen Mantel ab, fuhr seinen Rechner hoch, holte sich aus dem Gemeinschaftsraum einen Becher Kaffee und begann einen Arbeitstag wie jeden anderen. Er hasste seinen Job.


Als junger Student hatte er noch gehofft, sich ausleben zu können, irgendetwas zu machen, was ihm Spaß machte, worin er gut war und was Geld abwarf – nicht so viel, dass er reich werden würde, aber genug für ein gutes, selbstbestimmtes Leben. Und jetzt? Nach dem BWL- Studium war er in dieser Firma versackt, in der er das selbe machte wie alle anderen auch, ohne etwas selbst bestimmen zu können, ohne Spaß, ohne Leidenschaft. Was er verdiente, reichte für ein gutes Leben, eine schöne Wohnung im besseren Teil der Stadt, für eine Mitgliedschaft im Fitnesstudio und für regelmäßige Barabende mit seinen Freunden aus dem Studium, auch wenn diese immer seltener wurden. Aber es war nicht das, was man sich als junger Mann versprach, frisch aus der Schule, bereit für das wilde Leben dass einem die Träume von der Zukunft anpriesen. Er öffnete einen Ordner auf seinem Desktop und lehnte sich in seinem ergonomischen Schreibtischstuhl zurück, in dem er seit mittlerweile drei Jahren jeden Tag acht Stunden seines Lebens verschwendete, ausgenommen die Wochenenden verstand sich. Der Kaffee schmeckte passabel, mittelmäßiger Filterkaffee. Eine sehr ökonomische Entscheidung der Firma, aber sonst nichts.


Lukas, sein großer, sportlicher Kollege aus dem Marketing, steckte seinen rothaarigen, blassen Kopf durch die Tür und grüßte fröhlich. „Morgen, John! Wie geht’s, wie steht's?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, war er wieder verschwunden. Das war also Lukas' Auftritt für heute. Ran an die Arbeit, sagte sich Jonathan und begann zu tippen. Die verstreichende Zeit bemerkte er nur an der zunehmenden Verspannung seiner Schultern. So ergonomisch die Arbeitsplätze auch gestaltet sein sollten, in der Realität waren sie nach vier Stunden unbequem. Er streckte sich und seine Schultern knackten, als sich die Gelenke entkeilten. Er schob sich auf seinem Schreibtischstuhl zurück, griff seinen Kaffeebecher und stand auf, um zur Pause in den Gruppenraum zu gehen. Auf dem Weg dorthin hatte er endlich mal wieder soziale Interaktionen, als Sandra aus seinem Nachbarbüro dazu stieß. Pünktlich wie der Glockenschlag gingen alle von ihren Schreibtischen an den Tisch in dem von Licht durchfluteten, anonymem Gruppenraum. Irgendjemand hatte Blumen auf den Tisch gestellt, Karl vom Controlling und Alexa aus irgendeiner anderen Abteilung saßen bereits mit einem neuen Praktikanten da und unterhielten sich über das letzte Wochenende. „Und, wie war deines so?“, fragte ihn Alexa nach einem in die Runde geworfenen „Mahlzeit“. „In Ordnung, bei dir?“, spielte er den Ball aus Belanglosigkeit zurück. Sie antwortete ebenso unverfänglich und die Unterhaltung plänkelte weiter vor sich hin.


Auf den Strich dreißig Minuten später erhob sich die Gruppe mechanisch und Jonathan nahm sich noch einen Becher Kaffee, um wieder an seinen Platz zu gehen. Er nickte Sandra noch einmal zu, dann war er wieder allein. Allein an seinem Platz in diesem Uhrwerk der Anonymität. Tick, Tack. Funktionieren. Arbeiten. Produktiv sein.

Nach zwei belanglosen, fremdgesteuerten Stunden stand Jonathan auf, nahm den Becher und holte sich noch etwas zu trinken. Als er sich mechanisch wieder setzte, die Hände auf das Keyboard legte und zu schreiben beginnen wollte, hielt er inne. Seine Finger verharrten über den Tasten, schwebten in der üblichen Stellung. Aber bewegen konnte er sie nicht mehr. Er runzelte die Stirn. Wackelte mit den Fingern, doch die Tasten berühren konnte er nicht. Verunsichert nahm er die Hände wieder weg, faltete sie und ließ die Gelenke knacken. Neuer Versuch. Dieses Mal verharrten die Fingerspitzen Millimeter über dem Plastik, doch berühren konnte er sie noch immer nicht. Er griff nach der Maus, schloss unsicher das Dokument und lehnte sich noch einmal zurück. „Verdammte Routine, hält einen gefangen und man merkt es nicht einmal, bis man hinausfliegt“, dachte er sich.

Nächster Versuch. Dieses Mal kam er sogar so weit, dass seine Finger die Tasten berührten, doch konnte er sie nicht hinab drücken. Es war, als hielte etwas – oder jemand – seine Hand fest, als wären die unsichtbaren Schnüre der Routine plötzlich zu kurz.

„Na, machst du Pause, oder kannst du plötzlich telepathisch tippen?“, frotzelte Karl durch den Türrahmen. Jonathan lehnte sich wieder zurück, erleichtert, der seltsamen Situation entronnen zu sein. „Hatte wohl 'nen Krampf in der Hand“, erklärte er lächelnd. Karl winkte noch einmal, dann war wieder weg. Wieder an die Arbeit, hieß es für Jonathan. Das gewohnte Klacken der Tastatur begleitete die nächsten Stunden bis zum Feierabend und der Vorfall, das Ausbrechen aus der Routine, war vergessen, oder zumindest in den Halbschatten seines Bewusstseins verdrängt.


Die Sonne neigte sich bereits dem Horizont zu, als er das Bürogebäude verließ. Er überquerte den halbvollen Parkplatz, schloss seinen silbernen Wagen auf und legte den Aktenkoffer auf den Beifahrersitz.

Wann war er eigentlich so zu einer Marionette geworden? Wann hatte er seine Träume verworfen? Er startete den Wagen und das Radio spielte einen der ewig selben Hits, die doch alle gleich klangen. Rückwärtsgang einlegen, Lichter an, Anschnallgurt. Er reihte sich in den Feierabendverkehr ein, folgte den anderen Autos vom Firmengelände auf die Straße. Der Wetterbericht verkündete gutes Wetter diese Woche, der Frühling sollte beginnen. Die Moderatoren waren fröhlich. Jonathan stand im Stau. Jemand hupte hinter ihm. Er lehnte sich zurück, drehte das Radio leiser und schloss für eine Sekunde die Augen. Als er sie wieder öffnen wollte, entzogen sich seine Lider seiner Kontrolle. Panik stieg in ihm auf. Das war nicht wie vorhin im Büro, jetzt konnte wirklich was passieren! Doch je stärker er sich konzentrierte, desto weniger vermochte er, seine Augen zu öffnen. Ein Hupen riss seine Konzentration wieder ins Außen und mit einem Schlag sah er wieder auf die Straße. Hinter ihm staute es sich und der Fahrer gestikulierte wütend. Jonathan gab Gas, beeilte sich, sich wieder dem Fluss des Verkehrs zu unterwerfen.


Zu Hause angekommen parkte er den Wagen, schloss seine Wohnung im zweiten Stock auf und schaltete das Licht ein. Dann stellte er seinen Sachen beiseite und setzte sich auf die Couch. „Endlich Zeit für mich“, dachte er und legte die Beine auf den Couchtisch. Was aber nun mit dem freien Abend anstellen? Wirkliche Hobbys hatte er nicht mehr, diese waren nach und nach seinem Studium und dann seiner Arbeit zum Opfer gefallen. Also schaltete er den Fernseher an, ließ sich von dem Programm berieseln, welches ein anderer geplant hatte, durchbrochen von Werbungen für Produkte, die er konsumieren sollte. Als sein Magen ihn mit einem Knurren daran erinnerte, dass er essen musste, stand er auf und öffnete den Kühlschrank. Er nahm den Käse, die Butter und die Wurst heraus. Zu kochen hatte er keine Lust. Dazu griff er nach einem Bier und schloss den Kühlschrank. Beim Schneiden des Brotes schweiften seine Gedanken wieder ab. Wollte er den Rest des Tages fernsehen? Eigentlich nicht, es lief ohnehin nichts Gutes. Aber was waren die Alternativen? Seine Hand schloss sich fester um den Griff des Messer, hob es wieder an und legte es an seine linke Hand, welche noch immer den Brotlaib festhielt. Er runzelte die Stirn, wollte das Messer wieder anheben, aber zum dritten Mal heute hatte nicht er die Kontrolle über seine Bewegungen. Nach einem kurzen Moment, in dem beginnende Panik sein Herz schneller schlagen ließ, entspannte sich seine Hand und das Messer fiel auf die Arbeitsplatte zurück. Es bereitete ihm Unbehagen, was heute passierte. Nicht nur machte es ihm Sorge, dass offensichtlich mit seinen Körper etwas nicht stimmte - wieder drängte sich ihm eine viel elemantarere Frage auf: Wann war sein Traum eines selbstbestimmten Lebens gestorben? Wann hatte er sich auf diese Bahnen, die die Gesellschaft ihm vorgaben, gezwängt?

Wenn er zurückblickte, hatte es immer etwas gegeben, was ihn beeinflusst hatte, klar. Niemand war frei von Einflüssen. Da waren seine Eltern gewesen, die ihn lange gelenkt hatten, ihn auf das Gymnasium schickten, zum Sport brachten und ihm ihre Werte weiter gaben. Seine Freunde hatten ihn zum Handball gebracht, seine erste Freundin hatte seine Liebe für klassische Musik geweckt. Weil er Fahrstunden genommen hatte, konnte er Auto fahren, weil er BWL studiert hatte, arbeitete er in seiner Firma. Weil er in der Firma arbeitete, blieben von 24 Stunden nur noch acht, die er nicht mit Arbeit oder Schlafen verbrachte. Und weil ihm nur noch so wenig blieb, hatte er keine Zeit für das, wovon er träumte. Er wollte ja, das Leben ließ ihn nur nicht. Er setzte sich wieder in Bewegung und ließ das Essen unfertig in der Küche stehen. „Warum tue ich das?“, fragte er sich, drehte er sich um und nahm seine Tätigkeit wieder auf, verbrachte einen ereignislosen Abend und legte sich schlafen, unzufrieden über den Tag, jedoch mit der Saat der Erkenntnis im Geist.


Der Wecker am nächsten Morgen rief Jonathans Halbschlaf-Routine auf dem Plan. Erst auf dem Gelände angekommen war er so richtig wach. Und erst dann fiel ihm auf, dass er kaum etwas von der Umgebung und dem Weg zur Firma mitbekommen hatte – Autopilot. Er machte sich vom Parkplatz aus auf den Weg zum Eingang, stempelte sich ein und wollte den Fahrtstuhl rufen. Doch wie vor ein paar Tagen waren die Fäden der Kausalität zu kurz. Seine Finger schwebten einige Zentimeter vor dem Knopf. Seine Stirn runzelte sich und er zog die Hand zurück, setzte neu an und versuchte wieder den Knopf zu drücken. Vergeblich. Zwar erreichte er den Knopf beinahe, aber seine Hand stoppte Millimeter davor. Wieder zog er die Finger zurück, atmete tief durch und setzte ein drittes Mal an.

„Morgen, John!“, rief sein Kollege, Martin ihm wie jeden Tag entgegen. Der kleine, dunkelhäutige Mann schien es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, ihn jeden Tag auf die genau selbe Art zu grüßen. Jonathan drehte sich um, hob die Hand zum Gruß und lächelte ihm zu. Dann gelang es ihm endlich, den Aufzug zu rufen. Im zweiten Stock angelangt, stieg er aus, lief zum Büro, setzte sich an seinen Platz und fuhr den Rechner hoch. Beginn der Arbeit. Er unterbrach das Tippen auf der Tastatur nur, um einmal zur Toilette zu gehen und sich in selben Zug einen Kaffee zu holen. Tabelle um Tabelle legte er an, füllte sie mit Zahlen auf, rechnete ab. Nach ereignislosen vier Stunden kam seine ereignislose Pause. Er holte sich einen weiteren Kaffee, erfüllte die Smalltalkmuster mit seinen Kollegen und dann war die halbe Stunde auch wieder um. Sein Herz setzte einen Schlag aus, als er sich wieder an die Arbeit machen wollte. Anstelle der Tabelle, welche er zuletzt bearbeitet hatte, zeigte sein Bildschirm eine Seite an vollkommen leeren Zeilen und Spalten. Alles, woran er die letzte Stunde gesessen hatte, war weg. Irgendjemand musste an seinem Platz gewesen sein – aber wer? Seine Kollegen hatten weder einen Grund, noch hätten sie Zeit gehabt sein Büro zu betreten, nachdem er es verlassen hatte. Wilde Beschuldigungen hätten keinen Sinn, also musste Jonathan annehmen, dass es wohl ein Softwarefehler war. Sollte er in der IT Bescheid geben? Oder vielleicht hatte er es selbst aus Versehen alles gelöscht? Das war leider viel wahrscheinlicher, nach allem was in den letzten Tagen passiert war. Er machte sich also wieder an die Arbeit, legte die Tabelle noch einmal an und versank wieder in dieser Tätigkeit, dieses Mal jedoch den Zeitdruck der verlorenen Stunde im Nacken wie einen stummen Beobachter. Weitere vier Stunden später war noch nicht fertig, dennoch beschloss er Feierabend zu machen. Also nach Hause, Essen kochen und dann auf dem Sofa sitzen und fernsehen. Abscheu überkam ihn, als ihm bewusst wurde, wie sehr er wieder ins Nichtstun verfiel. Aber ihm fehlte einfach die Energie nach acht Stunden Arbeit. Am Wochenende, so nahm er sich vor, würde er etwas tun. Rausgehen, vielleicht sogar etwas Sport. Ganz sicher, versprach er sich, und der Tag lief in gewohnten Bahnen zu Ende.


Am nächsten Tag betrat Jonathan unruhig die Eingangshalle. Würde sich der Vorfall mit dem Fahrstuhl wiederholen? Wenn ja wäre es an der Zeit, darüber nachzudenken, etwas zu unternehmen. Nur was? Zu seinem Glück gelang es Jonathan bereits beim ersten Anlauf, den Knopf, zu drücken. „Morgen, John!“, grüßte seine Kollegin Marie wie jeden Tag. Wieder hob Jonathan lächelnd die Hand und grüßte zurück. Im Fahrstuhl begannen sie zu plaudern. „Wie fährt sich dein neues Auto so?“, fragte Jonathan. Seine Kollegin begann zu schwärmen und Jonathan hörte sich zustimmend Brummen und spürte seinen Kopf nicken. Die Maschine der gesellschaftlichen Konventionen funktionierte auch ohne sein Eingreifen, traf ihn die Realisation. Er wollte eine Frage stellen, die nichts mit Motordrehzahlen und Benzinverbrauch zu tun hatte, doch kein Wort wollte seine Kehle verlassen. Stattdessen nickte sein Kopf wieder. Wieder handelte sein Körper ohne sein Zutun, entzog sich seiner Kontrolle, bis sie den vierten Stock, in dem er arbeitete, erreichten.


Nun musste er wohl doch abwägen, ob es sich um ein medizinisches Problem handelte. Vielleicht sollte er im Internet danach suchen, überlegte er. Nach der Arbeit natürlich erst, hier gehörte das nicht hin. Kurz vor der Pause sah er auf die Uhr, beschloss, noch einmal die Toilette aufzusuchen und stand auf. Über seine Tastatur gebeugt sah er noch einmal auf den Bildschirm. Er sollte seine Arbeit dieses Mal speichern, beschloss er, markierte alles und löschte die Zahlen. Dann richtete er sich auf und verließ das Zimmer. Erst nach der Pause erreichte ihn die Realität: wieder war alles gelöscht und dieses Mal wusste er, dass er es gewesen war – nur warum, dass blieb ihm ein Rätsel. Er hatte wohl sehr neben sich gestanden, legte er sich als Erklärung bereit und machte sich frustriert wieder an die Arbeit. Kurz vor Feierabend war es wieder an der Zeit, einen Bericht abzuschicken. Er öffnete das Dokument. Dieses Mal keine Fehler, sagte er sich. Dann markierte er alles, löschte es und fuhr den Rechner herunter. Wieso tat er das? Er hatte klare Erinnerungen daran, was er tat – aber keinerlei Kontrolle über seine Handlungen, das war sicher, sonst hätte er interveniert. Hatte er eine neurologische Störung? Sollte er wirklich zum Arzt? Ehe er zu einem Schluss gekommen war, hatten seine Beine ihn bereits nach draußen auf den Parkplatz getragen. Ebenfalls nicht willentlich. Morgen wäre Freitag, da war endlich Zeit, sich Gedanken zu machen. Darüber, was mit ihm los war und was er mit seiner Freizeit gutes tun könnte. Heute brauchte er erst einmal Ruhe, legte sein Geist ihm als bequeme Ausrede zurecht, um sich keine Gedanken machen zu müssen. Und so riss der Strom des Lebens ihn mit sich weiter, spülte ihn zuhause an und deckte ihn dort mit Gedankenlosigkeit und Alltag zu.


Das Klingeln des Weckers schickte ihn in einen weiteren Tag voll Zahnradarbeit. Er fuhr im gleichen grauen Anzug wie immer zur Arbeit, folgte der selben Asphaltstraße. An der Kreuzung zum Parkplatz aber setzte seine Hand einfach nicht den Blinker, er fuhr gerade aus weiter. Erst als er schon im nächsten Stadtteil war, konnte er umdrehen. Er würde ganz sicher zu spät kommen. Seine Hände zitterten, als er sie endlich aus ihrer Starre und vom Lenkrad lösen konnte. Er wendete, reihte sich wieder in den Verkehr ein und versuchte, die Beunruhigung zurückzudrängen, die sich in seinem Geist breit machte. Das war sicher der Stress, sagte er sich. Der Stress, schließlich hatten doch jetzt alle Bourn Out, darüber war doch gerade erst letzte Woche etwas in den Medien gewesen. Und er war einer von allen. Zwanzig Minuten zu spät erst fuhr er auf das Gelände und fand natürlich keinen Parkplatz. Erst nach drei Runden tat sich wie aus dem Nichts eine Lücke auf, so dass er schließlich und endlich eine dreiviertel Stunde zu spät erst sein Büro im fünften Stock betrat. Sein Chef würde sauer sein, das war sicher, vor allem wenn er das Arbeitspensum bedachte, welches er diese Woche nicht hatte ableisten können. Jonathan setzte sich dennoch wie jeden Tag in sein Büro. Niemand kam, um sich zu beschweren, und so unterbrach nichts sein Tippen und Rechnen.

In der Pause hatte er seinen Kollegen nichts interessantes erzählen können, also hielt er sich an Smalltalkmuster, während er seine billigen Filterkaffee trank. „Schönen Nachmittag!“, wünschte jemand in die Runde, als die dreißig Minuten um waren.

Leises Klackern der Tastatur erfüllte sein Büro, die tickende Uhr an der weißen Wand gegenüber zeigte kurz nach halb fünf. Eineinhalb Stunden noch. Und dann? Was kommt dann, Jonathan? In den letzten Jahren war immer mehr dessen, was er zu seinem ureigensten Wesen gezählt hatte, weggebrochen. Langsam hatten sich die Dinge, die er vorher so geschätzt und gepflegt hatte aus seinem Leben geschlichen, waren Dingen gewichen, die er tun musste, nicht tun wollte. Aber so musste es eben sein, oder? Das leise Klacken verschwamm im Hintergrund seiner Wahrnehmung mit dem Ticken der Uhr, während seine Finger von selbst tippten, versank er tiefer in Gedanken. So langsam wurde es für Jonathan zur Gewissheit, was viele nur als philosophisches, realitätsfernes Konzept erachteten: Demokrit, Hume, Schopenhauer – all das, was die Menschen nur in Universitäten und Klassenzimmern als abstrakte Vokabel „Determinismus“ kennenlernten, war so greifbar wie die Gitterstangen eines Käfigs um ihn. Was er tat, tat er nur wegen seiner Erziehung, seiner Erfahrung. Er konnte nur reagieren, wie er es tat, weil es ihm so beigebracht wurde, weil sein Gehirn so programmiert worden war, durch die Evolution Jahrmillionen vor ihm und durch jede eigene Erfahrung, die nicht einen Deut so individuell war, wie er es sich wünschte. Das, was er gelernt hatte, hatte ihm die Gesellschaft eingetrichtert und die Form, welche die Menschen im vorlebten, lebten sie nur wegen dem, was die vorherigen Generationen erlebt hatten. Alles war nur eine Folge einer Ursache; alles Kausalität, nichts war freier Impuls. Er hatte nur BWL studiert, weil er gut in Wirtschaft gewesen war. In Wirtschaft war er nur gut gewesen, weil sein Vater Jonathans Interesse darin bereits früh geweckt und bestärkt hatte. Jonathans Vater hatte dies nur getan, weil er die Firma seines eigenen Vaters übernommen hatte. Jede Folge hatte eine Ursache und alles war er tat war keine Option, sondern eine Notwendigkeit. Aber wo, fragte sich Jonathan, war der Anfang? Was war der Grundstein, die Urentscheidung, wie man sie nennen könnte, ab der alles determiniert gewesen war? Oder war etwa alles noch viel simpler, und der Urknall hatte die Atome in die einzig mögliche Richtung geschleudert, deren Bahn sie noch immer folgten?

Neben Jonathans Büro waren weitere Büros, in allen saßen Menschen. Alle tippten, schrieben und arbeiteten sie im Akkord. Neben dem hohen Bürogebäude standen weitere, und in jedem waren weitere Büros voller Arbeiter, die alle ihre zugewiesene Aufgabe erfüllten, ohne zu hinterfragen. In jedem Gebäude, auf jeder Straße, bereits in den Schule und Kindergärten griffen die Zahnräder perfekt ineinander, drehten sich weiter. Alle atmeten, lebten, funktionierten. Überall zogen sich Lebensbahnen dahin, kreuzten sich Lebenswege, drängten sich gegenseitig umher, wichen vom alten, auf den sich dadurch ergebenen Kurs ab. Wenn man Jonathan noch vor einigen Monaten, ja sogar Wochen gefragt hätte, ob er frei war, so hätte er ohne zu zögern bejaht. Ohne Beweise zu fordern hätte er es als unanfechtbar angenommen, dass jede seiner Entscheidungen auch eine solche gewesen sei. Aber nun war der Zweifel da. War das, was er tat, wirklich seine eigene Tat, sein Wille, seine Entscheidung?

Er hörte auf zu Tippen. Er hätte die Tabelle kontrollieren müssen, aber seine Konzentration ließ ihn im Stich. Nicht einmal lesen konnte er, was auf dem Bildschirm vor ihm stand. Natürlich war es bequem, Gottes Willen, das Schicksal oder die Vorherbestimmung zu nennen, wenn etwas Unerklärliches geschah. Doch sobald es an die Substanz ging, sobald es um jede Sekunde seines Lebens ging, so wollte Jonathan das, was jeder Mensch sich wünscht: Freiheit, selbst zu entscheiden. Wie Kant schon sagte, dachte er sich frei – oder hatte dies zumindest bis jetzt getan. Jetzt blickte er zurück und sah Gleise, die linear von seiner Geburt hierher verliefen anstatt des erhofften verschlungenen Pfades, der sich als Abzweigung von vielen hervortrat. Nein. Nicht seit seiner Geburt. Vielmehr waren nur die letzten Paar Meter, die letzten Tage wirklich greifbar. Alles andere lag unwirklich, ungreifbar dahinter, wie eine Zeichnung, die nur angefertigt wurde, um einen Hintergrund zu suggerieren. Er kam nirgend wo her. Seine Geschichte hatte erst vor wenigen Tagen wirklich begonnen und führte auf diesen Gleisen ohne realen Ursprung weiter an ein ihm unbekanntes Ziel. Ihn überrollte die Erkenntnis, vollkommen kontrollos weiter zu rollen, weiter auf dem Gleis der Kausalität, welches ihn weder abbiegen noch bremsen ließ. Fremdgelenkt wie ein Güterzug auf seinem Weg zum Ziel, der für das Eisen des Zuges nicht zählte. Gelenkt durch den Zugführer der Kausalität, des Determinismus. Den Zugführer seines Lebens. Kausalität – oder etwa doch der Wille eines omnipotenten Wesens? Der Wille des allmächtigen, vollkommenen und gütigen Gottes, der in den Kirchen besungen und von Descartes als Grundlage des Wissens über die Realität angenommen wird?

Woher sich dieser Gedanke – dieser gesamte Gedankengang - nun plötzlich in seinen Verstand geschlichen hatte, war Jonathan unklar; ganz im Gegensatz zu den Gedanken, die glasklar aufgetaucht waren. Sie hatten sich aus dem Nichts einer weißen Seite in plötzlich erschienene schwarze Buchstaben geformt und thronten nun in Jonathans Geist, mit einer Bestimmtheit und Sicherheit wie sein Wissen über seinen eigenen Namen und seine Identität.

Als Atheist hatte sich Jonathan nie mit damit anfreunden können, dass das, was auf der Welt so geschah, Werk eines solchen Gottes sein könnte. Nein, das Wesen, welches alles bestimmte, war fehlerhaft, das hatte er immer schon gewusst, noch bevor er anerkennen wollte, dass ein solches Wesen existierte. Es musste fehlerhaft, wie ein Mensch sein, sonst wäre das alles nicht zu erklären. Ein menschliches Wesen wie er selbst, das die Fäden in der Hand hielt, ihm wen Weg bereitete, für Jonathan bestimmte. Ein Mensch also, der seine Geschichte schrieb, der die Feder führte. Würde das wirklich all die Dinge erklären, die Jonathan störten? All die Lücken in der Erzählung seiner Geschichte, als wäre diese zusammengestaucht, gekürzt, immer wieder umgeschrieben? All die Dinge, die nicht passten, nicht wahr sein konnten und nur aus der Feder eines dilettantischen Autoren, der sich zufällig Jonathans Leben erdacht hatte, stammen mussten? Es war verrückt, wenn er jemandem davon erzählt hätte, hätte diese jemand ihn zweifellos für geisteskrank gehalten. Aber das war nun einmal die Wahrheit, die sich unerschütterlich vor Jonathans Augen offenbart hatte und ihren Platz nicht mehr verlassen würde. Jonathan war nur der Charakter in einer Geschichte, und niemand außer ihm konnte es wissen, weil der Autor es nicht anders wollte. Jonathan spürte, dass er, so absurd und verrückt es auch klang, auf der richtigen Spur war. Als hätte die Wahrheit von selbst ihren Weg in sein Bewusstsein gefunden, hatte sie sich ihm offenbart. Der Schleier des Scheins einer eigenen Realität - erschaffen für einen Leser und nicht für ihn - hatte sich gelüftet. Beinahe konnte Jonathan das Klacken der Tastatur seines Autors hören, beinahe spürte er die Getriebe seiner Welt stocken, wenn ein Gedankenfaden abriss, wenn der Schreibfluss unterbrochen wurde. Es war verrückt, im wahrsten Sinne des Wortes: Jonathans Realität war dahin gerückt, dass er eben diese und ihre Fesseln, ihre Gitterstäbe aus Worten erkennen konnte und nicht mehr geblendet war vom Schein der Scheinrealität. Er, Jonathan, war nicht mehr als der Spielball dieser Geschichte, zu dessen Protagonist er durch die Fügung seiner Schöpfung im Geiste eines Autoren auserkoren war. Alles, was er erlebte, war nichts als ein Handlungsstrang, der zu etwas führen sollte. Doch was dieses etwas war, konnte Jonathan nicht sehen. Alles, was er sah, war der schwarze Abgrund der Erkenntnis: Nichts ist echt. Nichts ist wahr. Nichts ist frei. Er war nur der Protagonist einer Geschichte, die ein anderer schrieb.

Und mit diesem kurzen Blick auf das, was Jonathan nicht sein wollte, erwachte sein Trotz, sein Drang, dagegen anzukämpfen, sein Instinkt als freies Wesen zu handeln. Er sprang auf, unmittelbare Energie hatte ihn gepackt; nein, war aus seinem innersten Wesen entsprungen. Er stand vor seinem Monitor auf seinem Schreibtisch. Darunter summte leise der Computer, dieser verdammte Computer, der ihn jeden Tag acht Stunden lang zum Sklaven der Tabellen und Berichte machte. Er warf ihn um. Er griff unter die Tischplatte und warf auch diese mitsamt des Monitors, des Scanners und allen Büroutensilien, welche sich darauf befanden, vor sich auf den Boden. Laut schepperte und krachte es und aus den Nachbarbüros war erschrockene Unruhe zu vernehmen. Jonathan war es egal. Er hatte das Muster durchbrochen. Sein Gefängnis wurde gesprengt.

Die Uhr zeigte viertel vor fünf, als er hinaus auf den Flur trat. Dort ging er ziellos, und doch mit einer unanfechtbaren Bestimmtheit in Richtung des Treppenhauses. Er wollte raus. Raus aus der Routine, aus dem, was die Chefs wollten. Raus aus dem, was vorbestimmt war. Er wollte selbst entscheiden! Mit diesem Willen ging er, ungeachtet der Kollegen, den weißen, kahlen Gang entlang.

Er hatte seinen Handlungsstrang mit beiden Händen und voller Kraft gepackt und sprintete los. Gegen einen Widerstand, der beinahe physisch greifbar in der Luft hing, lief er. Nicht sein eigener Geist leistete ihm Widerstand, der so genannte innere Schweinehund, sondern der reine Determinismus – der reine Plot seiner Geschichte - um ihn. Jonathan atmete tief ein, seine Lunge brannte und wollte ihn vom Weiterlaufen abhalten. Aber Jonathan lief die Treppen hinauf. Rannte durch das kahle Treppenhaus, in dem seine Schritte hallten, hinauf in Richtung des Daches. Niemand folgte ihm. Niemand wollte ihn aufhalten, denn niemand sollte ihm helfen können.

Er sprang schier hinaus durch die natürlich unverschlossene Tür, hinaus auf die Dachteerasse. Es roch nach einem langen Tag in der Stadt, nach Abgasen, Teer und zu vielen Menschen. Dieser einzigartige Duft des frühen Abends ließ Jonathan ruhiger werden. Er setzte sich an die Kante des Daches und ließ die Beine hinab hängen.

Der kurze, köstliche Geschmack der Freiheit, welcher ihn benebelt hatte, ebbte ab und hinterließ den faden Nachgeschmack der Ungewissheit: Was war das eben wirklich gewesen? Er hatte seinen Arbeitsplatz zerstört und war hier hoch gelaufen. Er hatte keine Lust mehr gehabt auf all den Scheiß und hatte alles zerstören wollen – und dies auch getan.

Aber hieß Freiheit denn einfach nur, zu denken, dass du selbst bestimmst? Hieß es, zu denken, deine Gefühle sind deine?

Oder war wirkliche Freiheit nichts, was er in diesem Leben erreichen konnte?

Unruhe mischte sich in seine melancholische Ungewissheit und nach einem viel zu kurzen Aufbäumen war seine Rebellion vorbei. Eigentlich hatte es doch keinen Unterschied gegeben, oder? Ob er nun das tat und dachte, was er immer tat und dachte oder ob es nun ausgefallen, extraordinär und verrückt war – wenn es vorherbestimmt war, war nichts davon etwas wert.

Nein, das war wieder eine Finte, eine Schikane. Sein Autor verhöhnte ihn, in dem er ihn dies wissen ließ. Warum er all dies begriff, entzog sich Jonathans Kenntnis. Wozu sein Autor ihn dies Wissen ließ, blieb ihm verborgen; nur die Tatsache, dass es jemandem gab, der für ihn bestimmte, der ihn schrieb und der ihn all dies wissen ließ, war sicher.

Jonathan sprang ungehalten auf. Wilde Wut fuhr durch seinen Körper, ließ seinen Fäuste beben. Er wollte etwas ändern, das Ruder herumreißen – und doch wusste er, dass dieser Wille nicht seiner war. Sein innerstes Wesen, sein Selbst und sein Wille ließen sich nicht trennen, waren eins in der näheren Betrachtung und verschmolzen zu einem Nichts, wenn keines von beiden frei war. Wenn sein Autor es gewünscht hätte, hätte Jonathan glücklich determiniert und unwissend darüber leben können.

„Warum lässt du mich das tun? Warum lässt du mich diese Farce einer Revolte starten? Macht es dir etwa Spaß, mir bei der Erkenntnis zuzusehen, du Monster? Findest du die Macht, mich verzweifeln zu lassen, etwa geil?“, brüllte er gen Himmel. „Warum hast du nicht einfach geplant, mich glücklich so leben lassen? Was hast du davon, dass ich verstehe, dass ich nichts bin als deine Marionette?!“ Er trat noch einen Schritt näher an die Kante des Daches. „Du hättest mir einfach die Illusion der Freiheit lassen können!“ Er riss an seinen Haaren, schrie vor Wut einmal laut auf. „Selbst das bist gerade du, nicht wahr? Es sind deine Finger, die den Stift führen, der mich das hier sagen lässt! Du bist widerlich!“ Er trat noch einen Schritt näher an die Kante. „Jetzt lass es mich doch endlich tun! Lass mich einmal frei sein!“, flehte er, ließ die Arme sinken und sank zusammen, hockte keine Handbreit vom Abgrund entfernt. „Das ist irre“, stellte er mit einem Lachen der Verzweiflung in der Stimme fest. Aber er wusste auch: Nichts war echt. Nichts und niemand war frei, niemand hier in seiner Geschichte, und nur er wusste das. Also stand er auf. Trat einen Schritt nach vorne an die Kante und dann noch einen Schritt weiter, hinaus aus dem Rahmen dessen, was für ihn geplant war.

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