Deutsches Creepypasta Wiki
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Regen.

Der junge Wanderer stellte sich mit einem leisen Seufzen unter die schützenden Blätter einer Buche. Immer war er es, dessen Wanderungen von plötzlichen Regenfällen und anderem Unwetter unterbrochen wurden. Immer war er es, der vom Wetter aus den uralten Wäldern vertrieben wurde.

Er verzog den Mund und lehnte sich mit gerunzelter Stirn an die glatte, gräuliche Rinde.

Klar perlten die Regentropfen an den frischen, grünen Blättern hinab und landeten in vereinzelter Lautlosigkeit auf den humosen Boden. Eine Lautlosigkeit, die sich in der Gesamtheit des Schauers zu einem lauten Rauschen entwickelte und beinahe zu einem ohrenbetäubenden Tosen anschwoll.

Der Mann seufzte leise und fuhr sich fröstelnd über die Arme. Eigentlich wäre es das Beste, wenn er wieder den Heimweg einschlug. Und dann, wenn er wieder zuhause war, würde das Unwetter enden. So wie es das immer tat.

Frustriert zog er seine Regenjacke fester um sich, während die Tropfen gnadenlos durch das Blätterdach schlugen und ihn binnen weniger Minuten bis zu den Knochen frieren ließen.

Obwohl er jedes Mal mehr Ausrüstung mitnahm, die ihn gegen die plötzlichen Wolkenbrüche schützen sollte, schien der Regen doch immer die Überhand zu gewinnen und ihn irgendwie klatschnass werden zu lassen.

Die dunklen Wolken verspotteten ihn durch das dichte Blätterdach hindurch, spotteten und lachten, während er selbst nur zusehen konnte, wie der Regen sich sogar in seinen Gummistiefeln zu sammeln begann. Fluchend kniete er sich hin, zog die Stiefel aus und entleerte sie.

Jedes Mal. Jedes Mal verjagte ihn dieser verdammte Regen.

Sein grimmiger Blick wanderte den Weg entlang, den er eigentlich bestreiten wollte. Es war kein spezieller Wanderweg. Es war nicht einmal ein kleiner Pfad, denn er befand sich inmitten der überwucherten, beinahe unberührten Stellen des Waldes.

Bäume, älter als Dorfkirchen, die sich mit einer Leichtigkeit in den Himmel reckten wie kein anderes Wesen, standen hier und lebten. Jene, die durch Stürme und Gewitter hätten entwurzelt werden sollen, lehnten sich an die, die die Winde überstanden, und lebten so, gehalten von ihren Brüdern und Schwestern, weiter. Sie atmeten den Wind ein, atmeten ihn wieder aus und erschufen die Böen, die die stolzen Kronen uralter Könige zum Rauschen brachten.

Unter ihnen fühlte sich der Wanderer wie ein Insekt zwischen Giganten.

Sein Atem verfing sich in weißem Dampf, als dessen Hitze mit der Kälte des Waldes kollidierte. Wieder zog er sich die Jacke enger.

Sein Ziel waren nicht die alten Könige. Nicht die Giganten, die in ihrem Chaos eine einzigartige Ordnung fanden, sondern das, was sie verbargen. Folgte er seinem Weg, so käme er an den Gipfel des kleinen Berges, auf dem die Bäume standen. Der dichte Wald führte ihn höher und höher, bis schließlich ein undurchschaubarer, weißer Nebel Fauna und Flora fraß, wie die gierigen Flammen eines außer Kontrolle geratenen Feuers.

Er hatte ihn schon oft gesehen. Von seinem Haus aus hatte er die perfekte Sicht auf den Gipfel des kleinen Berges. Und immer sah er ihn, den Nebel.

Jeden Morgen, wenn er zur Arbeit wollte, und jeden Abend, wenn er wieder heimkehrte.

Der Nebel verbarg den Gipfel.

Das tat er immer.

Und seit Wochen versuchte er schon, den Gipfel zu erreichen, zu erfahren, was dieser Nebel verschlang. Doch nie sollte er weiter kommen als bis zu der Anhöhe, die er nun erreicht hatte. Spätestens hier strömte stets Regen, stürmte der Wind, und die anklagenden Blicke der Schatten folgten ihm auf Schritt und Tritt. Sobald er es auch nur wagte, einen Regenschirm auszupacken, drohte ihm der Donner und die Blitze, und spätestens das war jedes Mal der Moment, an dem er den Rückweg antrat.

Aber nicht heute.

Der junge Wanderer presste die Lippen aufeinander und trat aus dem mickrigen Schutz der Buche hervor. Sofort wurde seine Sicht vom strömenden Regen, der sich überheblich über ihn ergoss und jeden Zentimeter seines Körpers benetzte, eingeschränkt.

Heute würde er sich nicht davon stören lassen. Heute sollte der Tag sein, an dem er den Drohungen des Himmels und der Erde nicht lauschte, sondern sie ignorierte.

Schritt für Schritt ging er vorwärts, ließ sich vom Wetter nicht beirren und zog die Kapuze seines Regenmantels tiefer ins Gesicht.

Immer mal wieder stützte er sich an einen Baum, dessen rauschendes Blattwerk Warnungen wisperte, doch leider trafen ebenjene Warnungen die Ohren des Mannes nicht.

Wiederholt rutschte er auf der lockeren Erde aus, stolperte über herausragende Wurzeln und verfing sich in Dornen und Sträuchern, die sich alle an ihn klammerten und verzweifelt an ihm zerrten, doch auch dieses Flehen und Warnen traf auf taube Ohren. Alles perlte an seinem Geist ab.

Sein Herz hingegen schrie. Es schrie mit jedem Flüstern, mit jedem Griff und mit jedem Tropfen Regen, der sich irgendwie durch seine Kleidung fraß.

Das Schlucken fiel ihm schwer und sein Mund wurde trocken, seine Finger bebten; und dies nicht wegen der ihn umgebenden Kälte. Dennoch tat er unbeirrt einen Schritt nach dem anderen. Sein Verstand war leer. Alles, was er wollte, war, an den Gipfel zu kommen, den Nebel zu erreichen und endlich seinen Wissensdurst zu stillen.

Donner zerriss den Himmel und der junge Wanderer stolperte erneut über eine Wurzel und fiel auf die Knie. Fluchend versuchte er, sich aufzurichten, doch auch diesmal hielten ihn Dornen und wilde Sträucher fest. In der Verschwommenheit des Regens sah es beinahe so aus, als schlangen sie sich von selbst um seinen Körper.

Als er sich gewaltsam losriss, schaffte er es nicht nur, sich selbst zu befreien, sondern entwurzelte mit einem Ruck mehrere Pflanzen, die er achtlos zur Seite warf und giftig verfluchte.

Und mit dem Atemzug, mit dem er die Beleidigung aussprach, schwächte der Regen ab.

Das Flüstern und Flehen des Waldes verstummte und der junge Wanderer konnte nun endlich wieder frei sehen.

Der Nebel.

Der Nebel war nicht mehr weit. Einladend lockte er ihn, rief nach ihm. Es war dasselbe Rufen, das der Wanderer immer hörte, wenn er auch nur kurz einen Blick auf den Gipfel des Berges geworfen hatte. Doch nun, wo weder das Tosen des Regens noch das Flehen der Flora sein Bewusstsein trübten, wurde der lockende Gesang des Nebels unerträglich laut.

Begleitet wurde es vom sanften Rascheln der Blätter, das bis eben noch nichts anderes als eine Warnung gewesen war, und der Erinnerung an den tosenden Regen. Zahllose Tropfen, die nach wie vor von den Ästen und Zweigen der alten Könige fielen und alles in einen durchscheinenden Dunst hüllten, der nichts als eine billige Nachahmung des Nebels am Gipfel war.

Der Wanderer schritt voran, riss unachtsam jegliches Gestrüpp aus dem Boden, das ihm irgendwie den Anstieg erschwerte, und warf auch dieses fluchend von sich.

Langsam, ganz langsam bildete sich ein Pfad, der durch die Schritte des Wanderers zu einer Narbe im unberührten Wald wurde.

Ein Lächeln, breiter als jedes, das er je gelächelt hatte, erhellte sein Gesicht. Ja! JA! Endlich! Er lachte voll Erleichterung und Euphorie, denn heute war es soweit. Heute hatte er sich nicht ablenken lassen, heute war ihm das Glück hold!  

Mit dem schwindenden Regen zwitscherten nun auch wieder die Vögel und der Wanderer fühlte sich, als taten sie das nur für ihn. Liebreizend klang ihr Gesang, fast wie Glückwünsche und stolzes Lachen.

Sein eigenes Lachen mischte sich mit dem der Vögel und wieder und wieder riss er gewaltsam Pflanzen aus dem Boden, nur um sie achtlos zur Seite zu schleudern.

Die Narbe wurde größer, führte Stück für Stück näher zum Nebel, der sich wie eine dicke Decke über den Waldboden erstreckte und bis hoch in den Himmel zu greifen schien.

Nicht mehr lange, nicht mehr lange, nicht mehr-

Das fröhliche Zwitschern der Vögel und das zärtliche Rauschen der Baumkronen erstarben.

Stattdessen erfüllte den Wanderer das urplötzliche Schweigen des einst so laut singenden Nebels.

Behutsam sah er sich um, runzelte die Stirn und machte einen zögerlichen Schritt vorwärts, der die Stille der Unendlichkeit des Nebels nicht störte.

Seine Sicht schien ihn zu betrügen. Der junge Wanderer konnte nicht einmal die Schemen der Bäume erkennen, die hier eigentlich wachsen sollten. Alles, was er sehen konnte, war das undurchdringliche Weiß des Nebels. Unsicher wedelte er, im kläglichen Versuch, den Dunst zu verdünnen, mit einer Hand. Es tat sich nichts.

Hier gab es keine Bewegung, keinen Atem und keine Zeit.

Der Herzschlag des jungen Mannes beschleunigte sich. Er nagte an seiner Unterlippe und zog seine Kapuze vom Kopf.

Trocken.

Überrascht stellte er fest, dass nicht nur seine Kapuze, sondern sein gesamter Regenmantel beinahe staubtrocken waren, obwohl der strömende Regen eben erst sein Ende gefunden hatte. Dabei sollte er durch den Nebel doch eigentlich noch nasser werden, oder nicht?

Der Wanderer machte ein nachdenkliches Geräusch und tastete sich vorsichtig vorwärts. Nach wie vor machte keiner seiner Schritte auch nur den kleinsten Ton und sein Summen klang im Nichts des Nebels wie das verzerrte Klagen eines Sterbenden.

Augenblicklich schwieg der Mann und presste die Lippen aufeinander. Eine dünne Schweißschicht benetzte seine Stirn, verschwand jedoch so schnell, wie sie gekommen war.

Sein Herz pochte nach wie vor heftig gegen seine Brust, das Blut rauschte ihm in den Ohren und sein gesamter Körper schrie danach, diesen Ort zu verlassen.

Doch er hatte ihn gerade erst gefunden, warum sollte er also gehen? Nach all den Strapazen, die ihm diese Wanderung beschert hatte, verdiente er es, diesen Ort zu erkunden!

Ein frustriertes Schnauben erklang, das vom Nebel ebenso verzerrt zu werden schien wie sein Summen eben. Eine kalte Gänsehaut jagte über seinen gesamten Körper.

Nervös leckte er sich über die überraschend trockenen Lippen und schluckte schwer. Vielleicht würde er eine nicht ganz so dichte Stelle im Nebel finden, die etwas mehr über die Umgebung verriet? Und selbst wenn nicht, so würde er irgendwann so oder so aus dem Nebel kommen, wenn er einfach weiterging. Einen Rückzieher durfte er auf keinen Fall machen. Sein Stolz ließ das nicht zu.

Wieder leckte er sich über die Lippen, und diesmal schien selbst seine Zunge trocken zu sein.

Verwirrt runzelte er die Stirn und zog seinen kleinen Rucksack ab, der nun, genau wie sein Mantel, vollkommen trocken war. Aus seiner Tasche holte er eine Flasche Wasser, aus der er gierig trank. Diese Wanderung hatte ihm eine Menge abverlangt. Natürlich wurde sein Mund dann trocken.

Er rollte seinen Regenmantel zusammen und packte diesen in den Rucksack. Aktuell brauchte er ihn nicht. Und vielleicht trocknete seine Kleidung dadurch ja schneller.

Weitere lautlose Schritte verloren sich im Nebel. Kein einziges Mal traf der junge Wanderer auf etwas, das er umgehen musste. Es gab keine Bäume, keine großen Felsen und keine Sträucher, denen er auszuweichen hatte. Und obwohl er nur wenige Meter gegangen sein konnte, meldete sich wieder der Durst.

Der Mann griff ein zweites Mal nach seiner Flasche und legte eine Hand an den Deckel, nur um irritiert festzustellen, dass sich hinter dem klaren Glas neben dem Wasser auch Nebel befand. Bildete er sich das nur ein? Er hielt die Flasche nah genug an sein Gesicht, um einen genauen Blick hinein zu werfen. Tatsächlich. Irgendwie war ein Teil des Nebels in die Flasche gelangt.

Der Mann zuckte mit den Schultern, schraubte den Deckel auf und wollte trinken, doch statt der einem guten Schlick Wasser, fanden nur einige Tropfen ihren Weg in seinen Mund. Er riss die Augen auf und starrte auf die Flasche, die bis eben noch mindestens halbvoll gewesen war.  Wann? Wie!?

Feiner Dunst trat aus der Flasche und verbanden sich gemächlich mit dem umliegenden Weiß.

Seine Hand begann zu zittern und als sein Blick auf seine Finger fiel, legte sich die eiserne Klaue der Furcht um seine Kehle. Sie waren dürr und verschrumpelt, wie die Finger eines Greises, und aus seiner Haut trat…

Nebel.

Er trat aus jeder Pore seines Körpers, aus jeder Schicht Kleidung, die auch nur einen Hauch Feuchtigkeit beinhaltete und entzog ihm so jeden Tropfen Leben.

Nein… Das durfte nicht sein! Panisch machte der junge Wanderer einige Schritte rückwärts und fasste sich an das plötzlich faltig und ledrig werdende Gesicht. Seine Knie gaben unter ihm nach, sein Rücken krümmte sich, und jeder Muskel zuckte unkontrolliert.

Mit jedem Atemzug trat weißer Dunst über seine aufreißenden Lippen. Dickflüssig, fast pastös quoll Blut aus den feinen Rissen.

Sein Herz schlug immer unregelmäßiger. Seine Brust schien zu zerreißen, seine Arme und Beine pulsierten schmerzhaft mit jedem verzweifelten Schlag seines Herzes, das mit letzter Kraft versuchte, seinen Körper am Leben zu halten, und seine Lungen brannten mit jedem, immer schwächer werdenden Atemzug.

Unter dem ewigen Nebel schliefen zahlreiche versunkene Statuen, die einst den Gipfel dieses Berges  prachtvoll erstrahlen ließen. In den Jahrhunderten des Vergessens waren sie von zahllosen Schichten Erde vergraben worden, doch das sollte die Macht jener, die sie darstellten, nicht vermindern.

Weder der Grabgesang der Vögel, noch das Trauerspiel der alten Könige brachen durch den Nebel, den die Götter über diese einst heilige Stätte gelegt hatten. Er sollte ihn verbergen und behüten; den gesegneten Boden, der nur von den Priestern längst vergessener Religionen betreten werden durfte.

Himmel und Erde hatten versucht, ihn zu warnen, so wie sie alle warnten, die dem Heiligtum zu nahe kamen. Doch in seiner Gier nach Wissen hatte der Sterbliche die Warnungen nicht nur wiederholt ignoriert, sondern es auch noch gewagt, die Hüter der Götter zu verletzen und mit zunehmender Rücksichtslosigkeit zu agieren.

Er war nicht der erste gewesen, der seiner Gier erlegen war und sollte auch nicht der letzte sein. Und so wie jedes einzelne Problem, das vor ihm kam, würden auch die zukünftigen Probleme gelöst werden.

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