„Die Hauptstraße“
Wenn dich das Verlangen nach Neuem packt, wenn das gewöhnliche Nachtleben dir zu fade erscheint und du wirklich alle Facetten der menschlichen Psyche sehen willst, gibt es einen Ort in meiner Stadt, der dir bestimmt gefällt. Eine Einbahnstraße. Nein, eine echte Einbahnstraße - keine Metapher.
Dunkel. Betonwände, deren Putz wie abgestorbene Haut abblättert. Graffiti, wild und kratzig, Zeichen von Wut, Verzweiflung und politischer Frust – nicht die kunstvolle, schöne Art, eher wie Gekritzel. Hier riecht es nach abgestandenem Rauch, Urin, Metall. Und immer diese beklemmende Stille, die nur durch gelegentliches Flüstern oder ein gedämpftes Stöhnen unterbrochen wird.
Es ist ein Ort, an dem du ständig über deine Schulter blickst. Immer unsicher, ob der Schatten, der dich verfolgt, wirklich nur dein eigener ist.
Doch du bist gekommen, um zu bleiben. Und die Straße hält, was sie verspricht. Hinter ihren Türen warten Wünsche, Albträume, und alles weitere dazwischen.
Suchst du nach einem Spektakel? Stripper, die im flackernden Neonlicht tanzen, nackt, glitzernd, ihre Körper zuckend wie Marionetten, deren Fäden reißen. Männer, Frauen, all das verschmilzt hier zu einem Rausch aus Körpern und Licht.
Oder ist es doch ein anderer Rausch, den du suchst? Ein Arsenal aus Pillen, Pulver, Spritzen – bunte Farben, dumpfer Geschmack, mit einer Wirkung, die alles andere zum Schweigen bringt.
Aber das ist nur der Auftakt. Banal genug, oder? Geh weiter, tiefer hinein - und nein, das ist auch keine Metapher.
Die nächsten Türen erfordern Mut, Dummheit, der Gleichgültigkeit. Finde Liebe mit einem Körper, der das Atmen längst verlernt hat – kalt, reglos, gehorchend. Mädchen, deren Alter nur ein flüchtiges Konzept ist, verwischt von Gier und Verblendung. Masochisten, deren Schmerzensschreie längst zu einem hohlen Echo geworden sind, verloren im ständigen Kreislauf von Lust und Leid.
Immer noch nicht genug? Vielleicht suchst du nach mehr. Nach einem Festmahl aus Fleisch, das so vertraut schmeckt, dass dir übel wird. Oder nach einem Lebensgefährten, gekauft wie eine Ware, programmiert auf Gehorsam, bereit, deine dunkelsten Wünsche zu erfüllen, oder endlich deinen romantischen Gedanken nachzugehen.
Sehnst du dich nach Normalität? Suche einen Job, heirate, pflanze Bäume, zieh Kinder groß. Lebe dein Leben in Ordnung und Sicherheit.
Was? Du lachst? Es klingt zu absurd für dich? All das auf einer Straße? Es ist eben ein besonderer Ort. Die Hauptstraße hat ihre eigenen Regeln, ihre eigene Logik, die sich wie ein dichtes Gespinst um ihre Besucher legt. Die Laternen sind entweder erloschen oder sie brennen mit einem fiebrigen, kränklichen Licht, das Farben verfälscht und Schatten verzerrt, die Gesichter unter deren Schein hässlich wirken lässt.
Hier triffst du Menschen, die behaupten, sie hätten die Straße schon einmal verlassen, doch ihre Augen sind glanzlos, ihr Gelächter erinnert mehr an ein leises Heulen, ein Hilfeschrei. Einer von ihnen verkauft merkwürdige Amulette aus Zahnrädern und Fingernägeln, verspricht dir Schutz vor Dingen, über die er nur mit gesenkter Stimme spricht. Ein anderer bietet dir einen goldenen Schlüssel an, der angeblich jede Tür öffnen kann, aber du merkst schnell, dass es mehr ein Spiel ist.
Es gibt eine Bar, die nur zu bestimmten Stunden existiert, mit einem Tresen, der sich anfühlt wie polierter Marmor, aber leise summt, wenn du ihn berührst. Die Getränke haben seltsame Namen: „Flucht“, „Benommenheit“, „Wach auf“. Die Preise sind nicht nur Geld. Manchmal reicht ein Geheimnis, ein Versprechen, ein Name.
Weiter hinten, wo die Straße schmaler wird und sich windet wie ein Gedanke, den man nicht loswird, findest du einen Laden, dessen Schaufenster sich weigern, etwas zu zeigen. Drinnen verkauft ein Mann mit verblichenem Gesicht Träume. Keine flüchtigen Hirngespinste, sondern dichte, pulsierende Visionen, die sich anfühlen wie Erinnerungen. Man sagt, wenn du genug davon kaufst, kannst du dir ein neues Leben zusammenbauen, Stück für Stück.
Doch auch das ist nicht, was dich hierhergeführt hat. Die Straße bietet dir, was auch immer du suchst. Ein Lächeln, das zu breit ist. Ein Flüstern, das zu vertraut klingt. Manchmal kommen dir Gerüchte entgegen, dass jemand seinen längst verlorenen Liebsten zurückgekauft hat. Oder du findest ein zukünftiges du.
Die Straße scheint zu wissen, wonach du suchst, bevor du es selbst weißt. Türen, die sich öffnen, ohne dass du sie berührst. Stimmen, die deinen Namen rufen, obwohl du nie einen genannt hast.
Und immer wieder kehrst du zurück, obwohl du dir jedes Mal einredest, dass es das letzte Mal gewesen ist. Die Hauptstraße ist kein Ort, sondern ein Zustand. Ein Gedanke, der sich in deinem Kopf eingenistet hat und dort weiterwächst, auch wenn du längst woanders bist.
Denn selbst wenn du gehen willst, kehrt man doch für irgendetwas wieder zurück. Es füllt ein Stück in deinem Selbst, welches seit Anbeginn gefehlt hat.