Deutsches Creepypasta Wiki

Notizen von med. Matthews, Psychotherapeut


Soeben hat mein letzter Patient meine Praxis verlassen und ich alle weiteren Termine für heute abgesagt. Das Gespräch mit Mister ... Nein, er hat darum gebeten seinen Namen nicht zu erwähnen und selbst, wenn dies meine privaten Unterlagen sind, werde ich mich in Gänze daran halten. Mich beschleicht das Gefühl, dass er es andernfalls herausfinden könnte ... Das klingt verrückt, oder?

Ha, klassischer Psychodoc-Witz. Wird nie alt.

Ich würde gerne behaupten, dass mir zu Lachen zumute ist, aber beim Versuch bleibt es mir in der Kehle stecken. Ich kann noch nicht sagen, was es genau ist, dafür ist die Erfahrung zu frisch und erfordert einiges mehr an Rekapitulation, aber ich behaupte jetzt schon mit Fug und Recht, dass dieses Patientengespräch mich zutiefst berührt hat. Ob das gut oder schlecht ist, wird sich zeigen.

Während ich das hier schreibe, zittere ich ein wenig, weswegen ich dazu tendiere, der letzten Stunde ihren positiven Aspekt abzuerkennen. Andererseits könnte es auch ein Zeichen meiner Aufregung sein, die in der Erlangung neuer Erkenntnisse begründet ist. Ja, es braucht definitiv Zeit, darüber zu reflektieren.

Womöglich hilft es mir, den Ablauf erneut gedanklich durchzugehen und indes Notizen anzufertigen. Wie war das gleich? Ach ja, andere Blickwinkel ...

Betrachten wir die Sache, aus einem anderen Winkel oder in diesem Fall, aus der Distanz.

„Hallo, Mister-“

Med. Matthews wurde unterbrochen, bevor er seinen Satz nur ansatzweise zu Ende brachte. Da ihm etwas Derartiges, während seiner Arbeit bisher nie widerfahren war – zumindest war er nie auf solch grobe und gleichzeitig nüchterne Art, gleich zu Beginn seines Termins, in seinem Redefluss gestoppt –, brachte ihn dieser Umstand kurz ins Wanken.

„Bitte“, forderte der Patient, „nennen Sie mich nicht bei meinem richtigen Namen. Für die Zeit, die ich hier bin, wünsche ich mit dem Namen Sascha angesprochen zu werden.“

„Ähm ...“, stotterte der andere kurz, fing sich dann aber wieder. „Wie Sie wünschen. Wollen Sie dann eintreten ... Sascha?“

Ein zaghaftes, gezwungenes Lächeln huschte über die Lippen seines Gegenübers. „Sehr gern.“ Beim Hereinkommen wirkte er zögerlich, obgleich er es durch seinen selbstsicheren Gang und mit analytischem Umsehen, das fast schon arrogant rüberkam, zu verbergen versuchte.

Matthews schloss betont langsam die Tür, da er den Eindruck hatte, ein zu lautes Einrasten, könnte seinen gerade erst eingetroffenen Patienten, wie ein scheues Reh verschrecken. Vermutlich übertrieb er ein wenig, aber ganz unrecht tat er damit nicht, denn der Mann zeigte offensichtliche Anzeichen dafür, dass er sich nicht allzu wohl in seiner Haut fühlte.

Nicht, dass er damit allein wäre. Die meisten Menschen, die erstmals bei einem Psychotherapeuten vorstellig wurden, neigten zur Nervosität, da allein der Gedanke, sich einem Fremden gegenüber zu öffnen, Unbehagen in ihnen auslöste. Verständlich. Wer gab schon gerne seine tief in sich selbst vergrabenen Geheimnisse preis?

Möglichst ruhig und leise bewegte er sich selbst durch den Raum, zu seinem Schreibtisch hin. Sein Büro aka Therapiezimmer aka gefühlt seine Wohnung, weil er hier einen Großteil seiner letzten Jahre verbracht hatte, lag in einem sanften, gedämmten Licht. Nicht so schummrig, dass es einschläfernd wirkte, aber auch weit entfernt von störend grell.

Der Raum war nicht sonderlich groß, dafür reich gefüllt. Jeder freie Zentimeter wurde sinnvoll genutzt, allem voran fanden sich an fast allen Wandflächen Bücherregale, welche sich wiederum unter der Last der Lektüren bogen. Vor den Fenstern hingen dicke, halb zugezogene Vorhänge, ein schlichter Schreibtisch zierte den hinteren Teil des Zimmers, er wurde verborgen unter Papieren, Notizen und anderen Unterlagen, welche Matthews gerne als geordnetes Chaos bezeichnete. Vor dem Arbeitsplatz stand eine gemütliche, breite Couch, zu der er sich nun begab, ohne jedoch Platz zu nehmen. Er wies auf ein ähnliches Mobiliar ihm gegenüber. „Bitte, setzen Sie sich doch. Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“

„Ein Glas Wasser, wenn es Ihnen keine Umstände macht“, erklärte Sascha, wie er genannt werden wollte, beiläufig, ohne sich dabei zu seinem künftigen Therapeuten umzusehen. Gerade gebührte seine Aufmerksamkeit eines der Bücherregale, dessen Inhalt er scheinbar konzentriert kategorisch in sich aufnahm.

Matthews war niemand, der vorschnell urteilte, doch gab es gewisse Verhaltensmuster, die ihm regelmäßig unter die Augen gerieten. So auch in diesem Fall: Der Patient tritt selbstbewusst vor die Tür. Spätestens beim Eintreten und der Realisation, dass er sich tatsächlich dazu überwunden hat, einen Ort wie diesen aufzusuchen, schwindet diese Sicherheit. Da er nicht so recht weiß, was er mit sich anfangen soll, sucht er sich einen Fokuspunkt. Etwas, das Bestand hat, womöglich ein vertrautes Gefühl in ihm weckt.

Einer der Gründe, warum der Therapeut nicht so viel Wert darauf legte, immer für Ordnung an seinem Arbeitsplatz zu sorgen. Der Wohnraum des Durchschnittsbürgers, wie er sie zumeist behandelte, glänzte nicht zu jeder Zeit piekfein. Er zeigte Makel, Betriebsamkeit, kurzum: Leben. Und genau diesen Eindruck wollte er in seinem Büro vermitteln.

Abgesehen davon, war er ein notorischer Chaot, der gerne mal etwas links liegen ließ, um sich später damit zu befassen, wobei „später“ bedeutete, dass bis dahin noch zehn andere Dinge liegen gelassen wurden. Wenn man ihn fragte, wies er derartige Urteile von sich und führte den erstgenannten, rein therapeutischen Grund an.

Der Getränkewunsch machte ihm keine Umstände. Man konnte ihm so einiges vorwerfen, allen voran seine, für seinen Berufsstand eher unkonventionelle, Einstellung gegenüber dem Thema Ordnung, aber ein schlechter Gastgeber, war er sicher nicht.

Gleich neben seiner Couch, stand ein als Beistellschränkchen getarnter Mini-Kühlschrank, aus dem er eine gekühlte Flasche Mineralwasser zutage förderte. Darauf ruhte eine Reihe von Gläsern, von denen er eines nahm und neben einen kleinen Tisch, der Sitzgelegenheit gegenüber stellte. Wenig später sprudelte das kühle Nass leise, auf den Verzehr wartend, vor sich hin.

Das allein animierte seinen Patienten aber lange nicht dazu, der bereits geäußerten Aufforderung nachzukommen. Stattdessen starrte dieser weiter die Reihe von Büchern an, ohne ein Anzeichen dafür zu zeigen, sich in nächster Zeit, davon abwenden zu wollen.

Für gewöhnlich hätte Matthews jetzt einen Versuch eingeleitet, die Aufmerksamkeit seines Gegenübers auf sich oder besser, den Grund für sein Hiersein zu lenken. In diesem Fall jedoch ... Zu bestimmen, woher die Ahnung kam, verschloss sich ihm, doch ihn ereilte das Gefühl, dass seine üblichen Taktiken keine Wirkung zeigen würden, weswegen er einfach selbst seinem Vorschlag Folge leistete und sich schon einmal setzte.

Zu seiner Überraschung schien er damit, den genau richtigen Weg einzuschlagen – oder purer Zufall spielte ihm in die Hände, da er aber nicht an dieses Phänomen glaubte, dachte er über diese Möglichkeit gar nicht erst nach, sondern schloss sie gleich kategorisch aus. Welche übernatürliche Macht auch immer ihre Finger im Spiel hatte, sie trug dazu bei, dass Sascha sich von dem Regal ab und ihm zuwandte. Und nicht nur das, er umrundete gar mit sicheren Schritt die ihm angebotene Couch, um sich darauf niederzulassen.

Steif saß er da, die Hände auf dem Schoß ineinander verschränkt, den Blick auf einen unbestimmten Punkt im Raum gerichtet. Bloß nicht dem Therapeuten in die Augen sehen und damit das unangenehme Gespräch – dass vermutlich weit weniger schlimm als in seiner Vorstellung ausfallen würde – einleiten.

Dumm nur, dass der böse, sadistische Therapeut keine Lust hatte, sich eine Stunde lang anschweigen zu lassen, weswegen er das Gespräch von sich aus einleitete.

„Was hat Sie hierhergeführt ... Sascha?“

Dem Angesprochenen huschte ein leises, verschmitztes Lächeln über die Lippen. „Die Bahn und meine Füße.“

Dem anderen entwich ein kurzes Lachen, wenngleich mehr aus Höflichkeit als aus ehrlichem Amüsement. Wenn er für jedes Mal, dass ein Patient versuchte seine Nervosität mit Humor zu überlagern, einen Euro bekäme, hätte er aus finanzieller Sicht, seinen Beruf schon längst an den Nagel hängen und von den Zinsen oder Renditen leben können.

Dennoch nahm er es als positives Zeichen, denn wenigstens hatte er dem jungen Mann überhaupt ein paar Worte entlockt, die überdies, wenn er nun doch eine altbewährte Methode anwandte, den Startschuss für die eigentliche Sitzung liefern konnten.

Besagte Methode sah vor, dass er gar nichts weiter unternahm, sondern schlicht abwartete. Die Frage war zwar theoretisch beantwortet worden, doch ihnen beiden sollte klar sein, dass es ein wenig mehr als das bedürfte, um ein weitergehendes, therapeutisches Gespräch zu rechtfertigen. Deswegen baute Matthews darauf, dass ihm sein Patient jeden Moment eine vernünftige Antwort lieferte. Er wurde nicht enttäuscht.

„Mein Hiersein stellt eine Art Experiment dar.“

Fragend hob Matthews eine Augenbraue. „Ein Experiment?“

„Allerdings. Ich möchte versuchen, eine neue Perspektive auf bestimmte ... Aspekte zu bekommen.“

„Tun Sie das öfters?“, fragte der Therapeut weiter, wobei er vollständig in seinem Element versank, seiner Arbeit, die er selten als solche begriff. „Die Dinge aus einem anderen Blickwinkel betrachten, meine ich.“

„Ständig.“ Der junge Mann wirkte auf einmal ruhiger, gelassener. Seine Arroganz schimmerte außerdem weit weniger gespielt durch, sondern schien mehr Teil seines natürlichen Wesens. Ein Eindruck, der wie so manch weiterer nicht lange Bestand haben sollte.

Beiläufig nahm der andere sein Notizbuch samt Stift zur Hand, Gegenstände, die stets griffbereit in seiner Nähe lagen. Scheinbar willkürlich klappte er eine Seite auf und schrieb ein paar knappe Worte, ohne hinzusehen. Seine Aufmerksamkeit galt dem Patienten, welcher ihn mit Argusaugen bei seiner Tätigkeit beobachtete.

Matthews räusperte sich kurz, ehe er mit dem Gespräch fortfuhr. „Erzählen Sie mir mehr von Ihrem ... Experiment.“

Sein Gegenüber zuckte knapp mit den Schultern. „Es ist recht simpel. Wie ich bereits sagte, untersuche ich mein Leben, mein Verhalten, meine Entscheidungen, meine Umwelt, das Zusammenspiel dieser und anderer Faktoren, zu unterschiedlichen Zeiten, in unterschiedlichen Stimmungszuständen, um ein möglichst umfassendes Bild über mich, meine Mitmenschen und dem Drumherum zu bekommen. Während andere ein Versinken in ihre Gedankenwelt, die düster und abgründig sein kann, als Last betrachten, begreife ich es als Gelegenheit, mehr über mich oder andere zu lernen. Und deswegen bin ich heute hier. Je nach Verlauf erhoffe ich mir, aus Ihrer professionellen Meinung neue Einblicke zu gewinnen.“

Der andere tätigte eine gedankliche Notiz, besser gesagt, er setzte ein Häkchen hinter: Sicheres Gebiet. Sie bewegten sich in seiner Komfortzone. Hier wandelte er gefassten Schrittes, schreckte nicht davor zurück, offen zu sprechen. Es handelte sich um ein Thema, mit dem er sich oft auseinandersetzte und dass er schon mit Einigen geteilt hatte, stellte kein Geheimnis dar, über das zu reden, ihm unangenehm wurde. Ganz nebenbei bemerkte er zudem, dass sein Patient sich, zumindest wenn er erst einmal in Fahrt kam, gerne selbst reden hörte.

„Mit anderen Worten, Sie wollen meine Fähigkeiten, zu Ihrem Zwecke missbrauchen.“ Eine kleine Provokation, nur um zu sehen, wie er reagierte.

Gelassen, lautete die Antwort, denn der junge Mann zuckte nicht einmal mit der Wimper, während er erwiderte: „Ganz recht.“

Das entlockte Matthews wieder ein leises Lachen, welches dieses Mal ehrlich gemeint war. Das plötzliche Selbstbewusstsein seines Patienten gefiel ihm, obgleich es ihn auch ein wenig irritierte. Vor allem da dieser keine Miene rührte, indes er sich amüsierte, was es für den Therapeuten ein bisschen peinlich werden ließ.

Er räusperte sich erneut. „Also, wo waren wir noch gleich?“ Am liebsten hätte er sich für diese Aussage auf die Zunge gebissen. Sich selbst fragen zu müssen, wo man stehengeblieben war, erschien ihm unprofessionell. „Wie kann ich Ihnen bei Ihrem Experiment behilflich sein?“, fragte er deswegen eilig, ohne darüber nachzudenken.

Sascha zuckte mit den Schultern. „Woher soll ich das wissen? Sie sind doch der Experte.“

Argh, verfluchte Matthews sich innerlich selbst. Der nächste Fehler und er war bereitwillig hineingerannt. Schlimmer, es kam ihm so vor, als ob sein Gegenüber einen selbstgefälligen Gesichtsausdruck aufgesetzt hätte, dabei hatte dieser sich kein Stück verändert.

Zeit die Kurve zu kriegen, altes Haus, dachte er verbissen und setzte tatsächlich zur Ausnahme mal wieder zu einem sinnvollen Kommentar an. „Sie haben eine Düsternis erwähnt, einen Abgrund, in den herabzusteigen, Sie nicht zwingend als etwas Negatives bewerten. Wollen Sie mir mehr darüber erzählen?“

„Wenn Sie es wünschen, gerne.“ Er legte zwei Finger an seine Schläfe, überlegte wohl, wo er ansetzen sollte und murmelte dabei etwas, dass Matthews stutzig werden ließ. „Also, wie war das noch gleich?“

Eine seltsame Formulierung für jemanden, der sich an mutmaßlich grundlegende Aspekte seines Lebens zu erinnern versucht. Nicht völlig abstrus, aber doch auffällig. Ein Punkt, den er sich vorsichtshalber vermerkte.

„Schon sehr früh in meinem Leben, habe ich mir eine der essenziellen Fragen zu stellen begonnen, die vermutlich jeden oder zumindest einen Großteil der Menschen einmal ereilt: Die Frage nach dem Sinn des Lebens.“

„Hah, ja. Seien es die großen Denker unserer Geschichte oder auch die einfachsten Bürger, das ist wahrlich eine Frage, die schon sehr oft gestellt wurde und noch viele Male gestellt werden wird.“ Er nickte geflissentlich, um seine Worte zu unterstreichen, und merkte zu spät, den nahezu eisigen Blick, mit dem ihm sein Patient bemaß.

Eine klar Botschaft sprach daraus: Soll ich Ihnen nun von meinem Leben berichten, oder wollen Sie weiter unser beider Zeit, mit Ihrem Palaver verschwenden? Matthews fröstelte ein wenig, während er sich schon wieder räusperte – von Mal zu Mal verlegener – und seinem Gesprächspartner bedeutete, doch bitte fortzufahren.

„Diese Frage jedenfalls hat mich lange Zeit beschäftigt. So sehr, dass sie alles andere in meinem Leben verdrängte. Meistens fühlte ich mich ... gleichgültig, gegenüber allem und jedem. Sei es nun meine Familie oder meine Freunde, Dinge, die um mich herum geschahen, Situationen, die mir potenziell Schaden zufügen konnten, es interessierte mich nicht oder nur wenig. Alles war ... grau. Das ging so weit, dass ich eines Tages gewillt war, meinem Leben ein Ende zu bereiten. Denn was brachte mir ein Leben, ohne jedwede Bedeutung?“

Die Art, wie er darüber sprach, ließ den Therapeuten aufhorchen. Sachlich und rational formuliert, ohne den Hauch einer Regung. Entweder hielt der Zustand noch immer an, oder er hatte ihn überwunden und mittlerweile so weit hinter sich gebracht, dass es ihn nicht mehr berührte.

„Ich habe alles geplant“, fuhr der junge Mann fort. „Den Tag, die Zeit, die Art ... am Ende war ich zu feige und habe da weitergemacht, wo ich aufgehört habe. Wenig später lernte ich etwas kennen, wofür es sich zu leben lohnte und verschwen- ... verwendete, die nächsten Jahre darauf, diesem Gefühl hinterherzujagen.“

Ein interessanter Versprecher. Betrachtete er seine investierte Zeit heute wirklich als Verschwendung? Bedeutete es, dass er etwas von größerer Relevanz gefunden hatte? Sprach da eine gewisse Resignation aus ihm heraus? Wurde er rückfällig? Es mangelte Matthews an Daten, um ein fundiertes Urteil abzugeben, doch er merkte, trotz einiger kleiner Eskapaden, wie ihn der Fall langsam in seinen Bann zog.

„Also haben Sie ihn gefunden, den Sinn des Lebens, meine ich.“

„Nein“, widersprach der Andere. „Ich habe etwas gefunden, wofür es sich zu leben lohnt. Später gesellten sich auch noch andere Dinge hinzu, die das grau der Welt mit Farbe zu füllen vermögen. Man könnte also mit Fug und Recht behaupten, ich hätte meinen individuellen Sinn im Leben gefunden. Aber den Sinn, ganz sicher nicht. Allerdings bin ich auch schon vor Jahren zu der Überzeugung gelangt, dass der Mensch dazu auch überhaupt nicht in der Lage ist. Selbst wenn er die Antwort finden würde, selbst wenn sie direkt vor seiner Nase läge, er wäre nicht fähig, sie mit seinem kleinen Geist zu begreifen.“

Ein Denker also. Nicht, dass es ihn überraschte. Es waren meistens diejenigen, die ihren Verstand unentwegt bemühten, die zu ihm kamen. Dummheit frisst, Intelligenz säuft, dachte er leise bei sich, so wie immer, bei solchen Gelegenheiten, obgleich die ursprüngliche Bedeutung dieses Spruchs nicht passte. Gesprochene Worte behielt er jedoch für sich, um weitere Peinlichkeiten oder vielsagende Blicke zu umgehen.

Allerdings blieben darüber hinausgehende Erläuterungen seines Patienten aus, was wohl bedeutete, dass das Wort doch wieder an ihn übergeben worden war. „Und das ist sie? Ihre Dunkelheit?“

Der andere schüttelte den Kopf. „Nein, bei Weitem nicht. Um sie Ihnen in allen Abstufungen zeigen zu können, würde es vermutlich mehr als diese eine Sitzung benötigen. Ich vermute aber mal, dass sie das Nötigste bereits wissen. Mein Geist führt mich bei seinen rastlosen Wanderungen ein ums andere Mal, auch auf düstere Pfade, auf denen es nur eine Richtung gibt. Jedes Mal sehe ich mich gezwungen den Weg bis zum Ende zu gehen. Die Wahrheiten, die er mir aufzeigt, zu verarbeiten. Über mich selbst. Über andere. Über meine Umwelt. Die Vergangenheit, die Gegenwart, die Zukunft. Über Relevantes und Nichtiges. Über Rationales uns Gefühlgeleitetes.“

„Das muss kräftezehrend sein.“ Eine etwas weit hergeholte Feststellung, da er es nicht mit Sicherheit wissen konnte. Immerhin wäre es genauso möglich, dass dieser Zustand sich zu einem festen Bestandteil seines Lebens geformt hatte.

„War es auch“, meinte Sascha. „Ist es immer noch manchmal“, fügte er nach kurzer Überlegung hinzu. „Ich habe gelernt damit umzugehen. Es mir zunutze zu machen. Statt mich darunter begraben zu lassen, nehme ich es in mich auf, mache es zu einem Teil von mir, betrachte es von allen Seiten, ziehe daraus meine Lehren.“

„Und diese Lehren ... sind Sie immer ... gut? Hilfreich? Es wert erfahren zu werden?“ Der Patient zeigte sich deutlich entgegenkommender als am Anfang erwartet. Er war tatsächlich bereit, über sich und sein tiefstes Inneres zu sprechen und das, ohne zu zögern. Entweder, weil das Ganze hier für ihn wirklich nicht mehr darstellte wie ein Experiment, oder aber, weil er nur nach einer Möglichkeit gesucht hatte sich diese Last endlich einmal von der Seele zu reden und dafür lediglich einen Vorwand brauchte.

Oder, wir haben den wahren Kern, noch gar nicht erreicht. Matthews konnte nicht den Finger auf den Grund legen, doch insbesondere letzterer Gedanke, ließ ihn schaudern.

Eine kaum wahrnehmbare Stimme in seinem Unterbewusstsein warnte ihn davor, tiefer zu diesem Kern vorzudringen. Dass das, was er dort vorfand, die Grundfesten seiner Selbst, alles, woran er glaubte und festhielt, erschüttern würde. Allerdings kam er nicht dazu, dieser Stimme sein Gehör zu schenken, da seine Aufmerksamkeit gleich wieder auf den jungen Mann vor sich gelenkt wurde.

„Gut? Derartige Bewertungen nehme ich selten vor. Hilfreich? Eine Frage der Perspektive und des entsprechenden Nutzens. Für mich erfüllen diese Erkenntnisse tatsächlich häufiger einen Zweck. Es wert erfahren zu werden? Sagen Sie es mir. Sind sie der Meinung, jedes Wissen ist es wert erlangt zu werden oder sind Sie der Meinung, bestimmte Aspekte des Universums sollten lieber für immer unter Verschluss bleiben?“

Aus irgendeinem Grund ließ ihn diese Frage wieder frösteln. Beinahe war es, als stecke mehr dahinter wie eine unschuldige Erkundigung nach seiner Meinung. Als hinge ein übergeordnetes Schicksal von seiner Antwort ab. Seines und schlimmstenfalls gar das seiner Mitmenschen. Wenn nicht der Welt selbst.

„Als ... als ein Mann der Wissenschaft, ist es natürlich immer mein Bestreben Wissen anzuhäufen, allerdings hat die Vergangenheit mehr als einmal bewiesen, dass Wissen, dass in die falschen Hände gerät ...“

„Oh bitte“; winkte sein Zuhörer gelangweilt ab. „Kommen Sie mir jetzt nicht mit der Moralkeule. Sie ist auch nur eine Frage der individuellen Einstellung. Die Entwicklung der Atombombe, der eine Erlangung von Wissen vorausging, hat unzählige Menschenleben gefordert. So betrachtet, ist jedes Wissen gefährlich und es wäre für uns alle besser, wir lebten immer noch in Höhlen und fürchteten uns vor dem Feuer. Aber darum geht es hier nicht. Lassen wir die Moral mal aus dem Spiel. Versuchen Sie sich davon zu befreien, nur für einen Augenblick. Ich weiß, es ist schwer anerzogene Gewohnheiten loszuwerden, aber ich denke, Sie schaffen das.“

Anerzogene Gewohnheiten. Eine seltsame Bezeichnung für ein Konstrukt, welches als Grundlage für die meisten unserer tief verankerten Gesetze fungiert. Aber bitte, er wollte mal nicht so sein und ihm den Gefallen tun. Und da er seine Patienten zu jeder Zeit ernst zu nehmen ersuchte, schloss er dafür sogar kurz die Augen und fiel in einen leicht meditativen Zustand.

Wissen um des Wissens willen. Keine Ziele damit verfolgend. Nur ein Suchender, auf dem Pfad zur Erleuchtung. Ok, jetzt kam er sich doch ein wenig albern vor. Andererseits war es ein faszinierendes Gedankenspiel. Befreit von aller Moral und dem Achtgeben auf andere, wie weit würde er voranschreiten, wie tief würde er graben? Wann wäre der Punkt erreicht, an dem er sich fragen musste, ob er zum Wohle seiner selbst weitermachen oder lieber aufhören wollte, weil er um seinen klaren Verstand fürchten musste. Welche Geheimnisse barg der Kosmos, die zu erblicken, ihn alles kosten könnten? Der ultimative Preis, wäre er ihn bereit zu zahlen, um die Quintessenz allen Seins zu erlangen?

Eine unmöglich zu beantwortende Frage, solange man sich nicht in einer solchen Situation ausgesetzt sah. Es war immer leicht, hypothetisch zu antworten, aber unsagbar schwer, eine so maßgebliche Entscheidung zu treffen, wenn man erst einmal dazu gezwungen wurde.

Auf dem leichten Pfad jedoch ... Ja. Die Antwort lautete ja, für wahres Wissen, für Erkenntnisse, die alles, was er bis dahin gelernt hatte, nichtig erscheinen ließen, wäre er bereit alles aufzugeben. Erschreckend. Ein bisschen wunderte er sich über sich selbst, da er immer geglaubt hatte, es gäbe Grenzen, die zu überschreiten er nicht bereit wäre. Jetzt war er sich derer längst nicht mehr so sicher.

„Und?“

Die Frage riss Matthews so aus seiner Gedankenwelt, seiner regelrechten Trance, dass er wie aus einem Halbschlaf hochschreckte und sich kurz desorientiert zeigte. Ein verwirrtes „Was?“, kam über seine Lippen, ehe er dagegen steuern konnte. Seltsamerweise war ihm diese Unprofessionalität bei Weitem nicht mehr so unangenehm wie vor wenigen Minuten.

„Welche Meinung vertreten Sie?“, präzisierte sein Gegenüber.

„Ich ...“ Er brauchte einen Moment, um sich zu sammeln. Diesen nutzte er, um sich selbst ein Glas Wasser einzuschütten, da sein Mund sich plötzlich ausgesprochen trocken anfühlte. Nachdem er es aufgefüllt hatte, vergaß er jedoch, davon zu trinken, und antwortete stattdessen, seinem äußerst geduldig wirkenden Patienten. Dass er sich mittlerweile selbst mehr, wie der Patient vorkam, registrierte er nur beiläufig.

„Ich schätze, ich wäre bereit jedes Wissen zu erlangen.“

„Gleich der Konsequenzen, wie gravierend sie auch sein mögen?“

„Ja.“ Es auszusprechen, fühlte sich wie ein Nagel an, der in seinen Sarg gehämmert wurde.

„Das ist ... enttäuschend.“

„Wie bitte?“ Diese Beurteilung fuhr wie ein Blitzschlag durch seinen Körper. Er hatte mit Zustimmung, nicht mit Ablehnung gerechnet, weswegen ihn Schuld übermannte. Wie hatte er nur so falschliegen können?

„Ich meine“, korrigierte Sascha, wobei er die Arme vor der Brust verschränkte und den Blick zur Seite schweifen ließ, „ich hatte mir ein wenig mehr, sagen wir, Gegenwehr gerechnet.“

Gerade noch die Kurve gekriegt, dachte Matthews erleichtert, wobei er sich über sich selbst wunderte. Jetzt da er Gelegenheit bekam mal ein paar Augenblicke darüber nachzudenken, konnte er über sich und seine plötzlich auftretende Unsicherheit, die für ihn eher untypisch war, nur den Kopf schütteln.

Außerdem fiel ihm auf, dass sein Patient wieder ein wenig von seinem selbstsicheren Auftreten verloren hatte. In der defensiven Haltung, in der er jetzt da saß, wirkte er eher, als würde er sich über etwas ärgern. Fast schon ein wenig bockig.

Zusammen mit seinem schwindenden Redefluss kehrte der Therapeut mehr zu sich selbst zurück, was ihn dazu animierte, das Ruder des Gesprächs in die Hand zu nehmen, solange es führerlos herumlag.

„Kommen wir zurück zu den dunklen Pfaden, die Sie hin und wieder betreten. Sie meinten, es wäre manchmal kräftezehrend, aber sie würden sie dennoch bis zum Ende gehen. Was hat sich geändert, dass es Sie heute nicht mehr so auslaugt, Sie erneut in den Suizid zu treiben?“

Mit dieser Frage erreichte er, dass sein Patient sich ihm wieder zuwandte. Die Arme behielt er dennoch vor der Brust. Außerdem hob er skeptisch eine Augenbraue. „Was lässt Sie glauben, dass dem so wäre?“

Der andere zuckte gelassen mit den Schultern. „Nur eine Mutmaßung. Und?“

„Also erst einmal, es stimmt, ich habe seitdem keinen weiteren Versuch mehr unternommen. Dennoch haben mich die Gedanken noch lange Zeit verfolgt und selbst heute, wirkt der Tod zumindest eine gewisse Faszination auf mich aus, allerdings lebe ich viel zu gerne, als dass ich mich ihm freiwillig unterwerfen könnte. Zweitens, ist es natürlich eine große Hilfe, nicht ununterbrochen durch einen grauen, dichten Nebel zu schreiten. Drittens ... nun, ich habe in früheren Jahren Methoden entwickelt, mit Schwankungen meiner Seele umzugehen.“

Auch wenn er sich schon fast denken konnte, worauf das hinauslief, fragte Matthews: „Und wie sehen diese Methoden aus?“

„Schmerz“, antwortete Sascha trocken. „Aber das haben Sie sich wohl schon gedacht.“

Keine Vermutung, sondern eine Feststellung. Da kehrte sie wieder, seine Selbstsicherheit. „Wollen Sie mir mehr darüber erzählen?“

„Warum nicht“, meinte er leichthin. Also ein weiteres Themengebiet, über das zu reden, ihm keine allzu großen Schwierigkeiten bereitete. „Angefangen hat es aus Neugier. Damals ...“, er zuckte mit den Schultern, „kam es mir in meinem Umkreis schon fast wie eine Modeerscheinung vor, sich eine Klinge durch die Haut zu ziehen. Irgendwie hat es jeder mal gemacht. Es wurden unterschiedliche Argumente dafür vorgebracht. Aufmerksamkeit erheischen. Überhaupt etwas spüren. Ich versuchte es wie gesagt aus Neugierde. Es stellte sich heraus, dass es mir einen kurzen Moment der Ruhe gewährte, meinen rastlosen Geist zum Stillstand brachte, wenn auch nur kurzzeitig.“

Den Verstand mit etwas anderem beschäftigen. Ein bewährtes Mittel, wenngleich auf diese Art freilich fragwürdig, da es drohte früher oder später zu eskalieren.

„Später dann, mit der Zeit und den verstreichenden Jahren, in denen aus dem eintönigen Grau häufiger ein buntes Farbenspiel wurde und damit einher, Gefühle mich übermannten, erkannte ich, dass Schmerz noch einen anderen Nutzen hatte: Er fokussierte mich, ließ mich meine Wut und andere Emotionen auf eine Art und Weise entladen, die niemanden außer mir verletzte.“

„Waren Sie das häufiger? Wütend, meine ich?“, stellte Matthews beiläufig eine Zwischenfrage.

„Damals? Ja, könnte man wohl so sagen.“

„Und heute?“

Er nickte. „Es überkommt mich hin und wieder, meistens ohne jede Vorwarnung. Einer der Nebeneffekte, die die Düsternis mit sich bringen kann, aber nicht muss. Im Gegensatz zu früher beherrsche ich insbesondere meine kochenderen Ausbrüche jedoch weit besser.“

„Heißt dass, Sie brauchen den Schmerz nicht mehr?“

Der andere lachte, doch war es kein humorvolles Lachen. Es lag auch keine Bitternis darin, nur ein Hauch von ... Ironie. „Brauchen, nein. Oder sagen wir fairerweise sehr selten und selbst wenn, dann finde ich mittlerweile meist andere Wege, um damit umzugehen.“

Da er nicht weiter darauf einging, stocherte der Therapeut ein wenig nach. „Sie betonen das so explizit. Heißt das, es gibt andere Gründe, aus denen Sie sich selbst Leid zufügen?“ Er knirschte kaum merklich mit den Zähnen, aufgrund seiner Wortwahl. Sich Leid zufügen, klang zu negativ behaftet. Glücklicherweise schien es sein Gegenüber nicht weiter zu stören. Und wenn, zeigte er es in keiner einzigen Regung. Seine Nüchternheit war beinahe ein wenig unheimlich, obschon nicht ungewöhnlich.

„Allerdings. Am ehesten könnte man es wohl als Sucht bezeichnen. Irgendwann, nachdem ich mich und meine Gefühlswelt schon lange besser kennengelernt und zu beherrschen gelernt habe, kam sie ganz unerwartet wieder, die Finsternis. Verändert jedoch. Oder war es vielmehr ich, der sich verändert hatte? Das kommt vermutlich eher hin. Ich habe sie nicht als etwas Schlechtes betrachtet, sondern vielmehr, wie einen alten ... nun, Freund wäre wohl zu viel des Guten. Sagen wir ein alter Bekannter. Wir haben uns die Hand gegeben, uns zusammengesetzt, über alte Tage geplauscht. Rückwirkend kam mir Vieles der Vergangenheit lächerlich, klein und bedeutungslos vor. Die Schwere, die mich in den Abgrund gezerrt hat, sie hatte an Gewicht verloren. Zumindest die, von damals. Andere Dinge hatten ihren Platz eingenommen, jedoch habe ich gelernt, meinen Rucksack systematischer zu packen. Ergibt das für Sie einen Sinn?“

„Absolut“, bestätigte Matthews knapp, um ihn nicht in seinem Redefluss zu unterbrechen.

„Tja und dann, kam der entscheidende Moment. Ein kurzes Blitzen blendete mich, als mir eine das Licht reflektierende Klinge zur Hand gereicht wurde. Fasziniert habe ich sie betrachtet, sie gestreichelt, mit freudiger Erwartung damit gespielt. Wie mit dem Feuer. Was danach folgte, ist nur schwer in Worte zu fassen. Ein Hochgefühl, wie ich es noch nie zuvor erlebt hatte. Wie im Rausch. Nur Sekunden anhaltend und sich doch ewig dehnend. Seitdem denke ich oft daran, ohne mich jedoch leichtfertig hinzugeben. Ich weiß sehr wohl um die Gefahr, die die Flammen in sich bürgen. Nicht, dass es etwas ändern würde. Die Droge meiner Wahl, flüstert mir dennoch regelmäßig zu. Nicht täglich, nicht wöchentlich, aber immer wiederkehrend. Sie wird nie mehr von mir lassen und es liegt einzig und allein an mir, mich ihr zu entziehen.“

„Mit Erfolg?“

„In den meisten Fällen, ja. Es kommt tatsächlich nur höchstselten vor, dass ich mich nicht erwehren kann.“

Beachtlich, dachte der Therapeut stumm bei sich. Nicht, dass es nicht durchaus vorkam, dass Menschen sich allein aus dem Sumpf ihrer Seele hervor kämpften, dennoch beeindruckte es ihn immer ein wenig, wenn es jemand aus eigener Kraft heraus schaffte, sich nicht nur eines geplanten Suizids zu entziehen, sondern auch mit den Folgen zurechtzukommen. Teilaspekte dieses jungen Mannes waren zersplittert, ohne Frage und vermutlich würden sie sich nie wieder gänzlich zusammenfügen lassen, doch den Scherbenhaufen, den sein Leben einst dargestellt haben mochte, hatte er weitgehend zusammengetragen. Vermutlich nicht ohne Hilfe, aber aus Erfahrung wusste Matthews nur zu genau, dass es ohne den eigenen Willen dazu, kaum einen, bis gar keinen Weg aus einer derartigen Misere gab.

„Und, was denken Sie?“, wollte Sascha aus heiterem Himmel wissen.

Eine Frage, die dem anderen im ersten Moment nur ein mildes Lächeln abrang, da sie bei fast jeder initialen Sitzung mit einem Patienten gestellt wurde. Und wie immer, bei solch einer Gelegenheit, leierte er den immergleichen Satz herunter: „Jeder Mensch ist ein Individuum, wie Sie wissen. Entsprechend kann ich Ihnen nach noch nicht einmal einer Stunde, nicht sagen ...“

„Oh jetzt kommen Sie mir nicht wieder mit diesem Geschwafel.“ Während er das sagte, verdrehte Sascha übertrieben die Augen. Seine Arroganz und das Gefühl der Überlegenheit, schimmerte so intensiv wie nie zuvor aus ihm heraus.

„Von wegen höchst individuell“, murrte er weiter. „Wenn ich eines weiß, dann dass sich immer gewisse Schema abzeichnen. Bei Milliarden und Abermilliarden Menschen, die einst gelebt haben und aktuell leben, ist es unmöglich, dass ein jeder, seine ganz eigene, persönliche Geschichte spendiert bekommt, die sich in dieser oder ähnlicher Form, noch nirgendwo anders abgespielt hat. Das gilt für Sie, wie auch für mich. Mag sein, dass die Details sich unterscheiden, doch auf das große Ganze betrachtet, verschwimmen vermutlich selbst diese irgendwann. Also, noch einmal: Aus Ihrer langjährigen Erfahrung heraus, was denken Sie über ihn?“

„Nun“, setzte Matthews betont langsam an, „wenn Sie es unbedingt ...“ Er unterbrach sich selbst mitten im Satz, als endlich vollständig in sein Bewusstsein sickerte, was er soeben gehört hatte.

Was denken Sie über ihn? Ohne es zu realisieren, da sein Hirn sich noch mit dem eben Gehörten auseinandersetzte, bewegte der Stift in seiner Hand sich von selbst und schrieb DIS? Es mochte ein wenig weit hergeholt sein, jetzt schon, aufgrund so geringer Daten, von einer dissoziativen Persönlichkeitsstörung auszugehen, doch sein Instinkt riet ihm, diese Möglichkeit zumindest im Auge zu behalten.

War es nicht seltsam, dass sein Patient darauf bestand, mit einem anderen Namen als dem eigenen angesprochen zu werden? Dann diese plötzlichen, wenn auch wenigen Wechsel, seiner Charaktereigenschaften, von unsicher/nervös, zu selbstsicher/arrogant. Und jetzt das: Die Frage, was er über ihn dachte. Hatte Sascha wirklich sein oder das Leben eines anderen beschrieben? Rührte daher sein Interesse an diesem ... Experiment, wie er es nannte? Wollte er über diesen gespiegelten Teil seiner Selbst mehr erfahren, von ihm lernen?

„Ist alles in Ordnung?“

Erneut schreckte Matthews aus den Tiefen seines Verstandes hoch. Dieses Mal aber so heftig, dass er glatt seinen Notizblock fallen ließ, welcher mit einem Kanonenschlag, der die vorherrschende Stille zerriss, auf den Boden plumpste und sich wie ein Mahnmal, zwischen ihnen beiden aufbaute. Der Therapeut erbleichte ein klein wenig, als sein Blick auf die aufgeschlagene Seite fiel, die anprangernd hervorstach und seine Gedanken preisgab.

Als er aufsah, stellte er fest, dass sein Patient kein Interesse an dem Geschriebenen zu haben schien. In der Zwischenzeit hatte er sich entspannt zurückgelehnt, ein Bein über das andere geschlagen und die Hände gefaltet in seinen Schoß gelegt, indes er dem Block keines Blickes würdigte, bemaß er seinen Therapeuten hingegen mit einer Strenge, die diesen schwer schlucken ließ.

Er fühlte sich schuldig, angeklagt, nervös und vor allem klein. Förmlich nichtig. Der Mann ihm gegenüber, nahm mit seinem Wesen auf einmal den gesamten Raum für sich ein. In seiner Miene lag eine nicht zu trübende Ruhe und Tiefe, welche in seinen graublauen Augen gebündelt wurde. Fast schon meinte Matthews bei zu langem Starren, darin versinken und nie wieder auftauchen zu können. Nur mit Mühe und unermesslicher Kraftanstrengung schaffte er es, sich davon zu lösen.

Was habe ich mir da in meine Räumlichkeiten geholt?, fragte er sich ängstlich. Ängstlich? Oh ja, es brachte nichts, darüber hinwegzutäuschen. Er brauchte sich nichts vormachen. Von einer Sekunde auf die andere, war die Situation völlig außer Kontrolle geraten und dieser Verlust war es, der ihn regelrecht zittern ließ. Ein Umstand, den er trotz allem zu verbergen versuchte, in dem er sich so gefasst wie nur möglich, gespielt beiläufig, nach vorne beugte, um seine Notizen aufzuheben. Das seine Hand dabei förmlich bebte, gestand er sich nicht ein.

„Entschuldigung“, ergriff er wieder das Wort, nachdem er sich halbwegs gesammelt und neu sortiert hatte. Darüber, dass er den direkten Blickkontakt mit seinem Patienten mied, dachte er lieber nicht weiter nach. „Ich war kurz mit meinen Gedanken woanders.“

Sein Gegenüber nickte langsam. „Ist mir aufgefallen. Also, zurück zu meiner Frage: Was denken Sie über ihn?“

Da, er tat es schon wieder! Und dieses Mal war Matthews sich sicher, dass es sich nicht um einen Versprecher handelte. Oh nein, so wie er die Frage betont hatte, kam es vielmehr einer Provokation gleich. In dieser Frage schwang eine unmissverständliche Botschaft mit. Machen wir uns nichts vor, sagte er zwischen den Zeilen, Sie wissen längst, wie die Dinge stehen. Also hören wir auf, um den heißen Brei zu reden, und kommen zum Wesentlichen.

„Was wollen Sie?“, hauchte der andere mehr, als das er deutlich sprach.

„Habe ich das nicht bereits ausgiebieg erläutert?“, hinterfragte Sascha, wobei er den Kopf leicht schief legte. „Ich will Ihren Blickwinkel auf die dargelegten Aspekte seines Lebens.“

„Sie sind sich darüber im Klaren, dass Sie von sich in der dritten Person sprechen, oder?“ Was tat er da eigentlich? Sämtliche Regeln, die er sich selbst auferlegt hatte über Bord werfen, das tat er, aber das spielte jetzt vermutlich keine Rolle mehr. Für seine übliche Vorgehensweise blieb hier kein Platz, mal von der Tatsache abgesehen, dass sie ohnehin nichts brachte.

Sascha ließ ein genervtes Raunen von sich. „Sie verschwenden meine Zeit Matthews.“

Nein, vielmehr versuchte er, Zeit zu schinden. Diese Sitzung ging ihm langsam an die Nieren. Mit einem derartigen Fall hatte er nicht gerechnet. Klar, er hatte schon schwierige Patienten behandelt, herzzerreißende Geschichten gehört oder Sitzung um Sitzung damit verbracht, den Menschen ihr leidiges Leben, ein klein wenig erträglicher zu gestaltem, aber das hier? Unvergleichbar. Dabei wusste er nicht einmal, was das hier überhaupt war.

„Ich ...“ Er stockte, hatte keine Ahnung, was er sagen sollte, setzte von Neuem an. „Ich fürchte ich kann Ihnen nicht helfen, ich meine noch nicht, es braucht noch mehr ...“

„Sagen Sie es nicht“; unterbrach sein Gegenüber harsch, ehe er ein leises Seufzen von sich gab. „Ich sehe schon, so wird das nichts.“

Bevor er nur die Chance bekam, sich zu fragen, was das jetzt schon wieder zu bedeuten hatte, wurde Matthews Zeuge einer dramatischen Veränderung. Einen unbescholtenen Beobachter wäre sie vielleicht gar nicht aufgefallen, doch er, der er nun schon eine Weile mit seinem Patienten zusammensaß, sah es sofort.

Wie er kaum merklich in sich zusammensank, plötzlich nicht mehr wie selbstverständlich auf der Couch saß, sondern so, als wäre es ihm ein wenig unbehaglich und er sich seiner selbst nicht sicher. Seine ruhige Miene blieb weiterhin gelassen, nur dass sie jetzt wie eine Mischung aus gezwungen und der Unfähigkeit zu einem anderen Ausdruck wirkte. In seinen Augen lag noch immer eine Tiefe, aber nicht mehr länger das offene Meer, in dem man sich spielend leicht verlieren konnte. Den Gipfel setzte dem Ganzen seine ruckartige, ein wenig unkoordinierte Bewegung auf, die dazu diente, das Wasserglas neben sich zu greifen und daraus zu trinken. Eine Handlung, die einzig dem Zweck diente, irgendetwas zu tun und keine bewusste Entscheidung, weil er durstig war. Er wollte seine Hände beschäftigen, um über seine Nervosität hinwegzutäuschen.

Matthews war sprachlos. Er hatte zwar schon mit Menschen zu tun gehabt, die als Schutzmechanismus andere Persönlichkeiten hervorbrachten, aber nur bei wenigen Gelegenheiten und wenn, dann hatten die Auswirkungen sich nie so extrem und unmittelbar gezeigt. Zumindest nicht in seiner Gegenwart.

Dennoch ließ sich die Frage nicht endgültig beantworten. Hatte er es hier mit einer dissoziativen Persönlichkeitsstörung zu tun oder lag dem Ganzen etwas anderes zugrunde? Wenn er von Ersterem ausging, stellte sich die nächste Frage: Welche der beiden Persönlichkeiten war die richtige, oder vielmehr, die ursprüngliche?

Er neigte dazu, davon auszugehen, dass die jetzige, die wahre Person darstellte, die seinen Patienten ausmachte. Traumatische Ereignisse in seinen jungen Jahren – über die er nicht so leichthin, wie über die bisherigen sprechen würde – hatten die selbstsichere Version seiner Selbst hervorgebracht. Als Barriere, zwischen sich und der Außenwelt, als Schirm, der alle negativen Einflüsse oder unangenehmen Situationen von ihm abprallen ließ.

Andererseits schien eben diese Persönlichkeit ihn vielmehr auszufüllen. Lag es daran, dass er sie so oft hervorbrachte, dass sie zu einem wesentlichen Bestandteil von ihm geworden war, oder steckte da mehr dahinter? Irrte er sich womöglich mit seiner voreiligen Vermutung? Könnte es sein, dass diese nervöse, unsichere Variante ihn vor Schaden bewahrte, indem sie sich unscheinbar und nicht beachtenswert gab? Matthews war beliebe kein oberflächlicher Mensch, doch er gestand sich ein, dass er diesem jungen Mann, wie er ihn just vor sich hatte, auf offener Straße vermutlich nur wenig bis gar nicht beachten würde.

Zwei sinnige Theorien und keine Antwort, vor allem da es galt die grundlegende Frage – DIS ja oder nein? – zuerst zu beantworten.

„Sascha?“, fragte er gelassen. Jetzt, da die andere Persönlichkeit – vorerst blieb er bei seiner Vermutung – wieder hervorgetreten war, fühlte er sich deutlich wohler.

„Ja?“, erwiderte dieser kleinlaut, bevor er sich verhalten räusperte und von Neuem ansetzte. „Ja?“ Es klang immer noch ein wenig kläglich.

„Sind Sie sich ihm bewusst?“ Direkte Konfrontation. Unter anderen Umständen ein Risiko, aber in diesem Fall der einzige Weg, den Matthews sah, um voranzukommen.

Zur Antwort nickte sein Gegenüber.

„Was ist er für Sie?“

„Ein stetiger Begleiter“, meinte er, ohne groß darüber nachzudenken. „Seit einiger Zeit schon. Außerdem ein Mittel zum Zweck.“ Seltsam ihn auf einmal nicht mehr so redselig zu hören. Die übermittelten Informationen waren dennoch äußerst interessant und zudem weit weniger unheimlich.

„Wie darf ich das verstehen?“

„Ich bediene mich seiner ... Talente.“

Also doch! Aber nicht so vorschnell, schließlich war es weiterhin möglich, dass sein Patient etwas gänzlich anderes meinte, als Matthews glaubte. „Was für Talente?“

„Größtenteils seine schriftstellerischen.“

Das kam unerwartet und ließ den Therapeuten kurz taumeln. „Sie ... schreiben?“

Er nickte.

„Und er besitzt das Talent dazu?“

Erneutes Nicken, ohne dass seine Mimik sich groß veränderte. Zumindest diese Eigenschaft hatten die beiden gemein.

„Gibt es noch andere Gelegenheiten in denen Sie sich seiner ... bedienen?“

„Selten. Manchmal versuche ich mir ein wenig seiner Selbstsicherheit abzukupfern, aber das funktioniert nur marginal. Außerdem gefällt es ihm nicht. Er billigt meinen Missbrauch seiner schriftstellerischen Fähigkeiten schon nur zähneknirschend.“

Mit jedem Wort wurde dieser Fall seltsamer. Wenn es stimmte, was der junge Mann da sagte – und es gab keinen Grund, ihm nicht glauben –, dann konnte Matthews seine Theorien in die metaphorische Tonne treten, denn sie trafen nicht zu. Kein Schutzmechanismus, sondern eine widerstrebende Symbiose. Nur ... was hatte der andere davon?

Genau diese Frage stellte er Sascha.

„Er lernt von mir. Erfährt, wie es ist, ein halbwegs normales Leben zu führen.“

Das Experiment, schoss es ihm wieder durch den Kopf. So war das also. Der eine Teil lernte von dem anderen, indes dieser sich seine Talente zunutze machte. Gleichwohl vermischten sich die Interessen scheinbar an ein paar Punkten, denn dem Therapeuten kam es vor, dass unter anderem, die philosophischen Aspekte, die während des Gespräches angeschnitten worden waren, von beiden kamen.

Somit wäre es durchaus denkbar, dass der Wunsch nach anderen Blickwinkeln, ebenfalls von beiden gleichzeitig gestillt werden wollte. Faszinierend war nur, dass es trotz einiger Gemeinsamkeiten, Streitpunkte zwischen ihnen zu geben schien. Dass es dem einen Teil nicht gefiel, von dem anderen missbraucht zu werden, er es zugunsten seiner eigenen Ziele aber zuließ, war Matthews in seiner bisherigen Berufserfahrung bislang nicht untergekommen.

Außerdem führte es ihn zu einer weiteren Frage. „Und was passiert, wenn er zu Ende gelernt hat?“

Anders als zuvor antwortete Sascha nicht sofort. Er erweckte nicht den Eindruck, darüber nachdenken zu müssen, eher, als ob er sich davor scheute. „Entweder er wird sich mit dem Erfahrenen zufriedengeben oder ...“

Er sprach nicht weiter. Dem Anstand hätte es gebührt, zu schweigen, ihm dieses Geheimnis für den Augenblick wahren zu lassen, solange bis er bereit wäre, es mit jemandem zu teilen, doch den Therapeuten packte die wissenschaftliche Neugierde. Womöglich war es auch reine Neugierde, ohne wissenschaftliches – rechtfertigendes? – Interesse. „Oder was?“

„Oder es wird ihn nach mehr verlangen.“

„Wie meinen Sie das?“

Unbehaglich rutschte Sascha auf der Couch ein wenig hin und her. „Womöglich genügt ihm das Lernen und die Erfahrung durch mich nicht mehr, sondern er will dieses Leben, tatsächlich leben.“

Wenngleich etwas kryptisch formuliert, verstand Matthews sofort, was der junge Mann damit meinte und diese Erkenntnis jagte ihm einen eisig kalten Schauer über den Rücken. Er könnte vollends die Kontrolle übernehmen. Bei der Vorstellung wurde ihm mulmig. Er hatte nur wenige Minuten in der Nähe dieses Mannes verbracht und hätte auf einige davon, gerne verzichtet. Wie musste es sein, ununterbrochen an der Seite von ihm zu leben, mit ihm zu koexistieren? Und zu allem Überfluss die Sorge, wenn nicht gar regelrechte Angst zu verspüren, eines Tages von ihm verdrängt zu werden?

Je länger sich diese Bilder in seinem Kopf abspielten, desto mehr wandelte sich sein mulmiges Gefühl in eine leichte bis mittelschwere Übelkeit.

Doch halt, ging er nicht schon wieder einen Schritt zu weit? Empfand er nicht vorschnell Mitleid mit einem Menschen, von dem er immer noch nicht wusste, mit wem oder was er es zu tun hatte? Wer versicherte ihm denn, dass der arme, arme junge Mann, der um seine Existenz fürchtete, ursprünglich überhaupt jemals existiert hatte?

„Wenn Sie diese Vorstellung so sehr mit Unbehagen erfüllt, warum trennen Sie sich dann nicht von ihm?“ Ihm war gewahr, wie naiv diese Frage klang und dass es nicht so leicht war, einer anderen Persönlichkeit mal eben auf Wiedersehen zu sagen, doch das war es nicht, worauf er hinauswollte.

„Weil er es nicht kann“, kam die tonlose Antwort, so kalt gesprochen, dass die Zimmertemperatur gefühlt um einige Grad sank.

„Willkommen zurück“, grüßte Matthews den anderen, den Experimentierenden. Seltsamerweise überraschte ihn das plötzliche Auftreten desjenigen nicht. Dennoch wurde ihm so gleich wieder ein wenig zittrig zumute.

„Mich zu verabschieden“, sprach Sascha oder wer auch immer er war, ohne auf den Gruß einzugehen, „würde bedeuten sich von einem kohärenten Teil seiner Selbst zu verabschieden. Er hat sich schon zu lange mit mir beschäftigt und mich vor allem ausgenutzt, als dass er so einfach loslassen könnte. Genauso gut könnte er sich sein eigenes Herz aus der Brust reißen, der Effekt wäre in etwa der Gleiche.“

„Warum?“, fragte der Therapeut plump.

Er gluckste leise, während er sein selbstgefälliges und –zufriedenes Lächeln lächelte. „Weil das Schreiben, das ich ihm erst ermögliche, zu einem wesentlichen Aspekt seines Lebens geworden ist. Es ist sein Ventil, um Dampf abzulassen, eines der wenigen Gegenmittel für seine Sucht, die ihn sonst zerfressen und zerstören würde.“

Je länger er sprach, desto mehr Abscheu empfand Matthews für diesen Mann. Hatte er ihn zu Anfang noch auf eine gewisse Weise fasziniert, sah er nunmehr nur eine Bestie vor sich, einen blutsaugenden Vampir, der sich an andere heftete, sich von ihnen ernährte. Wie ein Parasit hatte er sich eingenistet, hatte mit überzeugender Stimme gesäuselt und verführt, einen Ausweg geboten. Doch war dieser Weg keine gerade Linie, die irgendwann zur Erlösung führte, sondern eine sich tiefergrabende Spirale, die nur einen möglichen Ausgang kannte.

„So schnell erlauben Sie sich bereits ein Urteil, Matthews?“

Er versuchte es sich nicht anmerken zu lassen, wusste aber nur zu genau, dass sein Gegenüber, das leichte Zucken, dass durch ihn gegangen war, bemerkt hatte. „Wie kommen Sie darauf?“

Sascha schüttelte den Kopf. „Verkaufen Sie mich nicht für dumm. Ihre Meinung ist Ihnen ins Gesicht geschrieben. Dabei sollten Sie erst einmal bedenken, dass ich hier das Opfer bin, nicht er. Immerhin ist er in meine Welt eingedrungen, hat sich den Nächstbesten mit einem gewissen Maß an Talent ausgesucht, seinen Namen gestohlen und es sich freiherausgenommen, all das und mehr, für sich zu beanspruchen. Ich würde sagen, wenn ich mir im Gegensatz dafür, Stück für Stück das seinige Leben an den Nagel reiße, ist das nur ein fairer Tausch.“

So falsch es auch klang, Matthews konnte sich dieser Logik nur schwerlich erwehren. In gewisser Weise waren sie beide die Monster, die Parasiten, die sich gegenseitig ausnutzten, um die Vorherrschaft kämpften und dabei gemeinsam in den Abgrund stürzten, der aus ihrer Symbiose mehr und mehr ein seltsames Gemisch zweier Welten zu einer formte.

Was würde am Ende daraus werden? Wie mochte der Phönix, der in ein paar Jahren oder Jahrzehnten aus der übrigbleibenden Asche dieses fortwährenden Krieges emporstieg, aussehen? Er war sich nicht sicher, ob er es wissen wollte.

„Wir sind Gegensätze Matthews“, erklärte der junge Mann, als ob er seine Gedanken gelesen hätte. „Ich bin der Rationale, er der Gefühlvolle – auch wenn er sich das nicht eingestehen will. Meine Kühle hätte ihn damals, vor vielen Jahren, als er noch nichts von mir wusste, beinahe das Leben gekostet. Verdrängt wurde sie durch sein hitziges Gemüt, dass zu den unpassendsten Gelegenheiten, immer mal wieder hervorbricht.“ Während er weitersprach, löste er seine Beine aus dem Überschlag und lehnte sich leicht vor. Er streckte eine Hand aus, wies mit der leeren Fläche nach oben. „Ich bin die Ruhe.“ Die andere Hand ballte er zur Faust. „Er der Sturm.“

Es vergingen einige Sekunden, in denen Matthews nur von einer Hand zur anderen sah. Sein Geist brachte keine sinnvollen Gedanken mehr hervor, alles, was er ihm zuschrie, war bloß nicht auf zusehen, nicht in das Gesicht seines Patienten zu schauen und vor allem nicht in seine Augen.

Als die tosende Stille anhielt und immer unerträglicher wurde, während sein Mund sich in eine Staubwüste verwandelte und seine Augen, die er nicht zu schließen vermochte, zu brennen anfingen, ertrug er es nicht mehr und tat es doch. Was er sah, raubte ihm den Atem, ließ sein Herz einen quälend langen Moment aussetzen und trieb ihm den Schweiß auf die Stirn, wobei es ihm gleichzeitig eiskalt den Rücken unterlief.

Für den Bruchteil einer Sekunde war ihm, als hätte sich die Augenfarbe des jungen Mannes zu schwarz und weiß gewandelt, wobei die Pupille des einen Auges schwarz und die Iris weiß war und die des anderen Auges umgekehrt. Dieser Eindruck verflüchtigte sich so schnell, wie er kam und war es nicht, was ihm so zusetzte.

Vielmehr waren es andere Gegensätze, die zu analysieren sein gemartertes Hirn überforderten. Brennende Wut vermengt mit seligem Frieden. Freudige Verzweiflung, die sich lachend ins eigene Verderben stürzte. Blanker Hass, der bedingungsloser Liebe gegenüberstand. Bittere, eisigkalte Gefühlsleere, die in ein Meer der aufwallenden Emotionen mündete.

Das Bild prasselte wie Faustschläge auf den Therapeuten nieder, dessen Denken sich gefährlich nahe an einem Systemabsturz bewegte. Eine halbe Ewigkeit saß er nur da, starrte auf das Gefecht vor sich, dass sich ihm bot und fühlte sich als unbescholtener Beobachter, wie ein brabbelnder Idiot, der versuchte die geheimnisvollen Zusammenhänge des Seins selbst zu entschlüsseln.

Nach einer gewissen Zeit – Sekunden? Minuten? Stunden? ... Tage? – legte sich das blitzende Gewitter, das gleichwohl einem strahlenden Sonnentag unterlag. Die vermengte Personifizierung schlug wieder nur in eine Richtung aus, veränderte sich zu dem grauen Einerlei, welches nur hin und wieder durch Zynismus und Überheblichkeit durchbrochen wurde.

„Und“, setzte Sascha ruhig, rational und kühl an, „was denken Sie über uns?“

„Ich denke“, erwiderte Matthews mit belegter Stimme, ohne aufzusehen – nachdem er sich endlich hatte lösen können, war sein Blick nach unten zum Boden gerutscht und verharrte nun dort, „dass Sie jetzt gehen sollten. Unsere Zeit ist für heute leider um.“

Es kostete ihn unvorstellbare Kraft, diese zwei Sätze auszuformulieren, fühlte sich dabei aber so unendlich gut an. Obgleich mit ihnen auch eine gewisse Sorge, nein Angst, ach was, regelrechte Panik mitschwang, sein Gast – als Patient betrachtete er ihn nicht länger, denn es gab nichts, was er für diesen Menschen tun konnte – könnte sich widersetzen und gegen seinen Wunsch, einfach bleiben. Er vermochte nicht zu prophezeien, wie er dann reagiert hätte. Aufspringen und sich aus dem Fenster stürzen, klang nach einer viel zu verlockenden Alternative ...

„Oh“, machte sein Gegenüber überrascht. „Ist es tatsächlich schon so spät. Tja dann will ich Ihre Geduld natürlich nicht länger strapazieren Matthews.“ Er erhob sich und setzte dazu an, die Räumlichkeit zu verlassen. An der Tür blieb er allerdings stehen und drehte sich noch einmal halb zu dem Therapeuten. „Ich empfehle mich ... für heute.“ Dann öffnete er sie, trat hinaus und warf sie sacht hinter sich ins Schloss zurück. Das Klicken, mit dem sie einrastete, schallte lange Zeit in Matthews Ohren nach.


Nach ausführlichem Durchdenken dieser Sitzung habe ich einen Entschluss gefasst. Mein Koffer ist mit dem Nötigsten gepackt und meine Tickets bestellt. Ich werde noch heute das Land verlassen und nie zurückkehren. Das mag eine drastische Entscheidung sein und für einen Außenstehenden reichlich übertrieben wirken, doch für mich ist es die einzig logische Handlung.

Die letzten Worte Saschas gehen mir nicht aus dem Kopf. Es hat nicht wie eine Drohung geklungen, nur wie ein nüchtern vorgetragenes Versprechen und ich schätze ihn – oder sagen wir, diesen Teil von ihm – wie jemanden ein, der seine Versprechungen immer hält.

Zum Abschluss aber noch ein paar Worte oder vielmehr Überlegungen meinerseits.

Diese kurze Episode, in der ich eine Begegnung mit einem durch und durch chaotischen Wesen hatte, lässt mich nicht mehr los. Nicht, aus den offensichtlichen Gründen, sondern weil ich mich unentwegt frage, wer oder was er war. War er wirklich die Verschmelzung zweier Persönlichkeiten, oder nicht sogar eine dritte, komplett eigenständige? Etwas ... Fremdartiges ist von ihm ausgegangen, dass mir jetzt, da ich mehr darüber nachdenke, unentwegt vor Augen schwebt.

Wenn ich davon ausgehe, dass nicht zwei Persönlichkeiten, sondern drei in diesem Körper stecken, bleibt immer noch die Frage, welche davon die Echte ist, die Wahre, die die als Erstes da war.

Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Vermutlich nicht die dritte, aber dies urteile ich ohne jedes argumentative Fundament. Es nur ein ... Gefühl.

Außerdem kann ich nicht vergessen, was er gesagt oder besser, wie er es formuliert hat. „Immerhin ist er in meine Welt eingedrungen ...“ Was hat er damit gemeint? In seine Welt eingedrungen ... Im ersten Moment habe ich es metaphorisch aufgefasst, doch mittlerweile bin ich mir unsicher, ob er es so beabsichtigt hat.

Wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, bin ich mir nach ausführlichem Zerdenken dieser Sitzung in nichts mehr sicher. Vor dieser Stunde hatte ich verhältnismäßig klare Vorstellung von mir und meiner Umwelt. Jetzt hingegen ...

Es ist fast so, als hätte er einen Hammer genommen und alles, was mich und meinen Glauben einst ausgemacht hat, mit einem Hieb zerschlagen. Ich sehe die Dinge ... anders. Beginne zu hinterfragen, was ich für selbstverständlich gehalten habe, betrachte alles aus einem anderen Blickwinkel.

Es wird Zeit für einen Wandel in meinem Leben, für einen Tapetenwechsel sowieso.

Ich weiß nicht, ob ich ihm dankbar sein oder mich für den Rest meiner Zeit vor einem Wiedertreffen mit ihm fürchten soll, doch eines ist gewiss: Der heutige Tag, war eine Erfahrung, die sich mit nichts vergleichen lässt.

PS: An meinen Vermieter oder wer auch immer diese schriftlichen Aufzeichnungen hier findet, die ich zurücklassen werde, da ich sie nicht länger benötige: Sollte sich jemals ein gewisser Mister ***** bei Ihnen melden, sei es, weil er sich nach mir erkundigt, oder weil hier eine neue Praxis aufmacht, machen Sie sich auf eine interessante, verstörende, wunderliche und alles Bekannte zerschmetternde Begegnung gefasst.

Mit freundlichen Grüßen,

med. Matthews