Deutsches Creepypasta Wiki
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Witterung[]

Als die Venus rote Tränen weinte und der kalte Himmel über unseren Köpfen zu zerfallen begann – da wusste ich, dass wir bald im Blute Gottes ertrinken würden und etwas meinem Schoß entstiege, das niemals stirbt, aber auch niemals wirklich lebe.

 

Der Weihnachtsmarkt war seit jeher ein äußerst fröhlicher Anlass für mich gewesen, um mich des Lebens zu erfreuen und jede Sekunde lang zu zelebrieren, wie sorgenlos doch alles zu dieser festlichen Zeit erschien. Doch dieses Jahr fühlte ich nicht die Wärme des Glühweins, den ich vor keiner halben Minute geleert hatte. Jedes Jahr kaufte ich dieses traditionelle Getränk am selben Stand, trank ihn beinahe zur selben Zeit wie eh und je, und auch wenn der Preis jedes Mal ein wenig mehr in die Höhe schoss, so schmeckte er dennoch genauso wie immer und erfüllte meinen Leib mit einer sanften Woge des Wohlbefindens. Wie ein kleiner Sonnenstrahl, der meinen zuvor noch kalten Körper auftauen ließ.

Doch dieses Jahr war es anders. Zwar schmeckte er gleich und ich verbrühte mir in traditioneller Weihnachtsmarktmanier die Zunge an dem heißen Gebräu, aber als es erst meine Kehle hinunter in den Magen lief, verflog das Gefühl von Wärme sogleich und ich fokussierte mich wieder vollends auf diesen dumpfen Schmerz, der in meinem Bauch pochte. Seufzend holte ich eine Fluppe aus meinem Zigarettenetui hervor und versuchte sie anzustecken, doch wie schon so viele Male zuvor versagte Saschas Feuerzeug kläglich bei dem Versuch, mir meine nötige Dosis Nikotin zukommen zu lassen.

Entnervt, und insgeheim diesen Nichtsnutz verfluchend, suchte ich den Markt nach einer anderen potentiellen Feuerquelle ab, die sich als brauchbarer erweisen würde als das Scheißding, welches ich noch in meiner linken Hand hielt und das ich langsam, aber energisch, zusammendrückte, bis sich meine Fingerknöchel weiß wie Schnee verfärbten. Ha, Schnee… wie lange hatte ich diese kleinen Flöckchen aus gefrorenem Wasser schon nicht mehr gesehen. Inzwischen hatte ich sowieso jegliche Hoffnung aufgegeben, jemals wieder sowas wie einen Schneemann oder zumindest einen einzigen fliegenden Schneeball zu sehen.

Als ich die kleine Feuerstelle direkt neben der Pommesbude entdeckte, stolperte ich fast binnen einer Sekunde über den ganzen Markt, um mir einen Platz neben dieser zu sichern und mir sogleich eine Kippe daran anzustecken. Die Blicke, die ich mir dabei einfing, waren giftiger als all die ekelhaften Schlangen, die Sascha in einem Terrarium direkt neben seinem Bett im Schlafzimmer hielt, zusammen. Was ging es sie an? Rauchverbot wurde mir ja schließlich nicht erteilt und wenigstens unter freiem Himmel sollte es einem ja wohl noch gestattet sein, oder nicht? Zumal es mein Körper war, und mit dem konnte ich ja wohl verdammt nochmal anstellen, was ich wollte.

,,Was für eine Schande…“, flüsterte ein älterer Herr im Vorbeigehen, während die ebenfalls ältere Dame, die ihn begleitete, mich nur kurz schweigend von oben bis unten musterte und dann wortlos den Kopf schüttelte.

,,Schämen sollten sie sich!“, meldete sich eine etwas jüngere Frau zu Wort, die ihren Worten auch deutlich mehr Nachdruck verlieh, als es der ältere Herr getan hatte.

Ich ignorierte ihre Versuche, mir Schuldgefühle einzureden, und zog genüsslich weiter an meiner Zigarette, schloss die Augen und versuchte die Hitze, die das Feuer abgab, in meinen erkalteten Leib aufzunehmen, doch es schien beinahe so, als würde sämtliche Wärme von meinem Körper abprallen, so als sei ich eine fleischgewordene Thermoskanne, die von allen Umwelteinflüssen verschont bliebe.

Plötzlich zog ein kühler Luftzug an meinem Gesicht entlang, und als ich die Augen wieder öffnete, sah ich nur noch, wie meine Zigarette aus meinem Mund in eine dreckige Pfütze vor mir fiel und zischend ihre kleine Glut verlor. Fast zeitgleich sah ich zudem noch die zierliche Hand, die wieder zu Boden sank, nachdem sie eben noch durch die Luft gesaust war, um mir meine Kippe wegzuschlagen. Zunächst noch fassungslos, dann aber umso erboster stürzte ich nach vorne und gab der dämlichen Ziege einen so heftigen Stoß, dass sie rücklings in eine kleine Gruppe von Menschen fiel und, von einem dumpfen Geräusch begleitet, auf ihrem knöchernen Arsch landete.

,,Was zum Teufel sollte der Scheiß?!“, brüllte ich sie an.

,,Genau dasselbe habe ich mich auch gerade gefragt, als ich sie gesehen habe, sie verantwortungsloses Miststück! Wie können sie nur sowas Abstoßendes tun?!“

,,Entschuldigung? Das ist mein verfluchter Körper, und mit dem kann ich ja wohl anstellen, was ich will!“

,,Gott weiß, dass es mir scheißegal ist, ob ihre Lunge einem Schornstein ähnelt oder ob sie mit zwei Raucherbeinen wie ein überdimensional fetter Pinguin über den Weihnachtsmarkt watscheln, aber das, was da in ihnen wächst, ist nicht ihr Körper, also hören sie in Gottes Namen auf, es mit ihrem Dreckszeug gleich mit zu vergiften!“

Schuldgefühle wollte sie mir einreden? Dann kam sie sowieso ein wenig zu spät, denn nach acht Monaten Rauchen und Trinken würde dieser letzte Monat sicherlich nicht mehr allzu entscheidend sein. Als ich meinen Glühwein vorhin in Windeseile ausgetrunken hatte, hatte sich ja auch keiner darüber beklagt – als ob Rauchen jetzt so viel schlimmer wäre.

Gerade als ich mir eine weitere Zigarette anstecken wollte und sich das dumme Blondchen wieder aufrichtete, um in den Angriffsmodus zu gehen, legte sich auf einmal eine große Hand, mehr einer Pranke gleichend, auf meiner Schulter ab und zog mich sanft, aber dennoch fordernd davon, und da mir diese Geste recht entgegenkam, um mich schnellstmöglich aus dieser doch sehr lästigen Situation zu befreien, gab ich dem Impuls nach, den mir jene fremde Hand gab, und ließ mich hinter die nächste Bude ziehen, wohin mir diese dämliche Schlampe zum Glück nicht folgte.

Ich wollte mich umdrehen, um meinem „Retter“ ins Gesicht zu sehen, doch bevor ich einen Blick auf sein Antlitz erhaschen konnte, hielt er mir zwei volle Tassen Glühwein entgegen und blockierte mit diesen meine Sicht auf ihn.

,,Bitte, trinken sie. Sie sehen ja völlig verfroren aus.“

Seine Stimme war so klar und wirkte dennoch so unheimlich verzerrt. Beinahe wie eine Eisskulptur stand er vor mir und streckte mir die Tassen weiterhin entgegen, ohne sich auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Nicht einmal zittern tat er, und das war eigentlich recht verwunderlich, wo wir doch bereits wieder -7 Grad hatten. Naja, andererseits war das natürlich nichts im Vergleich zu den Temperaturen, die noch vor ein paar Jahren zur Weihnachtszeit die Straßen erfüllt hatten.

,,Diese Menschen wissen doch gar nicht, was sie da reden. Ich finde, eine Frau sollte doch noch selbst darüber entscheiden dürfen, was sie ihrem Körper zumutet und was nicht. Wer zur Hölle sind die schon, dass sie sich anmaßen, ihnen ihre Ansichten so gewaltsam aufdrängen?“

Er überraschte mich mit seinem Einfühlungsvermögen. Zwar war ich wenig begeistert von dem Verhalten der anderen Passanten, aber das volle Verständnis des Fremden erschien mir in diesem Fall doch deutlich suspekter als die Abscheu eines jeden anderen. Dennoch nickte ich zustimmend und nahm dankend eine der Tassen entgegen, um sie binnen weniger Züge zu leeren, während ich interessiert sein Gesicht musterte, das ich nun erstmals zu erblicken vermochte.

Seine Augen waren kalt, starrten wie zwei Glaskugeln, in denen pulveriger Schnee umherschwebte, an mir vorbei. Zunächst war ich etwas verblüfft, dass er mich mit solcher Leichtigkeit an den vielen Buden vorbei zu lotsen vermochte, doch dann dachte ich daran, dass Blinde ihre Umgebung schließlich auch ganz anders wahrnahmen, als ich es beispielsweise tat. Was kümmerte es mich auch? Wichtig war nur, dass dieser Mann nett zu mir war, und in Anbetracht der Umstände kam mir ebensolch ein Mensch zurzeit sehr gelegen. Denn anstatt mit Nettigkeiten warfen die Menschen mit Steinen nach mir, und selbst daheim gab es niemanden außer Sascha, den Mann, der mir Halt geben und mich aus diesem See aus Elend und Scheußlichkeit heraushieven sollte, doch stattdessen hängte er lediglich tonnenschwere Betonschuhe an meine Füße, um meinen Untergang endgültig zu besiegeln.

Ich griff nach der zweiten Tasse, die er mir ebenfalls mit einem fast schon grotesk erwartungsvollen Ausdruck überreichte.

,,Wissen sie schon, wie sie es nennen wollen?“

Ich überlegte einen Moment. Sascha hatte sich bereits Namen überlegt, doch gefallen hatte mir keiner so wirklich. Mich hatte er jedoch bezüglich dieses Themas überhaupt nicht zu Wort kommen lassen, da er offenbar nicht einmal in Erwägung zog, dass ich als Mutter vielleicht auch einen Namensvorschlag haben könnte.

,,Natalie – falls es ein Mädchen wird. Wird es ein Junge, würde ich ihn vermutlich Bastian nennen.“

,,Und wie steht der Vater dazu, dass sie während der Schwangerschaft ihrer Nikotinsucht weiterhin nachgehen und sich zudem alkoholische Getränke zu Gemüte führen?“

Oh nein, er würde doch jetzt nicht auch damit anfangen, doch gerade als ich darüber philosophierte, warum er sich jetzt beschwerte, nachdem er mir zwei Tassen Glühwein ausgegeben hatte, fuhr er mit seinem Satz fort.

,,Nicht, dass ich sie verurteile, doch mich interessiert ihre Familienplanung außerordentlich.“

,,Und wie genau kommt das? Sicherlich haben sie doch einen triftigen Grund, dass sie mich vor dieser wütenden Meute gerettet, mir zwei Tassen Glühwein ausgegeben haben und sich nun so sehr für mein Kind interessieren.“

,,Sagen wir, ich bin einfach nur eine überaus neugierige Person.“

Nicht gerade eine Antwort, die mich zufriedenstellte, doch irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich mich dem Fremden anvertrauen konnte. Klar, vielleicht war es der Alkohol oder die Dankbarkeit, die ich für ihn empfand, basierend auf all den Freundlichkeiten, die er mir in dieser kurzen Zeit entgegengebracht hatte, doch mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit war es einfach meine Einsamkeit und das Gefühl, von allen verlassen worden zu sein, die mich in die Arme einer Person trieben, die ich zuvor noch nie erblickt hatte, doch für die ich bereits jetzt mehr Liebe empfand als für all die anderen Menschen in meinem Umkreis. Diese waren nämlich inzwischen nichts weiter als gierige, aasfressende Insekten, die sich über mich hermachten, als sei ich ein verendetes Tier, das als Brutstätte genutzt und dann vertilgt werden konnte.

,,Den Vater kenne ich selber kaum und ich bezweifle, dass Klein-Natalie beziehungsweise Klein-Bastian ihn jemals kennenlernen wird.“

,,Heißt das, dass sie niemanden haben, der sich nach der Geburt des Kindes um sie kümmert? Ich meine, sicher werden sie Mutter und Vater haben, die sich ihnen annehmen, aber meinen sie, dass sie sie ausreichend zu unterstützen vermögen?“

,,Mein Freund ist auch noch mit von der Partie und steht mir bei, wenn ich mein Kind großziehe.“

,,Sagten sie nicht, sie kennen den Vater kaum?“

,,Tue ich auch nicht. Er ist schließlich nicht der Vater, sondern irgendein Typ, der mal gut mit meinem Bruder befreundet war und jetzt seit einiger Zeit scharf auf mich ist. Er ist nicht gerade der Hellste und seine Definition von Liebe ist auch nicht gerade auf dem neusten Stand, aber da meine Eltern schwer krank und somit kaum eine Hilfe für mich sind, ist er zumindest eine kleine Absicherung meinerseits, um mit meinem Baby gut über die Runden zu kommen.“

,,Und der Vater? Was ist aus ihm geworden?“

,,Keine Ahnung. Vielleicht sitzt er im Gefängnis, vielleicht wurde er abgeschoben oder vielleicht irrt er sogar genau in diesem Moment über diesen Weihnachtsmarkt hier, ohne dass ich es jemals mitbekommen würde. Wen kümmert das schon? Ich habe es inzwischen überwunden, denke ich. Manche Frauen zerbrechen förmlich an einer Vergewaltigung, aber ich denke, dass ich es ziemlich gut verkraftet habe. Die ersten Wochen danach waren wirklich furchtbar, aber überwunden habe ich es dennoch. Inzwischen hätte ich es vielleicht sogar gänzlich aus meinem Gedächtnis ausradiert, wenn er mir nicht dieses grässliche Andenken dagelassen hätte.“

Mit einer guten Portion Wut, die in meinen Augen aufblitzte, sah ich auf meinen Bauch hinab und dachte sogleich wieder an den Tag, an dem ich von der Schwangerschaft erfahren hatte. Ich war bereits im zweiten Monat, doch aus irgendeinem Grund dachte ich, dass es passieren kann, dass meine Periode so lange ausblieb. Sascha kannte ich zu diesem Zeitpunkt schon, und als er von dem Baby erfuhr, schlug er mich zunächst erbarmungslos zusammen, so als wäre es meine Schuld, dass ich vergewaltigt worden war. Warum hast du Schlampe nicht die Pille genommen?!, hatte er gefragt, doch ich habe ihm nie eine Antwort darauf gegeben. Schließlich war ich auch fest davon überzeugt, dass ich ihm keinerlei Erklärung schuldig wäre. Ich schlug ihm vor es abzutreiben, doch dann schrie er plötzlich, dass das Leben heilig sei und er mir den Schädel zerschmettern würde, wenn ich das tun würde.

Ich denke, die Tatsache, dass er mir mit Mord drohte, weil Töten falsch war, spiegelte seinen allgemeinen Geisteszustand ziemlich gut wider, aber auch wenn er dumm wie kein anderer war, so war er dennoch überzeugend genug und ich schlug mir die Abtreibung wieder aus dem Kopf. Dass ich rauchte und trank, interessierte ihn hingegen nicht. Scheinbar war er zu blöd, um zu wissen, dass diese beiden Dinge unter Umständen zu einer Fehlgeburt oder Missbildungen führen könnten. Warum ich bei ihm blieb, konnte ich selber gar nicht mehr genau sagen. Vermutlich hatte ich einfach Angst, dass er mir nachsteigen und mich wahrhaftig umbringen würde, wenn ich es wagen sollte, ihm den Rücken zuzukehren. Und jetzt stand ich hier. Hochschwanger, die Zigarette in der einen Hand und die Glühweintasse in der anderen, während ich mich mit einem blinden Typen unterhielt, der beinahe euphorisch von all den Dingen war, die ich ihm erzählte, und dem beinahe der Speichel aus dem Mund lief, wenn ich mir über den Bauch strich, an meinem Getränk nippte und einen Zug von meiner Kippe nahm.

Für den Bruchteil einer Sekunde wirkte es beinahe so, als würden die Augen des Mannes heller scheinen. So als wären sie zwei Vollmonde, die soeben ihr Licht erhalten haben, um die Dunkelheit ein Stück weit zu vertreiben.

,,Sie sind eine wirklich faszinierende Frau, wissen sie das?“

,,Ich wüsste nicht, was mich so faszinierend machen sollte.“

,,Nun…“, begann er und steckte sich nun selber eine Zigarette mit einem sehr alten, aber wunderschönen Feuerzeug an, die ich selbst nur aus teuren Antiquitätenshops kannte.

,,… sie sind eine höchst ungewöhnliche Frau. Sie haben so eine völlig andere Ausstrahlung als all die anderen Menschen hier auf dem Markt.“

Er kam näher an mich heran, und für einen Moment glaubte ich mich in dem schneegleichen Weiß seiner Augen spiegeln zu können.

,,Während Menschen wie sie, Menschen mit funktionstüchtigen Sehnerven, andere Leute anhand ihres Äußeren erkennen und beurteilen, schaue ich hingegen auf ihre Aura – die Energie, die von ihren Körpern ausgeht. Eine Woge, die uns allesamt umhüllt und die all das in die Welt aussendet, was uns ausmacht. Gewöhnliche Menschen haben verlernt, diese Aura wahrzunehmen, doch ich spüre sie jedes Mal deutlich an mir entlangstreifen, sobald ein Fremder meinen Weg kreuzt.“

Was dieser Mann da von sich gab, vergrößerte meine anfängliche Skepsis ihm gegenüber umso weiter, doch andererseits wuchs in meinem Innern eine Faszination für diese fremde Person heran.

,,Und was sagt meine Aura über mich aus?“

Jetzt strich er mir sanft über die Wange und grinste. Es hatte beinahe etwas Diabolisches an sich. Wie bei einem Raubtier, das die Zähne zeigte.

,,Oh meine Teuerste, wenn ich ihnen das sagen würde, hielten sie mich für verrückt.“

Fast eine halbe Minute lang standen wir nur schweigend da und verweilten völlig ruhig in der eingenommenen Pose. Dann ließ er von mir ab, wich ein paar Schritte zurück und lächelte mich an.

,,Wenn sie wollen, könnten sie mir ihre Telefonnummer oder Adresse geben. Ich würde es dann an meine Schwester weiterleiten. Sie ist nämlich Tagesmutter, müssen sie wissen, und würde sich ihrer mit Sicherheit sehr gerne annehmen.“

,,Hm… nun ja, es wäre schon schön, aber… ach wissen sie was – hier, sie kriegen meine Telefonnummer. Bitteschön.“

Mit einem verschmitzten Lächeln reichte ich ihm ein Stück Papier, das ich aus meiner Tasche herausgekramt und auf das ich kurzerhand meine Nummer draufgekritzelt hatte. Er nahm den Zettel dankend an, nickte mir aufmunternd zu und verschwand zwischen den Buden, um eins mit der vor mir liegenden Menschenmasse zu werden. Und als ich letztendlich beschloss, es ihm gleichzutun, wurde ich von der Menge förmlich eingesogen, und ich hatte für einen kurzen Augenblick die Hoffnung, dass ich stürzen und unter diesem Meer aus Fleisch begraben werden würde, damit sie dieses Etwas aus mir heraustrampelten. Ich hasste es nicht – ich hasste das, woran es mich erinnerte und woran es mich immer erinnern würde, und alleine deswegen konnte ich mir nicht vorstellen, eine gute Mutter zu sein, denn jedes Mal, wenn ich es ansehen würde, dann würde ich nur seine Augen sehen, die mich anstarrten.

Mit demselben kalten, jedoch gierigen Blick, mit dem er mich fixierte, als er wieder und wieder in mich eindrang und seinen Samen wie einen quälenden Fluch in meinen Körper strömen ließ…

Jagd[]

Und just in dem Moment, als der Geruch des Blutes sich in ihren Nasen verfing, erwachte in ihnen die unstillbare Lust nach Sünde. Diese dann geleitete sie auf Pfade, welche

mit den Leichen der Unschuldigen gepflastert und über den die größten

aller Unheiligen wie Könige getragen werden sollten, während das Blut der Venus wie ein roter Regen vom Himmel fiel, um sie auf ewig in ihrer Begierde gefangen zu halten.

 

17. Dezember

 

Liebe Livia,

ich hoffe, dieser Brief erreicht dich noch, bevor das Weihnachtsfest beginnt. Gerade während der Feiertage muss ich immerzu an dich denken und daran, was mir mit dir alles verloren gegangen ist. Du hast so viel Leere zurückgelassen, dass ich sie wohl in diesem Leben nie wieder auszufüllen vermag, doch natürlich verstehe ich, weshalb du getan hast, was du tatest. Gerade jetzt wäre ich ungemein dankbar für deinen Beistand gewesen, denn seit ich vor zwei Tagen den örtlichen Weihnachtsmarkt besuchte, fühle ich mich verfolgt, fast schon gejagt. Ich weiß, das mag für dich jetzt ziemlich paranoid klingen, doch mir sind einige wirklich beunruhigende Dinge in letzter Zeit aufgefallen.

Der Weg, den ich immer nehme, wenn ich mit Carly draußen gegen Abend Gassi gehe, war bisher immer vollkommen leer gewesen und nur ganz selten ließ sich im Laufe des Spaziergangs eine einzelne Person in der Ferne erkennen, doch seit kurzem fallen mir immer wieder allerlei zwielichtige Gestalten auf, die in irgendwelche Gärten stehen, im Park herumlungern oder einfach nur in ihren Autos sitzen, die am Straßenrand parken. Was mich so sehr beunruhigt, ist nicht, dass ich plötzlich Gesellschaft bekommen habe, sondern dass diese Menschen keiner nennenswerten Tätigkeit nachgehen. Selbst wenn sie nur auf ihr Handy gucken würden, wäre ich mehr als beruhigt, doch sie stehen meist einfach stumm und starr da, so als wären sie nicht einmal wirklich lebendig.

Fast schon wie Zombies oder noch eher Wachsfiguren. Dieser Anblick alleine jagt mir schon eine Heidenangst ein, doch was mich nur noch mehr schaudert, ist die Tatsache, dass ich bisher noch nie ihre Gesichter gesehen habe, denn obwohl die Straßenlaternen meine tägliche Route gut ausleuchten, vermögen sie es dennoch jedes Mal, ihr Antlitz vor mir zu verbergen, so als würden sie um keinen Preis von mir erkannt werden wollen, was in Anbetracht der Tatsache, dass sie mich so auffällig zu beobachten scheinen, fast schon lächerlich wirkt. Heute war ich kurz davor, einen dieser Leute anzusprechen, doch kurz bevor ich mich dazu durchringen konnte, bekam ich Zweifel.

Ich möchte nicht unbedingt den Teufel an die Wand malen, aber ich habe langsam Angst davor, dass diese Menschen mir womöglich etwas antun könnten.

Bitte melde dich bald und ruf mich irgendwann mal wieder an. Deine neue Nummer hast du mit dem letzten Brief leider nicht mitgeschickt. Ich hoffe, dir geht es gut. Du wirst vermisst.

Liebe Grüße und frohe Weihnachten wünscht dir Lilly


18. Dezember


,,Mama…? Mama.“

,,Was ist denn mit ihr, Papa? Ist sie wieder in einer ihrer… du weißt schon – Phasen?“

,,Papa? Du auch?“

,,Was ist denn nur los mit euch? Hey! Warum sagt ihr denn nichts? Schwester!“

,,Ja bitte? Was kann ich für…?“

,,Was stimmt denn mit den beiden nicht? So schlimm hat es ja noch nie um sie gestanden.“

,,Ich fürchte, dass sie einfach einen schlechten Zeitpunkt erwischt haben. Bisher hat sich ihre Demenz meistens nachts am stärksten geäußert, aber seit heute ist das hier nun schon den ganzen Tag ihr Dauerzustand. Ich denke, alles, was sie tun können, ist abzuwarten, ob sich ihr Zustand heute noch verbessert oder ob sie lieber morgen nochmal vorbeikommen möchten.“

,,Können – können sie mich denn wenigstens hören?“

,,Das ist schwer zu sagen – möglich wäre es natürlich, aber versprechen kann ich es ihnen leider nicht, so gerne ich das auch täte.“

,,Mama? Mama, bitte sag doch was. Bitte Mama, sieh mich an…“

,,Sie – hey, Mama. Na, alles gut? Ich wollte dich nochmal besuchen kommen, da ich ja jetzt längere Zeit nicht zu dir konnte.“

,,Die, die haben mir meine Kette weggenommen…“

,,Was? Welche… Schwester, wissen sie, was sie meint?“

,,Sie spricht wahrscheinlich von ihrem Kruzifix. Wir mussten es ihr vor drei Tagen wegnehmen, da sie im Wahn versucht hat, sich mit der daran befindlichen Kette zu strangulieren, aber das hatten wir ihnen ja schon erzählt.“

,,Ja schon, nur ich wusste nicht, dass es ihre Kette war. Keine Sorge, Mama, du bekommst deine Kette schon noch wieder.“

,,Ich, ich brauche sie jetzt. Hier ist etwas, wofür ich sie brauche. Bitte Kindchen, bring mir meine Kette.“

,,Wären sie so nett? Ich bleibe auch solange bei ihr und nehme sie ihr dann wieder ab.“

,,Natürlich. Einen Augenblick bitte.“

,,Keine Sorge, Mama, sie holt deine Kette.“

,,Wer sind sie denn, mein Kind?“

,,Was… Mama, ich bin es, Lilly. Erkennst du mich nicht?“

,,Sind sie eine von denen?“

,,Von denen? Wen meinst du?“

,,Sie haben schwarze Jacken und Handschuhe getragen und einer von ihnen hatte einen großen Stock in der Hand. Und gesungen haben sie, das war sehr schön. Allerdings haben sie nur ganz leise gesungen, um die Schwestern draußen nicht zu stören, weißt du.“

,,Was stimmt nicht mit ihnen, Kindchen? Sie sind ja ganz blass.“

,,Nur ein bisschen schwindelig, das ist alles.“

,,Sie sollten sich hinlegen, Liebes. Oh… na sieh einer an, es tritt ja. Wie ein wildes Fohlen.“

,,Hier ist die Kette.“

,,Dankeschön. Guck mal, Mama, deine Kette…“

,,Moment mal, das Kreuz ist ja so verdreht – ich bin mir eigentlich auch ziemlich sicher, dass das Kruzifix meiner Mutter golden war und nicht rot.“

,,Merkwürdig. Das ist mit Sicherheit die Kette, mit der sie sich zu erwürgen versucht hat. Eine andere hatte sie nicht.“

,,Der Mann…“

,,Welchen Mann meinst du denn, Mama?“

,,Der Mann mit dem Stock und den schwarzen Handschuhen – er hat es genommen, aber er hat mir sofort ein neues geschenkt. Ist das nicht nett gewesen?“

,,Ahhh!“

,,Papa? Papa, was ist denn los?!“

,,Hinweg mit dir! Dein Blut soll mich nicht weihen, Weib! In Gottes Namen, geh fort von mir!“

,,Da soll mich doch der Teufel holen, Klaus, was regst du dich denn so fürchterlich auf?“

,,Ihre Seele ist schwarz. Da ist nichts mehr in ihr außer Finsternis!“

,,Mama, was hat er denn?“

,,Er versteht es nur noch nicht, Kindchen, aber das wird er – bald sogar – sehr, sehr bald.“

19. Dezember

 

Es war so ein eigenartiger Tag, wie ich ihn zuvor selten erlebte. Als ich heute Morgen einen Blick aus dem Fenster warf, standen vor der Haustür vier Männer, die ich vorher noch nie gesehen habe. Klar, das mag jetzt nicht gerade ungewöhnlich erscheinen, doch sie standen nicht einfach nur da und warteten darauf, dass ihnen irgendjemand die Tür öffnen würde. Nein; stattdessen starrten sie nach oben und suchten die Fenster des Hauses ab.

Zwar wohnte ich im dritten Stock und man konnte mich sicherlich nicht von dort unten sehen, erst recht nicht, da es noch sehr früh und demnach recht dunkel war, doch irgendwie beschlich mich abermals diese schauderhafte Paranoia, die mich nunmehr schon seit fast vier Tagen plagte.

Vielleicht erkannten sie die Namen auf den Klingeln nicht (die wirklich sehr stark verwischt waren) oder sie hatten ihre Handys vergessen, um demjenigen, auf den sie warteten, zu schreiben, dass er doch bitte herunterkommen sollte, weshalb sie jetzt die Fenster absuchten, in der Hoffnung, einen Blick auf die betreffende Person zu erhaschen und sie über ihr Warten in Kenntnis zu setzen. Vielleicht aber hatten sie sowohl geklingelt als auch die Macht von WhatsApp verwendet, um ihr Vorhaben anzukündigen, und schauten nur durch die Gegend, weil sie in ihrer Wartezeit nichts Besseres zu tun hatten.

Das alles hätte sein können, und es reichte für eine kurze Zeit aus, um mich zu beruhigen, doch als ich eine gute halbe Stunde später wieder aus dem Fenster sah, brachte es auch nichts mehr, mir eher unwahrscheinliche Szenarien einzureden, um mein Gemüt abzukühlen, denn sie standen wieder da – oder immer noch?

Wie schon zuvor suchten sie noch immer die Fenster des Hauses ab und nebenbei beschlich mich zudem das Gefühl, dass sie sich in der ganzen Zeit nicht ein einziges Mal bewegt hatten. Was jedoch meinen Puls weiterhin nach oben trieb, war die Tatsache, dass nun nichtmehr nur vier, sondern sieben Menschen dort unten standen und die Gesichter nach oben richteten.

Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken, denn auch mein verzweifelter Versuch, mich selbst davon zu überzeugen, dass sie einfach kurz weg waren, um Freunde zu holen und nun wieder hier waren, um den achten im Bunde abzuholen, schien nicht glaubwürdig genug für mich zu sein.

Langsam wich ich von der Fensterbank zurück, ging ins Wohnzimmer und legte mich hin. Dann schloss ich die Augen und war binnen von Sekunden, trotz eines doch recht ausgeprägten mulmigen Gefühls, eingeschlafen. Es war das letzte Mal, dass ich wirklich einigermaßen friedlich schlafen sollte.

20. Dezember

 

,,Polizeistelle Runan, Kommissar Iwanow mein Name, wie kann ich ihnen helfen?“

Lilly: Ja, guten Abend… hier spricht Lilly Burlov. Ich – Ich glaube, ich werde verfolgt.

K. Iwanow: Wo befinden sie sich gerade? Besteht für sie momentan eine Gefahr?

Lilly: Nicht direkt, aber ich fühle mich schon sehr, naja, bedroht. Gerade eben bin ich noch in meiner Wohnung und ich habe auch schon die Tür abgeschlossen und die Jalousie heruntergelassen, aber ich habe wirklich furchtbare Angst, das Haus zu verlassen.

K. Iwanow: Und können sie mir schildern, weshalb sie sich bedroht fühlen?

Lilly: Nun… eigentlich war bis eben noch nichts Wirkliches vorgefallen; eine Gruppe Männer stand plötzlich vor meinem Haus und hat die Fenster abgesucht. Da ich ja in einem Mehrfamilienhaus lebe, dachte ich zuerst, dass sie wegen jemand anderen dort seien, aber nach einer halben Stunde standen sie noch immer vor meiner Tür, mit dem einzigen Unterschied, dass sich nun auch ein paar Frauen dazugesellt hatten.

Das war der Moment, an dem ich schon ein wenig skeptisch wurde, aber da ja nicht wirklich was passiert war, habe ich mich einfach nur vom Fenster entfernt und hab mich schlafen gelegt. Und dann bin ich vor ungefähr einer Viertelstunde aufgewacht und habe erneut aus dem Fenster gesehen in der Hoffnung, dass die Menschen inzwischen doch endlich verschwunden wären.

K. Iwanow: Und sie waren noch immer da, ja?

Lilly: Mehr noch – es waren schon wieder mehrere dazugekommen, aber nicht nur ein paar, sondern Dutzende. Die ganze Treppe, der Garten, der kleine Hof und die Einfahrt waren komplett mit Menschen zugestellt.

K. Iwanow: Und was taten sie?

Lilly: … nichts. Sie starrten einfach nur nach oben, so als warteten sie auf etwas oder eher jemanden. Sie wirkten fast ein wenig enttäuscht, beinahe traurig. Es war einfach so unfassbar eigenartig, dass ich kaum in Worte fassen kann, was ich bei diesem Anblick empfunden habe.

K. Iwanow: Hat sich sonst noch etwas Ungewöhnliches ereignet?

Lilly: Und ob. Das Gruseligste habe ich ihnen ja noch gar nicht berichtet. Vor etwa zehn Minuten haben einige von ihnen plötzlich zu weinen begonnen. Vermutlich, weil dieser eine Typ, der schon zu den ersten der Gruppe gehörte, angefangen hat, eine Art Rede oder sowas zu halten. Leider habe ich nicht verstanden, was er sagte. Dann haben plötzliche alle Kerzen hervorgeholt, diese angezündet und sie nach oben gehalten.

Zunächst schien der Fall für mich klar zu sein und ich versuchte, mir das Ganze als eine Art Trauerfeier zu erklären, da vielleicht irgendein Mieter unter mir oder so gestorben war. Zuerst war ich beruhigt, aber da war dieses ständige Gefühl von Misstrauen in meinem Hinterkopf, also habe ich meinen Vermieter angerufen und gefragt, ob in letzter Zeit irgendwer im Gebäude verstorben sei.

Kommissar Iwanow… bis auf mich und Sascha hat seit fast sieben Jahren niemand mehr in diesem Haus gewohnt und laut des Vermieters gab es auch nie einen Todesfall, geschweige denn Trauerfeiern für irgendjemanden…

K. Iwanow: Hat sich noch mehr ereignet oder ist die Situation seither unverändert geblieben?

Lilly: Natürlich, noch viel mehr. Bitte schicken sie endlich jemanden her, wie viel muss ich ihnen denn noch erzählen, bevor sie mir glauben, dass ich mich in Gefahr befinde?!

K. Iwanow: Bitte erheben sie nicht ihre Stimme. Ich habe bereits vor fünf Minuten einen Streifenwagen in ihrer Nähe kontaktiert, sie sollten also bald bei ihnen sein.

Lilly: Danke – bitte entschuldigen sie.

K. Iwanow: Also, was war noch so passiert, nachdem sie das Gespräch mit ihrem Vermieter geführt hatten?

Lilly: Es war grässlich, ich… zur Hölle nochmal, es ist einfach… Nach etwa fünf Minuten haben sie sich alle perfekt synchron das heiße Wachs auf ihre Gesichter träufeln lassen.

Sie haben sich allesamt erblinden lassen… Ich weiß nicht, was hier vor sich geht, aber ich habe furchtbare Angst. Wer weiß, was diese Menschen mit mir vorhaben, falls sie es tatsächlich auf mich abgesehen haben sollten.

K. Iwanow: Bleiben sie jetzt ganz ruhig. Wo sind sie gerade?

Lilly: Im Wohnzimmer. Ich stehe am Fenster, aber ich habe mich geduckt, damit sie mich nicht sehen. Vorhin hatte ich nämlich kurz gedacht, dass mich einer von ihnen entdeckt hat, aber das war wohl zu meinem Glück nur Einbildung.

K. Iwanow: Was immer sie tun, bleiben sie von dem Fenster weg.

Lilly: Ich hatte auch nicht vor, mich der Masse zu präsentieren. Wo bleiben denn nur ihre Leute?

K. Iwanow: Sie sind sicher schon fast da, nur bleiben sie bitte ruhig, in Ordnung?

Lilly: Mhm… aber können sie bitte weiter mit mir reden, bis ihre Kollegen eintreffen?

K. Iwanow: Sicherlich. Nur beruhigen sie sich, in Ordnung?

Lilly: Gut.

,,Mutter… Mutter!“

K. Iwanow: Was war das?

Lilly: Das war einer von ihnen. Sie haben ‚Mutter‘ gerufen… Sie sind also doch hinter mir her. Verdammt!

K. Iwanow: Bitte bewahren sie die Ruhe, sonst machen sie unnötig auf sich aufmerksam.

,,Freunde! Seht und staunet! Habe ich euch nicht versprochen, dass ihr erst dann sehen werdet, wenn euer Augenlicht euch nicht länger die Wahrheit verschweigt?! Könnt ihr sie spüren, die Wärme, die von ihr ausgeht? So verdorben wie Asche und doch zugleich rein wie die Flamme eines jeden Feuers! Das Feuer reinigt uns alle, umschließt uns und befreit uns von allen Leiden und Nöten, die wir in uns tragen! Es wird sie einfach in Asche verwandeln und vom Winde davontragen lassen! Doch wachet stets, denn nicht alles, was rein ist, verspricht Erlösung; denn während das Feuer unseren Schmerz verkohlt, lässt das Wasser uns mit ihm gemeinsam ertrinken. Es gibt keine Rettung für jene, die sich seinen Wassern zuwenden, die versuchen, unsere inneren Flammen zu löschen! Lasset uns stattdessen der Mutter huldigen und jeden Tropfen zu weißem Rauch verdampfen lassen!“

Lilly: Mein Gott… was sind das denn nur für Menschen? Bitte helfen sie mir… schnell. Bitte… bitte… bitte…

K. Iwanow: Was tun sie?

Lilly: Sie lachen… sie lachen alle so schauderhaft, dass mir kalt wird. Was für Menschen tun so etwas? Ich…

,,Ah Brüder, kommt herbei, wir haben euch bereits erwartet. Stört ihren Frieden noch nicht, aber lasst sie wissen, dass ihr in Gedanken bei ihr seid, so wie wir es seit Stunden tun. Sie ist zwar der Meinung, wir sehen sie nicht, was auch vollkommen richtig ist, aber jetzt, da unsere Sicht uns nicht mehr trügt und belügt, spüren wir ihre Präsenz ganz deutlich durch unsere Leiber strömen.“

K. Iwanow: Was ist los? … So antworten sie doch.

Lilly: Sie sind hier…? Aber warum…

K. Iwanow: Wie ich sehe, missachten sie gerne die Befehle von Autoritätspersonen. Ich sagte doch, dass sie nicht aus dem Fenster sehen sollen.

Lilly: Was - was halten sie da in der Hand…?

K. Iwanow: Das? Das ist nur eine Kerze. Bald schon wird es soweit sein.  Bald schon werde ich dich sehen – Mutter…

Lilly: Großer Gott, bitt nein! Was ist denn hier nur los? Ihr seid doch alle wahnsinnig!!!

,,Mutter! Mutter! Mutter!“

21. Dezember

Blogeintrag vom 21. Dezember 2019:

Hallo an alle da draußen. Mein Name ist Lilly Burlov und dieser Blog ist meine letzte Chance auf Hilfe, denn ich werde seit geraumer Zeit von einer Gruppe Unbekannter verfolgt und bedroht. Ich erwarte in wenigen Tagen mein erstes Kind, und bisher ist die Schwangerschaft ohne jegliche Probleme verlaufen, doch seit ich vor kurzem von einem seltsamen Mann auf einem Weihnachtsmarkt angesprochen wurde, werde ich von zwielichtigen Menschen beschattet, die mich auf Schritt und Tritt verfolgen und sich letzte Nacht sogar vor meinem Haus versammelt haben, das ich seitdem nicht mehr verlassen wollte, da ich Angst habe, sie könnten wir etwas antun.

Ich habe versucht, die Polizei um Hilfe zu bitten, doch wie sich herausstellte, waren sie ebenfalls in diese ganze Sache involviert, und nun habe ich einfach niemanden mehr, an den ich mich wenden könnte. Ich möchte einfach nur eines wissen:

Gibt es da draußen noch andere, die Ähnliches durchmachen oder durchgemacht haben wie ich? Bitte helft mir. Ich weiß nicht, was ich noch tun soll. Mein Freund ist wie so oft unterwegs und ich weiß nicht, wann er zurückkehren wird. Ich habe keine Familie, bei der ich unterkommen könnte, und selbst wenn, wüsste ich nicht, wie ich zu ihnen gelangen sollte, wenn diese Menschen mich wie Schlosshunde bewachen.

Ich wohne am Rande einer Stadt, deren Gestank man ohnehin schon vom Weiten riecht, und selbst wenn ich tagelang hier in meinem Haus verweile, so würde dennoch niemals jemand auf die Idee kommen, mir zu helfen, geschweige denn mich überhaupt zu suchen. Ich flehe euch an, bei allem, was mir heilig ist, BITTE sagt mir, was ihr wisst.

Ich habe solche Angst.

22. Dezember

Lilly: Bitte… bitte geh‘ ran…

,,Hallo?“

Lilly: Sascha, bist du’s?

Sascha: Wer denn sonst? Du hast doch mein Handy angerufen.

Lilly: Ja… entschuldige.

Sascha: Also was willst du?

Lilly: Ich werde verfolgt.

Sascha: Von wem? Deinem Fresswahn, durch den du in den letzten Monaten unaufhaltsam in die Breite gewachsen bist?

Lilly: Sascha, bitte hör‘ mir zu. Irgendjemand steht hier vor meinem Haus und…

Sascha: Haha, dein Haus, ja? Du meinst diese Dreckswohnung, für die ich die Miete bezahle, oder hast du zufällig im Lotto gewonnen und hast das Haus deiner senilen Eltern gekauft? Und wer bitteschön sollte auf dich vor dem Haus denn warten? Kein Schwein kennt dich hier; wenn überhaupt, dann würde jemand zu mir wollen, aber zu dir… Oder ist das einer von deinen früheren Stechern, der wieder mal Höhlenforscher in deiner ausgeleierten Fotze spielen will?

Lilly: Sascha, bitte hör‘ auf damit! Ich meine es ernst, irgendwer…

Sascha: Halt bloß dein Maul! Wenn du noch einmal in diesem Ton mit mir sprichst, dann fliegst du sofort aus der Bude raus, und es ist mir egal, ob du dein Dreckskind in irgendeiner Gosse gebären und es auffressen musst, um nicht zu verhungern, ich habe keine Verpflichtungen dir gegenüber, also halt deine dumme Fresse!

Lilly: Sascha, ich…

Sascha: Wie war das? Wolltest du noch irgendetwas sagen?

Lilly:

Sascha: Hab‘ ich mir gedacht. Jetzt hör‘ damit auf, dich hier so aufzuspielen und zu tun, als würde sich auch nur ein Mensch in diesem Scheißloch für dich und deinen blöden Fötus interessieren. Reg‘ dich ab und nimm’s wie ‘ne Frau und nicht wie ein dämliches kleines Mädchen. Du bist ja noch nicht einmal in der Lage, um zu…

Lilly: Sascha? Sascha, was ist los?

Sascha: …Hey, was soll der Scheiß?! Verpisst euch, ihr verfickten Schwanzlutscher oder ich… Aaaaah!!!

Lilly: Sascha!? Sascha!!!

Sascha:

Lilly: Sascha?

Sascha: Ich – bin frei…

Lilly: Sascha, was redest du da? Was ist passiert?!

Sascha: Mach dir keine Sorgen. Alles ist in Ordnung.

Lilly: Sascha, was ist das für ein Knistern? … Sascha, antworte mir, was in Gottes Namen ist das für ein Knistern?!

Sascha: So hört sich Liebe an… Meine unbegrenzte Liebe zu dir ist entflammt. Jetzt kann ich dich endlich sehen – Mutter…

23. Dezember

Lieber Darius,

ich weiß, ich habe dir schon lange keinen Brief mehr zukommen lassen, doch ich weiß einfach nicht, an wen ich mich sonst wenden sollte. Mama und Papa waren so abweisend wie nie zuvor, als ich sie heute besuchte, und ich befürchte, dass es bald mit ihnen zu Ende gehen wird. Es wirkt nun so, als hätten sie nach all den Jahren aufgegeben. Ich hoffe sehr, dass du sie wiedersehen wirst, aber noch viel mehr hoffe ich, dass ich dich wiedersehe, falls ich das, was mir in den letzten Tagen zugestoßen ist und vermutlich noch zustoßen wird, nicht überleben sollte. Ich habe solche Angst; so sehr, dass ich alles hinter mir ließ. Die Wohnung habe ich durch die alten Kellerräume verlassen, die in Verbindung zu irgendwelchen unterirdischen Tunneln standen, durch die ich bis zum großen Weideland außerhalb von Runan gelangte.

Ein Glück, dass der Vermieter mir dies zumindest noch mitteilte, als er mir den Wohnungsschlüssel übergab, denn eigentlich wollte er sich wenig bis gar nicht zu dem Haus äußern, aber er meinte wohl, dass die Tunnel ja ein gewisses Einbruchsrisiko darstellten, auch wenn kaum einer von ihnen wusste, und hat mich daher über sie aufgeklärt. Doch genug davon, schließlich ist das nicht sonderlich relevant, nicht wahr?

Jedenfalls habe ich die Stadt verlassen und bin mit dem Bus auf dem Weg ins Nirgendwo. Es ist mir völlig egal, wohin er mich bringt, Hauptsache, ich kann diesen schauerlichen Ort endlich hinter mir lassen und Gottseidank habe ich das auch inzwischen so gut wie geschafft. Ich weiß nicht, wo ich landen werde, wie meine Zukunft aussehen wird oder ob ich diese ganze Sache unbeschadet überstehe, aber mir ist klar geworden, dass ich jetzt für mein Baby da sein muss.

Es hat schon mehrere Male getreten und ich merke, dass es schon sehr bald soweit sein wird, dass mein Kleines das Licht der Welt erblickt. Ich bin so glücklich, ich kann es kaum glauben, dass ich all die Zeit lang so abgeneigt von ihm war. Schließlich ist es ein kleines Wunder, und auch wenn es durch Hass gezeugt wurde, so heißt das schließlich nicht, dass es auch in Hass geboren werden muss.

Ich fürchte mich wirklich vor der Zukunft, aber zugleich freue ich mich auch sehr darauf. Und selbst falls mein Plan scheitern sollte, so habe ich dennoch die Hoffnung, dass ich dich dann wiedersehe.

Ich vermisse dich schrecklich und ich wünschte, du wärst hier bei mir. Du fehlst mir…

In Liebe

Lilly

24. Dezember

Trugeb[]

Und der Himmel brach auf und entfachte Wolken aus Flammen, deren Feuer wie ein glühend heißer Regen auf die Erde niederprasselte, um all das Unreine zu verbrennen und vom Wind

verstreuen zu lassen. Und während das rote Licht der Venus zu verblassen und der Blutdurst aller Sünder zu versiegen begann, während die Flüsse verdampften und der Boden Feuer fing und während Leben und Tod

gleichermaßen vernichtet wurden… da begann eine Mutter ein Kind zu lieben, das nicht das ihre war und welches obgleich, in Hass gezeugt, dazu bestimmt war, uns alle zu erlösen.

 

Es war etwa 19 Uhr und draußen hatte bereits die Dunkelheit das Sonnenlicht vollständig verdrängt. An der nächsten Haltestelle dann betraten wieder ein paar neue Fahrgäste den Bus und einer von ihnen setzte sich, entgegen meiner Zustimmung, neben mich. Die Dame trug einen seidenen Schal um den Hals, der zudem auch beinahe ihr gesamtes Gesicht einhüllte, was bei der furchtbaren Kälte da draußen ja auch nicht verwunderlich war. Neben ihren hohen schwarzen Stiefeln war sie zudem auch in einen überaus voluminösen Pelzmantel gewickelt, der sie fast schon wie einen Bären aussehen ließ.

,,Sie sehen blass aus. Geht es ihnen nicht gut?“

Mit einem etwas besorgten Blick sah mich die Frau durch zwei leicht verschmutzte Brillengläser an, hinter denen die wohl blausten Augen lagen, die ich je gesehen hatte. Es hatte glatt etwas Unnatürliches an sich. Mit einem Lächeln reichte sie mir eine Schachtel Tabletten.

,,Möchten sie eine? Das sind Kopfschmerztabletten. Ich sehe doch, wie sie sich immerzu den Kopf reiben. Sind auch nicht ganz so starke. Nur zu.“

,,Danke nein, ich möchte eigentlich zurzeit gar nichts mehr zu mir nehmen. Ich hab‘ Angst, dass meinem Kleinen was davon schaden könnte“, entgegnete ich nur dankend und strich mir über den Bauch.

Langsam beugte sich die Frau zu mir rüber, jedoch ohne die anderen Fahrgäste aus den Augen zu lassen, um mir leise ins Ohr zu flüstern.

,,Ich kenne sie – ich habe ihren Blog gelesen und ich komme mit einer Antwort für sie…“

Mein Puls schoss augenblicklich in ungeahnte Höhen und mein Atem stockte für einen etwas zu langen Moment.

,,Sie – sie haben das auch durchgemacht?“

,,Ja… es war schrecklich. Diese ständige Angst vor dem Ungewissen, dass ich nicht wusste, was mit mir geschehen würde. Ich kann mir kaum vorstellen, was für eine Angst sie nun haben müssen.“

,,Sie waren auch schwanger?“

,,Ja.“

,,War das der Grund, weshalb sie sie verfolgten? Ich meine, waren sie deswegen hinter ihnen her?“

,,Nein, sie waren nie hinter mir her. Es ging ihnen immer nur um das Kind.“

Mir wurde kalt. Es schien mir, als wäre die Temperatur im Bus plötzlich so tief gefallen, dass es hier drinnen nun inzwischen ebenso kalt wie draußen war. Meine Nackenhaare richteten sich auf und mir wurde übel.

,,Und was haben sie getan? Wie sind sie sie losgeworden?“

,,Sie gingen einfach. Gleich nachdem ich entbunden hatte. Ich musste ihnen nur das geben, weshalb sie mich aufsuchten, um für immer von ihnen in Ruhe gelassen zu werden. Hätte ich gewusst, dass die Lösung so einfach war, hätte ich mich nicht so gefürchtet, wie sie es nun tun.“

Ich rückte ein bisschen zurück, doch das Fenster hinter mir hinderte mich daran, mich weiter von der Frau zu entfernen, deren mildes Lächeln nun alles andere als beruhigend auf mich wirkte.

,,Sie haben doch nicht…“

,,Ihnen das Kind gegeben? Doch – das tat ich und es war die richtige Entscheidung. Überlegen sie mal, was geschehen wäre, wenn ich es nicht freiwillig getan hätte. Sie hätten es doch so oder so bekommen und dafür wäre sie auch über meine Leiche hinweggeschritten. Geben sie ihren Beschützerinstinkt auf und ihrem Überlebenswillen nach. Es ist doch nur zu ihrem Besten.“

,,Sie sind krank…“, gab ich mit vollem Entsetzen von mir, während ihr Lächeln breiter wurde und sie ihre Augen immer weiter zusammenkniff.

In dem Moment segelte etwas von ihrem Gesicht und landete sanft wie eine Feder auf meinem Sitz… Meine Augen weiteten sich und ich hielt mir die Hand vor den Mund, um nicht laut aufzuschreien, als ich starr vor Angst die leuchtend blaue Kontaktlinse fixiert hatte. Ich sah auf, erwartete das Schlimmste. Doch das Schlimmste war nicht das glasige, nun unbedeckte, Auge meiner Sitznachbarin, das wie ein weißer Tennisball in ihrem Schädel steckte. Es war auch nicht das erkaltete Wachs, das noch immer an ihrem Augenlid hing wie eine gefrorene Träne, und es war noch nicht einmal das mit Flüssigkeit getränkte Tuch, das sie in der Hand hielt, während all die anderen Passagiere plötzlich aufstanden und ich voller Schrecken erkennen musste, dass ein jeder von ihnen die stigmatischen Wachstränen weinte.

Das Schlimmste allerdings war die Tatsache, dass sie mein Baby wollten, und noch viel grässlicher war meine Gewissheit, dass ich nichts tun konnte, um sie an diesem Vorhaben zu hindern - selbst wenn ich dafür sterben würde.

,,Lilly, meine Liebe. Warum konnten sie nicht friedfertig aufgeben und sich freiwillig dazu entschließen, seinem Willen nachzugeben? Wir wollten sie eigentlich nicht auf diese Weise in unsere Gewalt bringen, doch ihr Unverständnis bezüglich dessen, was wir tun, weckt in mir den Verdacht, dass sie Versuche starten könnten, unser Vorhaben zu vereiteln, und dies können wir keinesfalls zulassen. Und jetzt halten sie still – es tut auch nicht weh… zumindest noch nicht.“

Ein lauter Schrei entwich mir; nicht jedoch aus Angst und Panik, sondern aus einem plötzlich eintretenden und enormen Schmerz, der sich seinen Weg durch meinen gesamten Körper bahnte und mich zusammenbrechen ließ. Und während ich so dalag und verzweifelt gen Himmel guckte, so als würde ich Hilfe erwarten, starrten sie nur auf mich herab und auf ihren Gesichtern zeichnete sich innerhalb Bruchteilen einer Sekunde eine groteske Euphorie ab.

,,Es ist so weit. Meine Freunde! Die Erlösung naht!“

Als meine Augen sich langsam wieder öffneten, fand ich mich in jener Finsternis wieder, die bereits herrschte, als ich sie noch geschlossen hielt. Eines jedoch wusste ich mit Sicherheit. Ganz grauenhafte Schmerzen, die sich durch meinen gesamten Leib zogen und mich wünschen ließen, dass mich die Ohnmacht, aus der ich soeben erwacht war, bald wieder zurückeilen würde, um mich abermals in tiefsten Schlaf zu befördern.

,,Hilfe… Helft mir, bitte…“

Während ich, trotz der großen Schmerzen, kaum hörbar vor mich hin wimmerte, leuchtete in der Ferne ein kleines Licht auf, dem bald schon mehrere andere folgten. Wie ein Schwarm von Glühwürmchen bewegten sie sich auf mich zu und umzingelten mich langsam, aber sicher, bis ich wie in einem Meer aus brennendem Wasser lag. Worauf ich lag? Ich wusste es nicht, aber als ich mir diese Frage stellte, wandte ich meine Augen sogleich von den hellen Kerzen um mich herum ab, hob den Kopf leicht, wenngleich auch dieser mir schwer wie Beton erschien, und sah in Richtung meiner Füße. Mein Körper lag gefesselt auf einem hölzernen, schwarzen Tisch, der mit allerlei Schriftzeichen geziert worden war, und im Schein des Feuers erkannte ich voller Entsetzen, dass er auch durch Reste von Blutspuren gezeichnet war.

,,Hilfe“, langsam, aber sicher erhielt ich meine Stimme wieder zurück.

,,Hilfe“, und mit einem Mal durchzog ein weiterer heftiger Schmerz meinen Körper und ließ mich all das ausstoßen, was sich in meiner Lunge bisher angesammelt hatte.

,,Hiiiilfe!!! Helft mir doch bitte!!!“

,,Schweig!“

Die Stimme war rau und zornerfüllt, doch es schwang noch immer dieser sanfte Klang mit, den ich bereits schonmal vernommen hatte, und als ich mich nach ihrem Ursprung umblickte, schälten sich die Konturen eines Mannes aus den Schatten. Er trug keine Kerze, doch auf dem Stock, den er in den Händen hielt, thronte ein gülden glänzender Stein, der die Kerzen um uns herum so stark reflektierte, dass er beinahe wie eine kleine Sonne aussah.

,,Es ist nicht mehr weit, mein Kind. Der Weg bis zur Unendlichkeit ist bald getan.“

Er kam näher an mich heran, stellte sich direkt neben mich und dann schmierte er mir etwas ins Gesicht, nur um mir gleich darauf noch eine Ohrfeige zu geben. Vorsichtig, fast schon reflexartig, schob ich meine Zunge vor, um die unbekannte Substanz zumindest ein wenig schmecken zu können…

Blut.

Sofort spuckte ich den kleinen Tropfen, den ich mit meiner Zunge erwischte, wieder aus und begann zu würgen.

,,Wer seid ihr?! Was in Gottes Namen wollt ihr nur von mir???“

,,Mein Kind, wir sind nichts weiter als die Diener des Herrn und wir kommen, um dir große Freude zu verkünden, denn du trägst denjenigen in dir, der die Welt reinigen wird, dessen Feuer uns alle erlösen sowie unsere Sorgen in Rauch aufgehen lässt. Unsere Hoffnung, alles, was wir uns je erträumten, steckt nun in dir. Mutter!“

,,Mutter!!!“, rief die um mich versammelte Meute im Chor und hielt die Kerzen empor.

Um mich herum erstreckte sich ein Ozean aus weißen, leeren Augen, allesamt gezeichnet von den mir nur allzu gut bekannten Wachstränen.

,,Meine lieben Freunde, Brüder und Schwestern. Mutter fürchtet sich vor unserem Anblick, darum lasst uns dafür sorgen, dass sie unser Antlitz nicht mehr zu erblicken braucht.“

Mein Herz schlug bis zum Hals. Ich rechnete jeden Moment damit, dass eines dieser Monster mir die Augen ausstechen würde, doch zu meinem Glück, wenn man in meiner Situation überhaupt auch nur in irgendeiner Weise von Glück sprechen konnte, pusteten sie lediglich ihre Kerzen aus und ihre Leiber wurden eins mit der Finsternis, die mich umgab. Alles, was meine Sinne nun noch wahrnehmen konnten, waren die ungeheuren Schmerzen und ein leises Summen, das in seichten Wellen um mich herumflog.

,,Es hat begonnen.“

In diesem Augenblick spürte ich ihn – einen Schmerz, so unbeschreiblich stark, dass ich es mir nicht in meinen schlimmsten Alpträumen hätte vorstellen können. Ich schrie und weinte, und just als ich dies tat, bemerkte ich etwas, das mir mehr Angst einjagte als all der andere Horror, der sich in den letzten Tagen ereignet hatte. Eine einzelne Träne lief über meine Wange, doch versiegte sie nicht auf ihrem Weg und sie fiel auch nicht wie ein Tautropfen auf das Holz des Tisches… sie verdampfte und ließ nichts weiter als einen kleinen, rötlichen Fleck zurück. Einen Fleck, der unglaublich heiß war. Als wenn man es zustande gebracht hätte, das Fleisch unterhalb meiner Haut in Brand zu setzen.

Dann schien sich der Fleck auszubreiten und meine gesamte Haut blühte plötzlich in einem feurigen Rot auf und der Schmerz, den ich spürte, war so intensiv, dass ich das Gefühl hatte, in Flammen zu stehen.

,,Helft mir! Bei Gott, warum hilft mir denn keiner?! Bitte Gott! Bitte!!!“

,,Schweig, elende Hure!“

Ein fester Schlag traf auf meine Schläfe und mein Kopf schlug durch die Wucht auf der entgegengesetzten Seite des Tisches auf. Benommen, aber noch immer viel zu sehr dessen bewusst, was mit mir geschah, spürte ich, wie meine Arme von mehreren starken Händen gepackt und so stark gestreckt wurden, dass ich dachte, sie würden sie mir ausreißen.

,,Aaaaah! Bitte nicht! Um Gottes Willen, lasst mich los!!!“

Der Schmerz wurde stärker, doch nicht durch das feurige Brennen auf meiner Haut, sondern durch den stechenden Schmerz, der sich durch meine Hände bohrte. Ich konnte in der Dunkelheit nicht erkennen, was es war, das sie mir da durch die Hände trieben, doch in meinem Verstand, der sich inzwischen jede abartige Gewalttat vorzustellen vermochte, konnte sich gut denken, was es war.

Was waren das nur für Menschen? Ich hatte schon des Öfteren die erschreckendsten Geschichten über diverse Sekten wie den Satanisten gehört, doch etwas derartig Extremes hätte ich mir trotzdem niemals vorstellen können. Vielleicht war das ihre Wunschvorstellung von einem Krippenspiel, dachte ich bei mir und zugleich überlegte ich, wie sehr ich doch darüber gelacht hätte, wenn ich nicht selbst in dieser Situation stecken würde. Stattdessen gab es nur Schmerz; ein brennender und ein stechender, wobei letzterer sich nun auch in meinen beiden Füßen wiederfand und mir einen weiteren markerschütternden Schrei entweichen ließ.

Und dann war es soweit. Der Schmerz erreichte ungeahnte Höhen und für ein paar Sekunden, die mir jedoch vorkamen wie eine halbe Ewigkeit, glaubte ich auf der dünnen Schwelle zwischen Leben und Tod zu schweben. Mal trieb ich auf der Seite der Lebenden, dann glitt ich wieder hinüber ins Totenreich, doch ich war weder tot noch lebendig. Stattdessen war ich eine perverse Mischung aus beidem. Etwas, das sowohl den natürlichen als auch den göttlichen Gesetzen trotzte und mich zu einer Abtrünnigen des Glaubens und des Wissens werden ließ.

Ein lauter Knall ertönte in meinen Ohren und im selben Moment durchzog ein weiterer brennender Schmerz meinen Körper – doch war es ein anderer.

,,Nein… tut das nicht…“

Ich merkte bereits, wie mich meine Kräfte verließen, doch diese Qual spürte ich noch immer so deutlich wie zu Beginn der ganzen Tortur. Ein weiterer Knall ertönte und ich glaubte, bei lebendigem Leib zerfetzt zu werden. Auch hier wusste ich nicht, was es war, das mir dieses Leid zufügte, doch auch dieses Mal konnte ich mir gut vorstellen, worum es sich hierbei handelte.

Und dann erfüllte er mich – der Schmerz. Es war nicht mehr nur ein Gefühl… er wurde ein Teil von mir, eher einem Organ denn einer reinen Emotion gleichend. Und während ich dalag, verlassen in der Dunkelheit, stetig nur dieses Knallen sowie das monotone Summen hörte, wanderte diese beinahe tödliche Pein hinab zu meinem Schoß und ich spürte, wie sich warmes Blut daraus ergoss.

Meine Sinne schwanden, in wenigen Sekunden würden diese Qualen mich entweder ohnmächtig werden oder direkt sterben lassen, und dennoch wurden die Leiden um keinen Deut gelindert. Ich schrie, wollte es zumindest, doch inzwischen kam nur noch ein leises Keuchen aus meinen Lungen hervor, während der Blutstrom aus meinem Unterleib immer stärker zunahm. Und das Elend steigerte sich weiterhin, obwohl die Grenze dessen, was ich an Torturen für möglich erachtete, längst ausgeschöpft hätte sein müssen.

Gerade jetzt kam es mir nicht mehr nur so vor, als würde ich in Flammen stehen, sondern als würde ich glühende Kohlen durch meine Beckenknochen hindurchpressen. Vor einigen Jahren hatte ich mich beim Grillen versehentlich selber angezündet, und bis ich mein Oberteil von meinem Körper reißen konnte, hatte ich bereits Verbrennungen dritten Grades davongetragen. Ich dachte damals, einen schlimmeren Schmerz könne es gar nicht geben, doch das was jetzt gerade meinen Körper erfasst hatte, hätte nicht einmal von einer Verbrennung 6. Grades hervorgerufen werden können, sofern es etwas Derartiges gab.

Und dann hörte es mit einem Mal auf. Die ganze Qual in Rauch aufgelöst. Erleichtert atmete ich auf und für einen Moment lang dachte ich, dass mein Leben ein Ende genommen hatte, doch dem war nicht so, denn kurz nachdem Ruhe um mich herum eingekehrt war, ertönte sein Schreien. Doch es war gewiss nicht das Schreien eines Babys. Das klang nicht mal nach dem Schreien von überhaupt irgendeinem mir bekannten Lebewesen. Dieses Schreien umgab eine derartig schauderhafte und düstere Aura, dass der Raum um mich trotz seiner gänzlichen Schwärze nun umso dunkler erschien.

Plötzlich hörte ich leises Tuscheln. Ich hörte, wie sich das Schreien ein wenig von mir zu entfernen begann… sie trugen es davon!

,,Bitte… gebt ihn mir.“

Ihn? Woher wusste ich überhaupt, dass es ein Junge war? Diese Frage konnte ich mir selber nicht beantworten und doch wusste ich, dass es wahr war. Mein kleiner Bastian…

,,Seht euch nur diese wunderschönen Augen an. Ganz der Vater, findet ihr nicht?“

Was? Mein Herz blieb stehen und drohte sogleich innerhalb meines Brustkorbes zu explodieren. Was bitte wussten sie über seinen Vater?

,,Oh, und schaut euch nur diese kleinen Hüf…“

Mehr vermochte ich akustisch nicht mehr zu verstehen, da mir alle paar Sekunden die Sinne so sehr schwanden, dass ich jederzeit damit rechnen musste, vor meinen Schöpfer zu treten. Doch dann hörte ich etwas. Etwas, das das Schreien und Flüstern übertönte. Etwas, das unmittelbar in meiner Nähe ertönte und dem Geräusch ähnelte, das ich vor und nach meiner Entbindung von mir gegeben hatte. Dieses Wimmern, doch war es keine andere Frau, es kam unverkennbar von einem Mann.

Erst als ich meinen Kopf ein wenig drehte und an dem Tisch horchte, der sich unter mir befand, erkannte ich, dass die Geräusche von einer Person kamen, die ebenso wie ich an diesen Tisch gebunden worden war… nur befand sie sich unterhalb der Platte und nicht darauf, so wie ich es tat.

,,Hey…“, flüsterte ich leise.

Keine Antwort.

,,H…“

Bei meinem zweiten Versuch, die Person anzusprechen, blieb mir endgültig die Stimme weg und ich bekam das Gefühl, dass ich sie nie wieder zurückbekommen würde. Nie mehr. Ebenso mein Kind, dessen Schreie so markerschütternd durch die Finsternis hallten, dass es mir einen kalten Schauer über den Rücken jagte und ich zu zittern begann.

,,Nun soll es geschehen! Kommt, meine Freunde, denn alles ist bereit, um unseren Erlöser zu seiner Vollendung zu verhelfen!“

Der Tisch unter mir begann sich zu bewegen und nach einem gewaltigen Ruck richtete er sich plötzlich auf und, mit dem Kopf zu Boden gerichtet, hing ich nun hilflos in der Luft und spürte, wie das restliche Blut, das ich noch in meinem Körper hatte, in meinen Schädel strömte. Und da war noch etwas anderes, das ich an meinem Kopf wahrnehmen konnte. Nach all dem Schmerz, den ich in den letzten Minuten empfunden hatte, konnte ich ihn kaum noch wirklich einordnen, jedoch kam es mir vor wie ein schwaches Stechen. Da bekam ich plötzlich einen kräftigen Schlag auf den Kopf und nun spürte ich ganz deutlich, dass es ein Stechen war.

Dem Mann hinter mir wurde wohl dasselbe Leid angetan, auch wenn ich nicht wusste, was er statt einer Geburt hatte durchmachen müssen. Vermutlich hatten sie ihn kastriert…

Dieses Stöhnen. Er gab so einen seufzenden Ton von sich, als sie ihn ebenfalls mit den Stacheln bearbeiteten, und mit einem Mal erkannte ich es – er war es. Bastians Vater… er musste es sein. So oft hatte ich dieses Stöhnen in meinem Kopf hin- und herschwirren hören und so oft hatte es mich aus meinen nächtlichen Alpträumen gerissen. Er war es ganz sicher, und in diesem Moment verschwand jegliches Mitleid, das ich bisher für den Gefolterten empfunden hatte. Wäre ich nicht gefesselt gewesen, hätte ich ihm in sein widerwärtiges Angesicht gespuckt.

,,Seht, was unser Herr vollbracht hat. Lasset uns ihm dienen und sein brennendes Fleische weihen, auf dass sein Feuer über die Lande ziehen und ein seelenreinigendes Inferno über uns alle bringen möge!“

Da war er – der letzte Schmerz, das letzte Gefühl, das Letzte überhaupt, was ich jemals empfinden sollte. Ein Stich. Weniger schmerzhaft als die Geburt, jedoch deutlich schlimmer als die Stiche um mein Haupt. Ich nahm gar nicht mehr wahr, wie mein warmes Blut über meine Arme und mein Gesicht lief, um von meinem Scheitel zu Boden zu tropfen. Ganz plötzlich erfüllte eine kurze Stichflamme die Dunkelheit mit ihrem Licht, als mein Blut auf etwas unter mir traf. Bastian schrie nicht mehr – im Gegenteil… nun lachte er sogar, und das so herzlich, wie ich es noch nie von einem Baby gehört hatte.

Ich war so glücklich, und während sein Vater hinter mir laut aufstöhnte und im selben Moment wohl sein klägliches Leben endgültig aushauchte, dachte ich an die Schwangerschaft und all die Zeit, durch die mein Kleiner mich begleitet hatte. Es war schwer, es war viel Leid und ich empfand lange Zeit einen unstillbaren Hass für dieses Kind, doch nun wusste ich, dass das alles nur eine Prüfung war, die ich zu bestehen hatte. Als die nächste Stichflamme aufleuchtete, erkannte ich das Gesicht des Mannes vor mir, der mir damals als allererster auf dem Weihnachtsmarkt begegnete.

,,Verstehen sie es nun? Er war nicht der Parasit, als den sie ihn betrachtet haben. Das alles geschah infolge eines Plans, den sie kaum hätten voraussehen können. Sie hassten ihr Kind nicht, weil es aus Hass gezeugt wurde, sondern weil er wollte, dass sie es tun. Und nun liebten sie ihn, wie jede Mutter ihr Kind lieben sollte, denn jetzt haben sie ihren Zweck erfüllt. Als ich sie das erste Mal sah, da wusste ich, dass sie die Eine waren. Die Frau, die all das gebären sollte, was diese Welt retten würde, und dafür möchte ich ihnen meinen Dank aussprechen. Haben sie keine Angst. Wir werden gut für ihren Sohn sorgen. Er wird nur die besten Speisen, die tollsten Spielzeuge und die beste Bildung erhalten. Er ist dazu bestimmt, Großes zu vollbringen, und wir werden ihn mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln darauf vorbereiten. Wir lassen sie nun einschlafen… Leben sie wohl.“

Ich lächelte. Nicht weil ich besonders glücklich war, denn alles, was ich je fühlte, war wie ausradiert. Aus meiner Erinnerung herausgerissen wie ein Stück faules Fleisch. Doch das war egal. Das Lächeln ging tiefer. Ich ließ mich nicht wie jeder andere Mensch von meinen Emotionen leiten oder täuschen. Dieses Lächeln war ehrlich, es war ein Reflex – es war das Letzte, das mir im Leben noch blieb.

Und während ich die Augen schloss und endgültig die ewige Dunkelheit um mich herum akzeptierte, dachte ich nur an diese wunderbare Ironie.

Mein Leben war schon immer von einer tiefen Schwärze geprägt und wurde dunkler von Tag zu Tag, doch jetzt, wo ich dank meines Sohnes friedlich entschlafen konnte, schien mir die Dunkelheit, die mich wie eine warme Decke sanft einzuhüllen begann, wie ein helles Licht, das mich davontrug. Fort in eine bessere Welt.

Und während ich im Laufe dieses Übergangs meinen letzten Atemzug ausstieß, die Augen für immer schloss und mein letzter Muskel erschlaffte, da hörte ich in der Ferne wieder dieses leise, monotone Summen, und je mehr ich das Bewusstsein verlor, desto besser konnte ich verstehen, was sie sagten.

,,Nema. Nema. Nema!“

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