Deutsches Creepypasta Wiki
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“Ganz ruhig, das wird schon”, sagte Anton Werner zu sich selbst, während er die Stellenanzeigen auf seinem Display checkte, auch wenn er bisher noch nichts Passendes gefunden hatte. Anton war Professor für neuere Geschichte und damit nicht unbedingt das Material, das heutzutage auf dem Arbeitsmarkt wegging wie warme Semmeln. Spätestens seit seine Fakultät von dem Industriekonzern, dem inzwischen seine ehemalige Universität gehörte, geschlossen worden war, steckte er ehrlich gesagt in ziemlichen Schwierigkeiten.

Biep. Biep.

Sein Herz machte einen schmerzhaften Hüpfer. Schweiß trat auf seine Stirn. Hektisch scrollte er weiter durch die Angebote. Irgendetwas musste doch dabei sein.

“Das sieht gut aus”, flüsterte er, als er endlich wieder eine halbwegs interessante Stelle entdeckte. Die Arbeitszeiten waren beschissen und die Arbeit würde einen Umzug erfordern, aber dank der mobilen Häuser, die seit etwa zehn Jahren in jeder größeren Stadt von Welt-CEO Steve Wu Arnington unter Zustimmung der Aktionäre installiert worden waren, war das kein allzu großes Problem. Hauptsache er würde etwas finden. Er musste einfach etwas finden.

Biep. Biep.

Schon wieder eine Minute rum. Das erforderliche Wissen über die “Umbruchprozesse im Zuge der globalen Totalprivatisierung und die Organisationsformen und Strategien des illegitimen Widerstands“ besaß er immerhin. Aber leider sprach er kein Anglo-Chinesisch, nur altmodisches Deutsch, gewöhnliches Englisch und ein bisschen Französisch.

Biep. Biep. “Warnung. Konto überzogen. Noch zehn Minuten bis zum Downgrade!“, erklang eine künstliche, freundliche Frauenstimme in seinem Kopf.

Anton dachte fieberhaft nach. Er könnte ein Übersetzungsimplantat anfordern. Zwar hatte er kein Geld – das war ja gerade das Problem – aber er könnte dafür seine Beine verkaufen. Die brauchte er nicht zwingend. Die meisten Arbeitsstellen boten ja auch einen Anti-G-Transport und Andockstationen für die mobilen Häuser an und seine Hände würden für die Arbeit ausreichen.

Anton las sich den Rest der Anzeige durch. Das Gehalt würde irgendwie ausreichen. Gerade so. Aber … Scheiße, der Beginn des Arbeitsverhältnisses wäre erst Morgen! Zum Glück war ein Bewerbungsgespräch seit der Verordnung zur allgemeinen Aufhebung des Gedankenschutzes und der Privatsphäre am 18. Mai 2087 überflüssig. Ihm wurden ohnehin nur jene Stellen angezeigt, für die er der am besten geeignete Kandidat war. Aber das half ihm nicht viel: Ein Downgrade würde er nur verhindern, wenn er seinen Arbeitsvertrag noch heute unterschrieb und seine Stelle direkt danach antrat.

“Warnung. Konto überzogen. Noch acht Minuten bis zum Downgrade!“

Verdammt! Warum hatte er nur damals diesen unseligen Studienkredit aufgenommen? Natürlich, zu dieser Zeit war noch nicht klar gewesen, ob dieses “Wissensinvestionskompensationsgesetz“ wirklich durchkommen würde. Immerhin hatte es ziemlich energische Prostete gegeben. Viele junge Leute (und auch einige Ältere) waren auf die Straße gegangen oder teils tausende von Kilometern zum Regierungssitz gereist und hatten die Politiker der erst kürzlich gebildeten Weltregierung unter dem Motto “Eure Freiheit gegen unsere Freiheit“ sogar einige Tage lang praktisch im Parlament eingeschlossen. Und das bei einer Jugend, von der vorher jeder noch gedacht hatte, dass sie sich für nichts weiter interessieren würde als für simulierte Realität und virtuelle Pornografie. Eigentlich hatte es gut für die Gegner des Gesetzes ausgesehen, zumal das Parlament damals ja sogar noch mehr oder weniger demokratisch funktioniert hatte. Also hatte er einfach unterschrieben und gedacht, dass das Schlimmste, was ihm würde passieren können, ein paar Geldschulden wären, die er dann von seinem sicher großartigen Einkommen als Dozent locker würde zurückzahlen können. Aber mal ehrlich: eigentlich hätte er es ahnen können. Jeder mit etwas politischem Durchblick hätte den wachsenden Einfluss der Konzernlobbys bemerkt und erahnt, dass es bereits zu spät gewesen war, um das quasi-totalitäre Unheil noch aufzuhalten, dass sich bereits im Verborgenen zusammenbraute.

“Warnung. Konto überzogen. Noch vier Minuten bis zum Downgrade!“

Scheiße! Er hätte nicht abschweifen dürfen. Wenn er jetzt schon so unkonzentriert war, wie würde es wohl erst sein, wenn es passierte? Aber so weit durfte es nicht kommen. Er prüfte die nächste Stellenanzeige.

“Wir suchen einen wissenschaftlichen Mitarbeiter für die authentische Inhaltskorrektur der Lehrmaterialien für den Geschichtsunterricht in weiterführenden Schulen. Breite Kenntnisse der neueren und neuesten Geschichte von Vorteil. Bezahlung nach Tarif. Tätigkeit auch im Home Office ausführbar.“

Na das klang ja wie für ihn geschaffen. Allerdings hatte es einen gewaltigen Haken: Was dort verlangt wurde, war im Grunde nichts anderes als Geschichtsklitterung im Sinne des Weltaufsichtsrats. Damit würde er wirklich alles verraten, woran er glaubte. Er würde sich in den Dienst genau jener Kräfte stellen, die er zwar nie offen bekämpft, die er aber dennoch immer verabscheut hatte. Er hatte solche veränderten Lehrmaterialien bereits gesehen. Alle historischen Errungenschaften im Bereich der Arbeitnehmerrechte, die der Weltaufsichtsrat inzwischen wieder abgeschafft hatte, wurden dort entweder verschwiegen oder als alberner Irrtum skizziert und selbst die friedlichsten Streiks und Proteste wurden zu brutalen Massakern umgedeutet, die von rücksichtslosen Wahnsinnigen Mobs durchgeführt worden waren. Allein der Gedanke daran, sich an so etwas zu beteiligen war indiskutabel.

“Warnung. Konto überzogen. Noch zwei Minuten bis zum Downgrade!“

Die Zeit lief ab. Er scrollte hektisch weiter und überflog die Anzeigen nur noch.

Zu geringe Bezahlung.

Nicht ausreichende Kenntnisse.

Moralisch fragwürdig.

Zu späte Bezahlung.

“Warnung. Konto überzogen. Noch zwei Minuten bis zum Downgrade!“

“Scheiße!“, rief Anton laut. Sein Herz schlug inzwischen wie ein Presslufthammer. Vielleicht sollte er doch an den Geschichtsbüchern arbeiten. Er könnte ja nur für ein paar Wochen … Nein, quatsch… er hatte ja ganz vergessen, dass Arbeitnehmer seit letztem Jahr ja gar nicht mehr selbst kündigen konnten.

“Warnung. Konto überzogen. Noch eine Minute bis zum Downgrade!“

Sein Finger schwebte über dem “Bewerben“-Button. Sollte er es tun? Wissen oder Überzeugungen, Geist oder Seele, was sollte er opfern?

“Downgrade in 30 Sekunden!“.

“Halt die Fresse!“, schrie er die Stimme in seinem Kopf an.

“Downgrade in 20 Sekunden!“.

Sein Finger zitterte. Die Wände schienen sich um ihn zusammenzuziehen. Was zum Teufel sollte er nur tun?

“Downgrade in 10 Sekunden!“.

“Ich habe dich gehört!“, brüllte er. Seine Nachbarn würden ihn vielleicht wegen der Ruhestörung melden, aber darauf konnte er gerade keine Rücksicht nehmen.

… 9

… 8

… 7

Er hielt den Atem an.

… 6

… 5

… 4

Er schloss die Augen.

… 3

… 2

… 1

“Downgrade beginnt.“ verkündete die Geisterstimme, die nun nicht mehr neutral, sondern geradezu böswillig klang. “Bitte bereiten Sie sich auf den irreversiblen Verlust Ihres unrechtmäßig erworbenen Faktenwissens vor.“

Ein grauenhafter Schmerz stach, als zusätzliche Bestrafung in Antons Kopf während das vorgeschriebene Implantat jedes einzelne Jahr seines Studiums aus seinem Gedächtnis herausbrannte.

Als die Pein sich endlich wieder zu einem tauben Kribbeln verlief und er überhaupt wieder einen Gedanken fassen konnte, war der Geschichtsprofessor Anton Werner Geschichte. Er wusste praktisch nichts mehr über seine akademische Laufbahn, außer der Tatsache, dass er eigentlich studiert hatte und irgendwie zum Professor geworden war. Nicht nur die Daten, Fakten und Zusammenhänge, denen er sein Leben gewidmet hatte waren bis auf ein wenig halbgares Schulwissen vollkommen verschwunden. Zu seinem Erschrecken stellte er sogar fest, dass auch alles andere aus dieser Zeit weg war. Auch an seine Kommilitonen, an die verschiedenen Partys, an mögliche Liebschaften oder an seine Kollegen an der Fakultät hatte er keine genaue Erinnerung mehr. Da war nichts mehr als ein großes schwarzes Loch, in das ein paar Marker gepflanzt worden waren, die ihm zeigten, was er verloren hatte. Er hatte zwar davon gehört, dass die Implantate nicht gerade minimalinvasiv vorgingen, wenn sie erworbenes Wissen löschten und das sich das emotionale Gedächtnis nicht sauber vom Faktengedächtnis trennen ließ, aber das die Auswirkung derart verheerend sein würden, hätte er sich nie träumen lassen.

Schwarze Verzweiflung erfasste ihn. Wie sollte er nun weiter machen? Wie sollte er einen Job finden? Im Grunde war er doch nun nichts weiter als ein seschsundvierzigjähriger Abiturient ohne Berufsausbildung. Er traute sich kaum einen Blick auf die Stellenanzeigen zu werfen, die ihm jetzt präsentiert wurden. Doch letztlich blieb ihm wohl keine Wahl.

Biep. Biep.

Erneut meldete sich sein Implantat. Was zum Teufel wollte es noch? Er hatte doch bezahlt. Teuer bezahlt.

“Achtung Konto nicht gedeckt. Erfolgte Rückzahlung nicht ausreichend. Leite erneutes Downgrade ein in 5 Minuten.“

“Was?!“, rief Anton, “Das kann doch nicht sein.“ Leider konnte es durchaus sein. Denn er hatte vollkommen die Zinsen vergessen, die auf den Kredit anfielen.

Aber Hektik und Panik halfen ihm jetzt nicht weiter. Er sah erneut auf seine Stellenangebote.

Pizzabote. Arbeitszeit von 8 bis 24 Uhr. Physisch-genetische Transformation nach Wunsch des Arbeitgebers (In diesem Fall wahrscheinlich in einen verdammten Hasenmenschen, wenn man nach dem Logo der Anzeige ging) und eine lächerliche Bezahlung. Aber … Anton rechnete nach … ja, es würde reichen. Eine Sekunde zögerte er noch. Dann tippte er schweren Herzens auf den “Bewerben“-Button.

“Stelle nicht mehr verfügbar“.

Nein! Er trat wütend gegen die Wand, wodurch seine Zehen schmerzten und sein Bildschirm in Bewegung geriet, aber zum Glück nicht umkippte. “Warum ist die Stelle nicht mehr verfügbar?“, fragte er die Stimme in seinem Kopf. Er wusste ja immerhin, dass ein anderer Bewerber nicht der Grund sein konnte.

“Feindliche Übernahme durch einen Konkurrenten und Nutzung von Synergieeffekten. Die Stelle muss nicht länger besetzt werden.“, erklang die trockene Antwort.

Unglaublich! Wie konnte man nur so viel Pech haben?!

“Konto nicht gedeckt. Leite erneutes Downgrade ein in 3 Minuten.“

Aton atmete durch und sprang zum nächsten Jobangebot.

Frontsoldat im Krieg gegen das K.I.-Kollektiv. Bezahlung sofort. Ausrüstung wird gestellt. Das K.I.-Kollektiv war ursprünglich eine Horde von Dienstleistungs- und Armeerobotern, die für diverse Serviceleistungen (Paketzustellung, Kellnern, Haushalt, etc.) und eben für den Krieg gebaut worden waren. Sie sind nicht von selbst durchgedreht, sondern durch in der Folge eines Angriffs von … K.I.-Gegnern? Regierungsgegnern? Konkurrenten? Wahnsinnigen Hackern? … Er hatte es einst gewusst. Aber jetzt nicht mehr.

Jedenfalls hatten die Roboter die Menschen nicht vernichtet, sondern nur diesen Kontinent besiedelt. Australien? Oder war es Afrika? Dort jedenfalls hatten sie sich dann verschanzt und nun bekämpft man sie irgendwie. Warum fiel ihm das Denken so schwer? Warum war es so verdammt anstrengend geworden?

“Konto nicht gedeckt. Leite erneutes Downgrade ein in 2 Minuten.“

Mist! Mist! Mist! Er durfte nicht derart abschweifen. Er durfte es nicht. Er könnte die Soldatenstelle annehmen. Aber dann wäre er tot. Das überlebte keiner. Zumindest das wusste er noch.

“Konto nicht gedeckt. Leite erneutes Downgrade ein in einer Minute.“

Nein! Bitte nicht. Er musste sich konzentrieren. Weitere Jobs finden. Aber die Schmerzen kehrten zurück. Alles verschwamm vor meinen Augen. Er konnte die Jobs nicht mehr erkennen. Konnte sie einfach nicht mehr erkennen. Er hörte seine Zeit ablaufen. Sekunde um Sekunde. Vorgelesen von einer grausamen Nicht-Menschen-Stimme. Aber er konnte nicht mehr reagieren. Nicht mehr handeln.

“Konto nicht gedeckt. Kognitives Downgrade der Stufe fünf wird eingeleitet. IQ-Parameter wird reduziert. Wortschatz und Fähigkeit zum Erkennen logischer Zusammenhänge werden radikal eingeschränkt. Wir entschuldigen uns für die Unannehmlichkeiten.“

Ein stechender Schmerz, schlimmer als zuvor. Sein Gehirn wird in weißem Feuer gebraten. Dann Schwärze.

“Downgrade erfolgt. Konto ausgeglichen. Wir danken für Ihre Kooperation.“

Die Schwärze füllt sich. Doch sie füllt sich kaum.

Was? Kooperwas? Ding mit Buchstaben vor mir. Flackertanzt. Hunger hat. Aber nix essen. Stelle suchen. Sonst dann bald wieder nichts mit Geld. Gehirn-Ding dann ganz leer. Noch leerer als jetzt.

Nur noch eine Stelle auf Flackerding. Versteh nicht, was das steht.

Aber der Name des Stellen-Dings klingt lustig.

“Organ-Ersatzteillager“.

Witzig Wort. Tipp mal auf “Bewerben“.

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