Deutsches Creepypasta Wiki
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Genau genommen bin ich mir auch heute noch nicht ganz im Klaren darüber, wie alles so kommen konnte, wie es heute ist, dachte ich, während ich mit meinem Dietrich unauffällig an der Eingangstür des Mehrfamilienhauses herumfingerte. Ob eine glückliche Fügung des Schicksals meine geheimen Wünsche erfüllt hat, oder ob ich einfach durch Zufall einen Punkt übertreten habe, von dem aus es kein Zurück mehr gibt, lässt sich schwer sagen. Ich stieg gemütlich die Treppen hinauf, als wüsste ich genau, wohin ich muss und als würde ich hier her gehören. Das fiel mir leicht. Es fiel mir immer schon leicht, denn eigentlich gehörte ich nirgendwo hin. Ich ließ meine Augen über die schäbigen Klingelschilder schweifen, während ich beiläufig dem Putz auswich, der von den Wänden bröckelte. Diese Absteige war fast noch billiger als alle Verstecke, die ich bisher bewohnen musste. Als ich endlich den Namen entdeckte, den ich suchte, schob sich gerade eine mit schweren Kisten bepackte Frau an mir vorbei. Obwohl sie recht jung aussah, war an ihrer Art sich zu bewegen klar zu erkennen, dass sie etwa fünfzig war, vielleicht etwas jünger. Um zu verhindern, dass sie während des Schlossknackens auf mich aufmerksam wurde, bot ich ihr meine Hilfe an, und trug die Kisten in den nächsten Stock zu ihrer Wohnung, wich einem weiteren Gespräch aus, und ging wieder herab.

Schon nach wenigen Sekunden stand fest, dass das verdammte Schloss wohl seit Jahren nicht gepflegt worden war. Es klemmte wie sonst was. Nach einigen weiteren Sekunden intensiven Drehens und Drückens klickte es endlich. Ich schob die Tür auf. Ein kleines, weißes Kätzchen mit einem grünen und einem gelben Auge lief mauzend auf mich zu und drückte sich schnurrend an mich. Ich schloss die Tür wieder und kraulte dem Tier kurz die Ohren, durchquerte den Flur und drückte die Klinke der Tür herab, hinter der ich den Fernsehgeräuschen nach das Wohnzimmer vermutete. Die Klinke und das Scharnier quietschten hörbar, als ich sie öffnete. Jemand sagte „Hey Schatz, du bist schon...“ Der Mann, der wohl etwa mein Alter, eher jedoch ein paar Jahre weniger hatte, starrte mich fassungslos an. Er stand vor einem kleinen Kühlschrank, eine leere Flasche Bier in der Hand. Fettiges, dunkles Haar hing ihm ins Gesicht und ein kurzer, einigermaßen gepflegter Bart bedeckte einen Großteil der Wangen und das Kinn. „Wer... wer bist du?“ fragte er mit Angst geweiteten Augen. „Ein Alptraum, der dich viele, viele Jahre zu spät ereilt“, antwortete ich, klappte im selben Moment blitzartig mein Butterfly-Messer auf und durchtrennte mit einem schnellen Satz nach vorne seine Kehle, noch bevor er schreien konnte. Blut spritzte aus seinem Hals, wie Wasser aus einem Gartenschlauch, beschmutzte meine Handschuhe, überflutete den Boden. Er sank auf die Knie, sein Leben wie seine Körpersäfte rapide abfließend. Die Bierflasche glitt ihm erst aus der Hand, als er endgültig seine Kraft verlor, kullerte über den Boden unter ein altes, muffiges Sofa. Ich wischte das Messer an seiner Kleidung ab, wobei ich penibel darauf achtete, nicht in die wachsende Blutlache unter mir zu treten, klappte es zusammen und ließ es in einer meiner zahlreichen Taschen verschwinden. Als ich das Wohnzimmer wieder verließ, sah das Kätzchen mich verwirrt an. Ich kraulte ihm erneut über den Kopf, wobei ich eine dünne Blutspur hinterließ, und wisperte: „Ausgelöscht..“ Die Handschuhe verschwanden unauffällig in den Innentaschen meines tadellos sauberen Mantels, als ich die Wohnungstür wieder hinter mir schloss und meine Schritte mich in den Trubel des Alltags dieser belebten Stadt führten. Erst jetzt fiel mir auf, wie schön dieser Tag war.

Abends, als ich meine Handschuhe endgültig losgeworden war, um mich auch der letzten Spuren zu entledigen, bezog ich in einem billigen Hotel unweit meines heutigen Arbeitsplatzes Stellung. Es war für meine Zwecke perfekt. Keine Personalien, keine Fragen. Ein Blick auf die Uhr. 21:57. Ich öffnete trotz der Kälte mein Fenster und lehnte mich entspannt auf einem abgenutzten Sessel zurück. Der Schrei zerriss die Stille der Nacht nur wenige Minuten später und auch das manische Weinen war so laut, dass ich es bis hier hören konnte. Ein seeliges Lächeln umspielte meine Lippen. Seit langer Zeit das erste Mal. Das Weinen und Schreien hielt noch einige Minuten an, bis es von Sirenen herannahender Streifenwagen überlappt wurde. Diese Symphonie des Schmerzes, die ich eigens ihr zuliebe über Jahre komponiert habe, war mein Lebenswerk, mein letztes Geschenk, dessen Erschaffung so viele Jahre meines Lebens verschlungen hatte. Auch wenn ich wusste, dass es ihr nicht gefällt, so fühlte ich doch reine Glücksgefühle dabei, sie als Sängerin in dieser Arie der Pein zu hören. „Keine Angst..“, flüsterte ich, während ich geistesabwesend mit meinem Messer spielte. „Wir beide werden bald ein anderes Stück zusammen aufführen...“

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