Weiter, immer weiter. Ich muss ständig in Bewegung bleiben, sonst werden sie mich wieder einholen. Die Stimmen, die in meinem Kopf geistern. Sie flüstern mir zu, dass ich versagen werde. Ich höre sie jetzt noch. Wie Aasgeier kreist ihr Echo um meinen Verstand und zerrt an meinen Gedanken. Ich darf mich nicht ablenken lassen, muss weiterrennen. Der Tag endet bald und mit der Nacht muss ich sicher vor dem Dunkel der Nacht sein. Wenn ich es nicht schaffe, bin ich ihm hilflos ausgeliefert. Er ist der Schrecken, der mich wachhält, der mir kaum Ruhe gönnt. Das Schlafen habe ich bereits aufgegeben, denn selbst im Traum sucht er mich heim. Doch es gibt für mich noch einen letzten Hoffnungsschimmer, ganz am Ende dieses Tunnels aus Tod und Finsternis.
Mein Name… ich habe ihn schon vor langer Zeit vergessen. Das Einzige, woran ich mich noch erinnern kann, sind die Regeln, mit denen ich überlebe: Meide das Dunkel und nutze den Tag. Ich habe jahrelang nichts anderes getan. Das Andere, was in meinen Erinnerungen liegt, ist die Nacht, in der es begann; meine endlose Flucht fand dort ihren Anfang…
Vor ungefähr 6 Jahren, es war ein Freitagabend, kehrte ich von der Arbeit nach Hause zurück. Meine Frau und meine Kinder empfingen mich freudig, und wir aßen gemeinsam zu Abend. Nachdem wir die Kinder ins Bett geschickt hatten, schauten ich und meine Frau fern. Ich erzählte ihr von meinem Tag; damals hatte ich eine Stelle als Personalmanager in einer großen Firma. An diesem Tag hatte ich einem Mitarbeiter die Kündigung überreicht, die Chefs hatten ihn rausgeworfen. Flehend hatte er mich gebeten, ich solle etwas dagegen tun, doch es war bereits beschlossene Sache gewesen. Ich war machtlos, und das sagte ich ihm auch. Trotzdem verfluchte er mich und sagte, er würde mich noch im Grab heimsuchen. Als ich dies meiner Frau erzählte, nickte sie bedächtig und umarmte mich bemitleidend. Das war das letzte Mal, dass sie das getan hatte…
Kurze Zeit später bemerkten wir etwas: Hinter den heruntergelassenen Rollläden blitzte ein Licht aus unserem Garten auf. Meine Frau bat mich, nachzuschauen was das da draußen sei. Ich nahm mir eine Taschenlampe und verließ unser Haus durch die Gartentür. Im Garten fand ich allerdings nichts Besonderes vor. Ich wollte wieder hineingehen, da fiel die Tür zu. Ich wollte meinen Schlüssel aus der Hosentasche nehmen, doch er fiel auf den Boden, und im gleichen Moment gab die Taschenlampe den Geist auf. Fluchend kroch ich auf dem Boden herum und tastete nach den Schlüsseln. Es war still draußen. Totenstill. Nicht ein einziges Geräusch.
Endlich ertastete ich die Schlüssel. Ich wollte aufschließen, doch dann sah ich, dass sich im Fenster der Tür etwas regte. Vielleicht meine Frau? Ich schloss auf- und ihr Leichnam fiel mir entgegen. Blutverschmiert und zerfetzt. In mir stieg Panik auf. Wie hatte das passieren können? Sie war vor kurzer Zeit doch noch bei mir gewesen. Und die Kinder…
Ein Schock überkam mich. Ich stürmte hinein und rammte die Tür zum Kinderzimmer auf. Etwas Grauenhaftes befand sich vor mir. Jemand hatte meine Kinder mit ihren eigenen Bettdecken an der Deckenlampe erhängt. Leblos baumelten ihre kleinen Körper hin und her. Voller Trauer fiel ich auf die Knie. Meine Trauer war unbeschreiblich. Ich weinte und weinte, bis alle Tränen vergossen waren. Ich blickte auf, und ich bemerkte, dass die Temperatur gesunken war. Überhaupt war es unnatürlich kalt im Haus. Ich drehte mich um und sah etwas in der Dunkelheit im Flur. Etwas bewegte sich. Kam auf mich zu. ES wurde immer kälter. Eine tiefe Angst regte sich in mir, mein Körper wollte wegrennen, doch ich war wie versteinert. Das Etwas kam näher… beugte sich vor… streckte seine Hand aus…
Endlich gelang es mir, mich loszureißen. Ich stürmte zum Fenster, öffnete es hastig und rannte, rannte in die Nacht hinein. Das Etwas folgte mir, doch als ich an einer Laterne schnaufend stehen blieb und zurücksah, war es nicht mehr so nah. Es blieb im Dunkeln, umkreiste den Lichtschein der Laterne. Ganz leise hörte ich in meinem Kopf Geräusche, so als ob jemand sprach. Ich kauerte mich zusammen, blieb im Licht.
Vielleicht eine halbe Stunde später begann das Licht der Laterne zu flackern. Das Etwas in der Dunkelheit kam nun näher, es kreiste nur noch etwa einen Meter um den Lichtschein. Ich stand auf, sah mich hektisch nach einer Lichtquelle um. Da fiel das Licht aus. Das Etwas kam nun auf mich zu, streckte seine von der Finsternis verhüllten Finger aus. Ich rannte zur nächsten Laterne, doch auch diese gab den Geist auf. Ich rannte weiter, die Straße entlang, und schrittweise verfiel die Straße hinter mir der Dunkelheit, eine Laterne nach der anderen fiel aus. Am Ende der Straße gab es keine Laterne mehr, kein Licht, nirgendwo. Ich war gefangen. Die letzte Straßenlaterne gab nun den Geist auf, und das Etwas aus dem Dunkel kam wieder näher. Hastig kramte ich mein Handy hervor, schaltete die Handylampe ein du hielt sie meinem Verfolger direkt entgegen. Was ich sah, werde ich nie wieder vergessen. Es war zu schrecklich, zu surreal, um es zu ertragen. Mir stand ein Wesen aus weißem Nebel gegenüber; es schwebte in der Luft, und in der Mitte war ein riesiges Auge, das mich hasserfüllt ansah. Es hatte zwei Arme, die von schwarzen Rauchschwaden durchzogen waren. Mein Gegner wich zurück, doch er machte einen Bogen und kam von der linken Seite auf mich zu. Wieder hielt ich ihm mein Handy entgegen, wieder wich es zurück. Ich wusste, dass ich das nicht lange durchhalten würde, und betete, dass es aufhören würde. Und da kam die Sonne hervor.
Das Wesen wich in den Schatten, um den Sonnenstrahlen zu entfliehen. Ich hingegen ließ mein Handy fallen und rannte, so schnell ich nur konnte. Ich wollte allem einfach nur entfliehen, wollte weg, irgendwohin, wo ich sicher vor diesem Ding war. Ich weiß heute nicht mehr, wie lange ich gerannt bin. Seitdem verfolgt es mich immer noch, immer wenn es dunkel ist, kommt es hervor und jagt mich. Mittlerweile habe ich mir einige Taschenlampen besorgt, die mir im Dunkel Licht spenden. Das Drinnensein musste ich auch aufgeben, denn das Wesen folgt mir auch dorthin; es lässt alle Lichter und Lampen verlischen. Ich bin immer unterwegs, halte niemals an. Schon vielen habe ich meine Geschichte erzählt, nicht einer hat mir geglaubt. Ich musste vor der Polizei fliehen, denn sie geben mir die Schuld am Tod meiner Familie und wollen mich in eine Anstalt stecken, und das wäre mein Tod gewesen. Ich habe nachgeforscht, und fand heraus, was mich da verfolgt: Es ist der Rachegeist des verstorbenen Angestellten, dem ich die Kündigung überreicht hatte. Am selben Tag beging er Selbstmord. Er war ein Familienvater wie ich gewesen, sein Job war seine einzige Überlebenschance. Es war nicht meine Schuld gewesen, doch er verfolgte mich immer noch. Die Chefs meiner ehemaligen Firma waren, wie ich in Erfahrung gebracht hatte, auf unerklärliche Weise verstorben.
Noch heute vermisse ich meine Frau und meine Kinder. Ihre Stimmen sind auch unter denen, die mich Tag und Nacht quälen. Ich bin in einer ewigen Jagd gefangen, die erst endet, wenn es mich einholt. Doch eine Chance habe ich noch. Das Grab des Angestellten. Dort kann ich vielleicht die Lösung finden.
Es war fast schon wieder Nacht, als ich zum Friedhof kam. Ich holte meine Taschenlampe hervor und leuchtete mir den Weg zwischen den Grabsteinen. Da sah ich einen, dessen Beschriftung mir bekannt vorkam. Meine Familie. Ich kniete wieder und weinte leise. So viele Jahre waren vergangen, seit ich sie zum letzten Mal gesehen hatte. Ich unterdrückte meine Tränen und stand auf. Das Grab desjenigen, den ich in den Tod getrieben hatte, musste gefunden werden.
Ich lief die Reihen ab und leuchtete auf die Grabsteine, aber ich fand nichts. Immer weiter lief ich in den Friedhof hinein. Ab und zu leuchtete ich um mich herum, um sicherzugehen, dass ich allein war. Die Reihen schienen sich endlos hinzuziehen. Dann sah ich etwas. Das Wesen, das mich verfolgt hatte, schwebte einige Meter vor mir. Doch es griff mich wie sonst nicht an, sondern es schwebte über einem Grabstein...
Ich leuchtete ihn an. Der Name des Selbstmörders stand darauf. Ich hatte es gefunden! Nun musste ich nur noch herausfinden, was ich nun zu tun hatte. Doch dazu blieb mir keine Zeit.
Eine Hand schoss aus dem Boden und umklammerte meinen Knöchel. Ich stürzte, und das Grab vor mir erbebte. Die Erde teilte sich, und der verrottete Leichnam des Toten erhob sich. Er griff nach meinem Fußknöchel und zog mich zu ihm in sein Grab. Ich trat und schlug nach ihm, doch das kümmerte ihn nicht. Langsam wurde ich hinabgezogen, die Erde vergrub uns beide. Das Letzte, was ich sah, war der Geist, der über uns schwebte. Er hatte vollkommen menschliche Gestalt angenommen und sah mich voller Hass an…
Nun war ich gefangen, unter der Erde, und drohte zu ersticken. Verzweifelt klammerte ich mich halb im Sterben an einen letzten Gedanken…
Die Familie des Kerls sollte meine ewige Rache spüren…