Deutsches Creepypasta Wiki
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Inahltsverzeichnis des Mehrteilers

Teil 1: Fotografie

Teil 2: Blitzlicht


Zugfahrt[]

Klick. Ein Blitz erfüllte das fast leere Zugabteil, welches sich ratternd durch den dunklen Tunnel vorwärtsbewegte.

Posenwechsel – KlickBlitzlicht.

Erneuter Posenwechsel – KlickBlitzlicht. Der Abzug wurde in einer rhythmischen Folge wieder und wieder betätigt. Das Blitzgewitter begann längst die anderen Fahrgäste merklich zu stören, doch Sahra ignorierte das geflissentlich. Niemand stellte sich zwischen sie und ihre Kunst. Abgesehen davon registrierte sie ihre Umwelt sowieso kaum.

„Ok, eins noch. Ich denke, das wird dann reichen“, meinte ihr heutiges Model, welches gleichzeitig eine gute Freundin von ihr war.

Die Andere quittierte das mit einem Schulterzucken. „Wie du meinst.“ Sie hatte ohnehin mehr als genug neue Bilder geschossen. Einmal mit ihrer Obsession begonnen, fiel es ihr jedoch immer schwer, wieder damit aufzuhören. Es war für sie wie eine Sucht.

Die Fotografie hatte schon immer einen festen Platz in ihrem Leben, wenn sie nicht gar dies definierte und ausmachte.

Schon als junges Mädchen hatte sie ihre Leidenschaft für das Ablichten entdeckt und seither so ziemlich alles bildlich festgehalten, was ihr vor die Linse geriet: Menschen, Tiere, Landschaften, Alltagsgegenstände, Banalitäten, völlig gleich.

Ihrer bescheidenen Meinung nach gab es nichts auf der Welt, das es nicht wert war, festgehalten zu werden. Den Moment einfangen, ihn für die Ewigkeit konservieren. Nun, vermutlich nicht für die Unendlichkeit, denn Datenträger, egal welcher Form, bleiben genauso vergänglich wie die Dinge, die sie fotografierte.

Ihre eigene Existenz hingegen sollten sie zu überdauern in der Lage sein. Das gab Sahra ein Gefühl von ... Sicherheit. Beständigkeit.

Erinnerungen verblassten mit der Zeit, sie gerieten in Vergessenheit. Individuelle, besondere Augenblicke zogen an denjenigen, die sie wahrnahmen, vorbei und versanken im Nebel. Ihre Bilder bewahrten diese, zumindest eine Weile lang.

Wenn Sahra anderen so von ihrer Leidenschaft berichtete, vermuteten diese häufig, sie habe einst einen wichtigen Menschen in ihrem Leben verloren und hätte heute nichts mehr, was sie an diese Person erinnerte. Klischees, die sicher ihre Daseinsberechtigung hatten, aber auf sie nicht zutrafen.

Jeder, der ihr etwas bedeutete, erfreute sich eines gesunden Lebens, es gab in knapp zwanzig Jahren keinen schwerwiegenden Verlust zu beklagen. Woher dann diese Denkweise rührte, war ihr selbst nicht bewusst, es kümmerte sie allerdings auch kaum. Sie lebte für ihre Fotografie, ein Umstand, den sie nicht hinterfragte.

„Schön, ein letztes also.“ Sahra hörte das erleichterte Aufatmen eines älteren Ehepaares eine Bankreihe weiter. Sie ging mit einem Schulterzucken darüber hinweg, hob die Kamera, blickte durch die Linse, fokussierte ihre Freundin, die ihr lächelnd gegenübersaß. KlickBlitzlicht – und dann schrie Sahra plötzlich laut auf, ein Laut, der gellend durch das gesamte Abteil hallte.

Der Schock ließ ihr die Kamera aus den Händen gleiten. Sämtliche Fahrgäste, inklusive ihrer Freundin Maia, zuckten erschrocken zusammen. Das Modell reagierte trotz des Schrecks gerade rechtzeitig und fing das fallende Gerät auf, bevor es auf dem Boden zerschellte.

Sahras Schrei erstarb so schnell, wie er gekommen war.

„Was ist denn los mit dir?“, fragte Maia sie, deren Herz weiterhin wilde Hüpfer aufgrund des Schrecks unternahm. Die anderen Fahrgäste musterten die junge Frau ebenso interessiert, da sie die Antwort genauso gern erfahren wollten.

„Nichts ... nichts. Alles gut. Ich ... Lass uns bitte austeigen.“ Sahra war für den Augenblick zu verstört, um eine klare Erwiderung zu liefern. Sie wollte nur raus an die frische Luft und fort von den Blicken, die sie neugierig musterten.

Der Zug kam kreischend zum Stehen. Maia war geistesgegenwärtig genug, um keine weiteren Fragen zu stellen. Stattdessen half sie ihrer Freundin auf und manövrierte sie hinaus auf den Bahnsteig.

Sie setzten sich auf die nächstbeste Bank. Die Fotografin zitterte wie Espenlaub, was weitere forschende Augenpaare auf sich zog, welche jedoch schnell wegsahen, als sie von der Begleiterin finster gemustert wurden.

Erst als sie sichergestellt hatte, dass niemand sie stören würde, wandte Maia sich ihrer Freundin zu. „So, und jetzt beruhige dich erst einmal“, sagte sie. Die Sorge stand ihr ins Gesicht geschrieben. So hatte sie die Andere noch nie erlebt. So hatte sie noch nie irgendjemanden je erlebt.

Sahra atmete ein paar Mal tief ein und aus. Der Schock legte sich langsam und ihre Gedanken wurden ein wenig klarer.

„Gib mir die Kamera!“, befahl sie und etwas in ihrer Stimme veranlasste Maia, weiterhin keine Fragen zu stellen. Sie nahm das digitale Gerät entgegen, öffnete mit ein paar Klicks das zuletzt geschossene Bild und erstarrte.

„Was hast du denn?“, fragte Maia nach einer Weile, als sie es nicht länger aushielt, da ihre Freundin lediglich auf den kleinen Bildschirm starrte, ohne einen Laut von sich zu geben oder überhaupt eine Reaktion zu zeigen.

Sie lehnte ihren Kopf ein wenig rüber, um sich anzuschauen, was die Andere so in Schrecken versetzte. Darauf sah sie eine Ablichtung ihrer selbst, lächelnd in einem Zug sitzend. Sonst nichts Außergewöhnliches. „Seh‘ ich so furchtbar aus?“, fragte sie scherzhaft, in der Hoffnung, die Stimmung damit aufzulockern.

Daraufhin fing Sahra unweigerlich zu lachen an. Die Starre, die sie umklammert hatte, löste sich auf einmal wie ein fester Knoten von ihr. Sie sah ihre Freundin lächelnd an und schüttelte den Kopf. „Nein, du siehst wunderbar wie immer aus. Ich dachte, ich hätte etwas gesehen, aber offenkundig habe ich mir das nur eingebildet.“

Maia sah sie zweifelnd an. „Na wenn du das sagst ...“ Die Aussage klang alles andere als plausibel. Eben hatte ihre Freundin leichenblass ausgesehen, und jetzt sprach sie von einer Einbildung? Das musste aber eine ganz schön heftige Illusion gewesen sein ...

Sahra nickte weiterhin lächelnd, den Eindruck schindend, dass alles in Ordnung sei. „Klar. Lass uns weiterziehen!“

Aber unter der scheinhaft freudigen Überzeugung, dass sie nur einer übertriebenen Fantasterei unterlegen war, verbarg sich weiterhin die Erinnerung an das, was die Fotografin gesehen hatte.

Die Kamera, ihr treuer Wegbegleiter, hatte ihr stets zuverlässig Aufnahmen von Momenten eingefangen, deren Zeuge sie wurde. Hierbei jedoch wurde sie im Stich gelassen. Was das Gerät zeigte, widersprach dem, was sich in ihr Gedächtnis eingebrannt hatte. Wem sollte sie Glauben schenken?

Dem menschlichen Verstand konnte nicht vertraut werden. Erinnerungen verblassten nicht nur, sie wurden zuweilen verdreht und zu einem Zerrbild der Realität.

Aufgrund dieser Tatsache, da der Mensch, oder vielmehr sein Erinnerungsvermögen, sich also stetig selbst betrog, hatte Sahra sich zumindest immer auf dies verlassen können: Dass das Werkzeug, mit dem sie dem entgegenwirkte, sich als zuverlässig erwies, ihr nie ihren Dienst versagte.

Sollte sie jetzt, aufgrund dieses einen Ereignisses, demnach von dieser Überzeugung abfallen? Dem Wundermittel der Technik den Rücken kehren und sich einem Leben in Unsicherheit, in Unbeständigkeit, in dem alles wandelbar war, keine Kontinuität bestand, zuwenden?

Nein. Die Kamera täuschte sich nicht. Sie war es, der menschliche, fehlerbehaftete Faktor. Sie hatte sich getäuscht, ihr Verstand hatte ihr einen Streich gespielt. Mehr steckte nicht dahinter, mehr konnte nicht dahinterstecken. Alles andere wäre ... Wahnsinn.

Denn wenn sie ehrlich zu sich selbst war, als wie wahrscheinlich konnte es eingestuft werden, dass sie am helllichten Tage, mitten in einer öffentlichen, überfüllten Bahn, auf einen alten, bärtigen, grauhaarigen, vom Wetter gegerbten Mann stieß, der eine schwere, rustikale Spitzhacke hoch über seinem Haupt hielt und sich mit grimmigem, fast wahnhaftem Mienenspiel im Begriff befand, diese auf ihre Freundin herabfahren zu lassen, wobei niemand außer ihr davon etwas mitbekam?

Genau, das war total verrückt, insbesondere da von dem Alten kurz nach dem Blitzlicht jede Spur fehlte ...

Nachtwanderung[]

Der restliche Nachmittag verlief ohne nennenswerte Zwischenfälle. Maia und Sahra besuchten noch diverse Orte, wobei Letztere unzählige weitere Bilder knipste. Am Ende des Tages war die Erinnerung an den alten, grauhaarigen Mann, mit langem Bart und Spitzhacke in der Hand, schon fast im Nebel des Vergessens verschwunden.

Erst tief in der Nacht verabschiedeten sich die Freundinnen – vor allem Sahra hatte inmitten ihrer leidenschaftlichen Arbeit überhaupt nicht mitbekommen, wie die Sandkörner rasend schnell durch das Stundenglas rannen; ein Umstand, der sich zuverlässiger Wiederholung erfreute.

Mitten in der Woche wurden demzufolge einige Um- und Fußwege erforderlich, da um diese späte Uhrzeit der öffentliche Nahverkehr nur in begrenztem Rahmen zur Verfügung stand. Sahra störte sich nicht daran, war sie es doch gewohnt. Zudem hatte sie einen – weitgehend – erfolgreichen Tag hinter sich und die Verlockung, dass die Dunkelheit der Nacht weitere Gelegenheiten für spannende Bilder bot, tat ihr Übriges, um sie bei Laune zu halten.

Den Großteil des Rückwegs hatte sie schon hinter sich gebracht und lief nunmehr durch die menschenleere Altstadt.

Dunkle Ladenfronten zogen an ihr vorbei, aus denen manche Ausstellungspuppen einiger Bekleidungsgeschäfte sie aus leeren Gesichtern beobachteten. Verschlossene Häuser, deren Fassaden tiefliegende schwarze Löcher bargen, umringten sie. Die unendliche Weite schluckte das Hallen ihrer leichten Schritte. Stille dröhnte in ihren Ohren.

Nichts davon ängstigte sie ernsthaft. Es war nicht erste und würde nicht das letzte Mal sein, dass die Dunkelheit sie in ihre kalten Arme nahm. Jedoch, an diesem Tag war es anders als sonst.

In der Ruhe der sie umgebenden Nacht lichtete sich der Nebel ihrer Erinnerung an ein Ereignis, dass ihrer festen Überzeugung nach nicht stattgefunden haben konnte. Das Bild einer hocherhobenen Spitzhacke hing vor ihren Augen wie ein Mahnmal, es nicht erneut der Vergessenheit anheimfallen zu lassen. Ihr fröstelte ein wenig, während sie beständig weiterzog.

Die Kälte, die ihren Rücken emporkroch, wurde schlagartig beißend, als sie etwas hinter sich hörte. Für gewöhnlich verschreckten die wenigen Geräusche der Nacht sie nicht, aber dieses hier hatte sie nie zuvor vernommen. Sie blieb nicht stehen, drehte sich nicht um, lief stur weiter auf ihrem Weg, welcher sie ins traute Heim führte.

Der Laut ertönte erneut, schallender dieses Mal und näher. Sahras Herz setzte für einen Augenblick aus.

Nunmehr blieb sie doch stehen, drehte sich aber nicht um. Stattdessen lauschte sie, ob das unbekannte, bislang nicht identifizierbare Geräusch erneut ertönte. Alles, was sie zu hören vermochte, war der Wind, der durch die Straßen blies und sie schaudern ließ. Nachdem sie einige Minuten dagestanden hatte – vermutlich waren es nur Sekunden gewesen, aber ihr kam es bedeutend länger vor –, schüttelte sie über sich selbst den Kopf. Was war bloß los mit ihr?

Ohne länger zu zögern, drehte sie sich um und - siehe da: nichts. Die Straße hinter ihr lag genauso verlassen wie zuvor da. Sie teilte sich diese späte Stunde höchstens mit den Ratten, die sich auf die Suche nach etwas Fressbaren herausbegaben.

Neuen Mut fassend setzte Sahra ihren Weg fort, doch weit kam sie nicht. Wenige Schritte später hörte sie wieder das Geräusch, dieses Mal direkt hinter ihr. Ihr Atem stockte, ihr Herz raste, doch sie lief weiter, als wäre nichts gewesen, nur, dass sie, ohne es zu merken, ihre Geschwindigkeit erhöhte.

Was um alles in der Welt verursachte solche Laute? Es klang, als schabe ein harter Gegenstand über den Asphalt. Eine Stange. Ein Rohr womöglich. Eine Klinge ...

Oder eine Spitzhacke ... dachte Sahra. Da ergriff sie die Panik.

Aber sie hatte hinter sich nichts und niemanden gesehen! Trotz dieses Wissens lief sie schneller und immer schneller, rannte fast schon, traute sich das aber nicht vollends, weil ein winziger Teil ihrer selbst sie paranoid schimpfte. Ein winziger Teil, dem es wichtiger schien, sich nicht zu blamieren, statt um ihr Leben zu laufen.

Das Geräusch ertönte nicht erneut, dennoch wollte sie, so schnell es ihr – im Rahmen der gesellschaftlichen Akzeptanz für Schrittgeschwindigkeit – gelang, nach Hause.

Nur noch um die nächste Ecke, dann habe ich es geschafft! Die junge Frau lief zielsicher auf die Straßenecke zu, doch just in diesem Augenblick kam eine Gestalt um die Ecke gewankt.

In der Dunkelheit, welche nur durch das spärliche Laternenlicht durchbrochen wurde, war sie nicht eindeutig zu erkennen. Die Schemen, die Sahra auszumachen fähig war, reichten ihr allerdings schon vollkommen, um sie erstarren zu lassen. Es handelte sich um einen älteren, leicht buckeligen und vermutlich bärtigen Mann, der irgendetwas hinter sich her schleifte.

Oh Gott, das kann einfach nicht wahr sein, bitte lass diesen Alptraum endlich enden! Sie wollte schreien, wollte wegrennen, wollte sich in ein dunkles, sicheres Loch verkriechen und nie wieder hervorkommen, doch alles, was sie tat, war, wie festgefroren stehen zu bleiben. Die Angst lähmte sie, erlaubte ihr nicht, nur einen Finger zu rühren, und der bärtige, alte Mann mit der Spitzhacke – was sollte er da sonst hinter sich her schleifen? – kam schwer schnaufend näher.

Gleich würde er bei ihr sein, er würde vor ihr stehen bleiben, sie mit seinen trüben, glasigen Augen mustern, sein verrostetes, aber weiterhin todbringendes Werkzeug hoch über den Kopf heben und ...

Bevor Sahra den Gedanken zu Ende führen konnte, war die Schreckgestalt schon bei ihr angelangt. Entgegen ihrer Fantasie lief er aber schlicht weiter, schnaufend und zusammenhangloses Zeug vor sich hin brabbelnd - das hörte sie erst jetzt – an ihr vorbei.

Er verbreitete zwar einen unangenehmen, beißenden Geruch und war eindeutig nicht ganz bei sich, aber jetzt bemerkte die Verängstigte erleichtert, dass er dem Spitzhackenmann aus ihrer Einbildung nur bedingt ähnelte. Zudem schleifte er kein solches Werkzeug hinter sich her, sondern nur einen großen Müllbeutel, in dem er vermutlich die wenigen Sachen aufbewahrte, die er sein eigen nannte – wovon ein Gegenstand offenkundig metallischer Natur war. Es handelte sich demzufolge nur um einen Obdachlosen, welcher sich auf der Suche nach einem geeigneten Schlafplatz befand.

Einmal mehr musste Sahra über sich den Kopf schütteln. Was war nur in sie gefahren? Ihr Herzschlag beruhigte sich wieder, ein Lächeln aufgrund ihrer eigenen Idiotie stahl sich über ihre Lippen und erneut setzte sie ihren Weg fort.

Sie ging um die Ecke. Nur noch wenige Meter trennten sie von ihrem zu Hause. Vorher kam sie an einem weiteren, kleinen Laden vorbei, dessen Schaufenster den Blick auf allerlei gewährte: Von alten Spielzeugen bis hin zu antiquierten Möbeln fand sich in diesem Geschäft so ziemlich alles. Es stand dort schon so lange die Fotografin sich erinnern konnte, wobei diese bislang nie Interesse an dem Innenleben des Antiquariats gehegt hatte.

Auf halben Weg an der Glasfront vorbei hörte sie wieder etwas, wodurch Eiswasser durch ihre Adern gejagt wurde, welches ihre wiedergekehrte Zuversicht unvermittelt ausradierte.

Bei dem Laut handelte es sich dieses Mal nicht um ein Schaben und er erklang zudem nicht hinter, sondern neben ihr. Schlagartig blieb sie stehen und drehte, obgleich sie es besser wusste und jede Faser in ihr schrie, es nicht zu tun, den Kopf nach rechts.

In dem dunklen Schaufenster schien alles genau wie zuvor. Einige Porzellanpuppen blickten aus leeren Augen zu ihr auf, ein eingestaubter Teddybär musterte sie lächelnd aus der Ecke heraus und ein altertümliches Schaukelpferd füllte den Hintergrund aus.

Die junge Frau wollte sich schon lösen und weitergehen, als ein weiteres, bedeutend lauteres Geräusch aus dem Laden erklang. Stampfende Schritte kamen aus der Finsternis auf sie zu. Plötzlich wurde das Schaukelpferd in die Luft gerissen und achtlos nach hinten in den Laden geworfen. Die Puppen und weitere kleine Spielzeuge wurden beiseite gefegt, und bevor Sahras Kehle einen Schrei manifestierte, schlug etwas mit Wucht gegen das Schaufensterglas. Dass dieses dabei nicht zerbrach, kam einem Wunder gleich.

Sahra wich einen hektischen Schritt zurück, wobei sie stolperte und nach hinten fiel. Sie landete unsanft auf ihrem Gesäß und schürfte sich die Hände auf dem rauen Untergrund, bei dem Versuch sich abzufangen, auf. Gleichzeitig rutschte der Gurt ihrer Tragetasche, in der ihre Kamera lag, von ihrer Schulter. Mit einem dumpfen Laut schlug diese auf dem Pflaster auf.

Der erste Gedanke der Fotografin galt ihrem geliebten Apparat. Das eben Geschehene war für Sekunden vergessen, in denen sie hastig die Tasche öffnete und das Gerät herausholte.

Erleichtert aufatmend stellte sie fest, dass die Kamera bei dem Sturz nicht beschädigt worden war. Erst dann schlich sich erneut das Bewusstsein über das jüngste Ereignis in ihren Verstand. Panisch schaute sie auf, aber das Schaufenster lag verwaist und dunkel da. Im Inneren des Geschäfts herrschte Stille.

Eine weitere Einbildung? Aber nein, die Gegenstände lagen noch immer quer auf der Ladenfläche verteilt. Jemand, oder etwas, hatte darin gewütet, das Seltsame war nur, dass Sahra niemanden hatte sehen können ...

Sie richtete sich auf. Obgleich es verrückt schien, sie musste ein Foto von dem Schaufenster aufnehmen, um sich am nächsten Morgen versichern zu können, dass die Einrichtung wirklich verwüstet worden war. Wenn das Bild ihr zeigte, was sie gesehen hatte, würde sie mit Sicherheit wissen, dass sie nicht geträumt hatte.

Sahra blickte durch die Linse, fokussierte das Schaufenster, hielt einen Moment inne, wartete, auf was, das wusste sie nicht genau – das nächste verrückte Ereignis? – drückte auf den Auslöser, als nichts geschah – KlickBlitzlicht.

Eine Sekunde später schrie sie zum zweiten Mal an diesem Tag laut auf. Die Kamera rutschte ihr fast aus der Hand, im letzten Augenblick festigte sich ihr Griff, so dass sie nicht am Boden zerschellte. Bevor sie sich hastig bückte, um ihre Tasche zu packen und zu rennen, so schnell ihre Beine sie trugen, erhaschte sie einen letzten Blick auf das Schaufenster, welches wie zuvor verwaist vor ihr lag.

Ungeachtet der Tatsache, dass sich der Irrsinn scheinbar nur in ihrem Kopf abspielte, floh sie mit der Kamera in der einen und der Tasche in der anderen Hand. Die letzten Meter bis zu ihrer Haustür brachte sie in Sekundenschnelle hinter sich. Angst erfüllte ihr gesamtes Bewusstsein. Ihr Verstand arbeitete auf Minimalbetrieb, fokussierte sich einzig aufs schnelle und präzise Handeln. Übernatürliche Kräfte, die sie verfolgten, hin oder her, schien er der Überzeugung zu sein, dass eine simple Haustür zwischen sich und der Außenwelt ihre Rettung wäre.

Vor der Tür stehend, ließ sie die Tasche achtlos fallen, griff in die Hosentasche, packte ihren Schlüssel und verlor diesen beim Herausholen aus den Fingern. Eilig bückte sie sich, um ihn aufzuheben, und dabei hörte sie es wieder ... ein kratzendes Geräusch, das von diesem ... Ding ausging.

Es war auf Höhe des Ladens. Sahra langte zitternd nach ihrem Schlüssel, bekam ihn in ihre klammen, schweißnassen Finger und fürchtete schon, er könne ihr erneut entgleiten. Wieder aufgerichtet versuchte sie ihn in das Schloss zu drücken, aber das Zittern und der Mangel an Licht ließen sie wertvolle Sekunden damit verschwenden, ihn panisch hin und her zu schieben, ohne die Vorrichtung zu treffen.

Dann endlich glitt er mühelos hinein. Das Kratzen hinter Sahra war jedoch inzwischen nähergerückt. Es schlich sich mit beängstigender Geschwindigkeit an sie heran, war schon fast bei ihr angelangt.

Sie drehte das Metallstück, wobei das Schloss auf dem letzten Millimeter klemmte, weswegen sie an der Klinke rütteln musste und schließlich regelrecht in den Hausflur hineinfiel, weil sie sich gegen die sich endlich öffnende Tür gelehnt hatte.

Im Inneren angekommen und wieder auf festem Stand, zerrte sie einige hektische Augenblicke an dem Schlüssel, der sich weigerte herauszugleiten, da sie ihn in ihrer Panik nicht in die Ausgangsposition zurückversetzt bekam.

Das Kratzen war jetzt direkt bei der Tür angelangt. Für eine Schrecksekunde blickte Sahra auf und sah nichts außer der dezent von Laternen beleuchteten Straße, wusste aber nur allzu genau, dass es da war. Ohne sich dessen bewusst zu sein, zog sie den Türöffner nunmehr mühelos heraus und schlug die Pforte zu. Der Tasche, die weiterhin draußen lag, bemaß sie keine Bedeutung mehr bei.

Im dunklen Hausflur selbst herrschte Totenstille. Das Kratzen war verstummt. Sahra sah durch die Glasscheibe der Haustür in die finstre Nacht hinaus, vermochte aber nichts Ungewöhnliches auszumachen. Sie atmete immer noch unregelmäßig und schnell, ihr Herz raste, der Angstschweiß lief ihr aus allen Poren, aber gleichzeitig kehrte langsam ihr klares Denken zurück.

An sich hinabblickend sah sie ihre Kamera, die sie die ganze Flucht über fest umklammert gehalten hatte. Sie verstaute ihren Schlüssel wieder dahin, wo er hingehörte. Eine seltsame Ruhe begann sich in ihrem Inneren auszubreiten.

Die Fotografin hob den Apparat an, das Gerät ihrer Sicherheit, ihrer Beständigkeit, das Werkzeug ihrer Leidenschaft, das sie erfüllte – seit heute mit Angst und Terror.

Sie schaute durch die Linse, brauchte Gewissheit. Natürlich würde auf dem Bild nichts zu sehen sein außer der Straße und eine Spiegelung ihrer leichenblassen Gestalt in der Fensterscheibe, aber in dem winzigen Moment nach der Fotografie würde sie es wiedersehen können.

Den Finger schon auf dem Abzug stockte Sahra nun doch. Was tat sie da? Sie hörte nichts mehr, sie sah nur ihre gewöhnliche Wohngegend bei Nacht, sie war fast zu Hause. Warum wollte sie sich weiter foltern? Sie konnte nach oben gehen, sich ein Bad einlassen, alles Geschehene einfach vergessen. Zum Abschluss des Tages würde sie sich unter ihre Bettdecke verkriechen und beten, dass dergleichen ihr nie wieder widerfuhr, und wenn doch ... nun, war ihr ihre Fotografie wahrlich wichtig genug, dafür ihr Leben aufs Spiel zu setzen? Sich solcher Albträume zu stellen?

Ja und nein. Auf die Schrecken wollte sie gern verzichten, aber dafür das eine aufgeben, was ihr Leben bislang bestimmt hatte? Das war keine denkbare Option.

Zumal es unmöglich schien, je zu vergessen, was sie an diesem Tag erlebt hatte. Selbst wenn sie sich trennte, wenn sie ihre Kamera – und damit alles, was sie ausmachte – an den Nagel hängte, wäre da doch immer die Angst vor dem Unbekannten, vor dem, was im Schatten lauerte, unbemerkt, in einer Art Zwischendimension.

Sie musste es wissen. Wenn das Ding weiterhin da draußen umherschlich, würde sie den Morgen womöglich nicht erleben, solange sie keine Maßnahmen ergriff. Sich zu verkriechen und die Götter zu rufen, die sie ohnehin nicht erhörten, war nicht die Lösung, sondern ihr Todesurteil.

Sie hatte etwas gesehen, etwas, für das es keine rationale Erklärung gab, das ihr bekanntes Weltbild in ein Licht verrückte, das jede Beständigkeit sich in Luft auflösen, sie zu einem schlechten Scherz verkommen ließ. Selbst wenn dieses Wesen nicht nach ihrem Blut gierte, wie könnte sie je wieder ein normales Leben führen?

Es gab keinen anderen Weg, sie musste dem nachgehen, Erkenntnisse gewinnen, einen Pfad beschreiten, von dem es unter Umständen kein Zurück mehr gab. Aber dafür war es ohnehin längst zu spät.

Sahra machte sich bereit, war auf alles gefasst - oder redete sich dies zumindest ein. KlickBlitzlicht – und der Schrecken bekam erneut ein Gesicht.

Dieses Mal schrie sie nicht, stattdessen konzentrierte sie sich, um das Bild, welches nur eine Sekunde lang zu sehen sein würde und das ihre Kamera nicht aufzunehmen in der Lage war, in ihrem Gedächtnis zu speichern.

Das Ding war schwarz wie die Nacht, nein, schwärzer, denn es stand im krassen Kontrast zu der Finsternis, die es umgab. Es war gut einen Meter fünfzig groß, schlank, leicht nach vorn gebeugt, hatte einen kantigen Kopf, der von dicken Schlingen geziert wurde, die nur entfernt an Haare erinnerten. Die schmalen Arme endeten in knochigen Händen, welche mit scharfen Krallen versehen waren. Unter diesen Klauen sammelte sich der Dreck der Straße, da sie stetig über den Boden schleiften, wenn sich das Wesen bewegte, was wiederum das kratzende Geräusch verursachte.

Die Existenzform starrte Sahra für den kurzen Augenblick, in dem es zu sehen war, unablässig durch seine tiefschwarzen, winzigen Augen an. Ob es durch sie überhaupt sehen konnte? In jedem Fall witterte es die Andere in irgendeiner Weise, denn es folgte jeder noch so geringen Bewegung ihrerseits.

Schon nach dem Bruchteil von Sekunden war es wieder verschwunden. Erneut unsichtbar für Sahra und die restliche Welt.

Die Fotografin senkte die Kamera, schaute eine Weile in die Dunkelheit der Nacht hinaus und wartete. Auf was, das wusste sie selbst nicht so genau.

Als nach einer knappen halben Stunde, nichts Nennenswertes geschehen war, drehte sie sich um und stieg die Treppe hinauf zu ihrer Wohnung. Es war ein langer Tag gewesen, sie brauchte dringend Schlaf.

Verschwunden[]

„So, da wären wir. Ich warte draußen. Wenn was ist, einfach rufen.“

„Vielen Dank.“ Maia trat durch die Haustür und lehnte sie hinter sich ein wenig an. Sie misstraute dem Hausmeister zwar nicht grundsätzlich, wollte aber vorerst dennoch die Erste sein, die erfuhr, wenn hier irgendetwas nicht mit rechten Dingen vor sich ging.

Nachdem Sahra und sie sich vor einer Woche verabschiedet hatten, hatte Maia nichts mehr von ihrer Freundin gehört. Sie reagierte weder auf Anrufe noch auf das Klingeln an ihrer Haustür. Auch andere Bekannt- und Freundschaften sowie ihre Familie erreichten sie nicht.

Langsam kam ihr das verdächtig vor. Bislang hatte sie durchaus die Meinung der anderen geteilt: „Es ist doch nicht das erste Mal, dass sie sich eine Weile lang mit ihrer Arbeit zurückzieht.“ Was stimmte. Aber zum einen gab sie dann meist irgendwann einen Laut von sich wie „Melde mich später“, und zum anderen haftete der jungen Frau immer noch die Erinnerung an dieses Ereignis im Zug an. Danach schien zwar alles wieder in Ordnung gewesen zu sein, aber was, wenn da doch mehr dahinter steckte?

Daher hatte sie die Initiative ergriffen und sich bei dem Hausmeister gemeldet. Da es sich um eine kleine Wohngemeinschaft handelte, kannte hier so ziemlich jeder jeden und Maia war dem älteren Herrn schon mehrmals über den Weg gelaufen. Er selbst hatte von Sahra ebenfalls seit Längerem nichts mehr gehört oder gesehen, was umso seltsamer war, verging doch kaum ein Tag, den sie nicht draußen verbrachte, um neue Fotos zu schießen.

Nun war Maia in der Wohnung angelangt, und der Anblick dieser verstärkte das ungute Gefühl, dass sie schon vor geraumer Zeit beschlichen hatte, um ein Vielfaches.

Die Räumlichkeit breitete sich still vor ihr aus, was nicht das eigentliche Problem darstellte. Für gewöhnlich war Sahra die meiste Zeit so in ihre Arbeit vertieft, dass innerhalb dieser Mauern fast immerzu Stille vorherrschte. Sie sah kein Fernsehen und hörte nur selten Musik.

Nein, das eigentliche Problem lag darin, dass sich die Wände kahl und nackt offenbarten. Ein Anblick, der Maia einen Schauer über den Rücken jagte, war sie es doch sonst gewohnt, an jeder freien Stelle der Wände Fotografien aller Art zu sehen.

Der erste Gedanke, der ihr durch den Sinn schoss, war, dass Sahra umgezogen sein musste. Ohne ihr oder irgendjemand anderem davon etwas mitzuteilen ... Ja. Nein. Völliger Unsinn, vor allem, da sie dann vermutlich kaum all ihre Möbel zurückgelassen hätte, zumal mindestens der Hausmeister informiert gewesen wäre.

Blieb die Frage, was hier dann vorgefallen war. So sehr sie auch darüber grübelte – und damit indes eine Ausrede vorschob, nicht weiter hineinzugehen – ihr wollte partout keine schlüssige Erklärung dafür einfallen, dass Sahra ihre gesamte Arbeit von den Wänden hätte nehmen sollen.

Je länger sie hier stand und der endlosen Stille lauschte, desto nervöser wurde sie. Wenn sie nicht bald losmarschierte, würde sie noch zur Salzsäule erstarren. Außerdem würde sie so kaum einen Hinweis auf den Verbleib ihrer Freundin ausfindig machen.

Sie holte tief Luft, innerlich auf alles gefasst – zumindest versicherte sie sich das selbst –, und durchschritt die wenigen Meter, die der Flur bot. Ein flüchtiger Blick in Bad und Küche offenbarte dasselbe kahle, unheimliche Bild.

Eine gewöhnliche Wohnung. Kein Blut, keine Leiche - Gott bewahre! –, aber auch kein Leben. Nichts von dem, was die Wohnstätte der Fotografin ausmachte. Schließlich erreichte sie das einzige Zimmer.

Dieses war ebenfalls leer, die Fotografien von den Wänden entfernt und nur die wenigen, spärlichen Möbel zurückgelassen. Von Sahra fehlte jede Spur. „Wo bist du nur?“, flüsterte Maia, wobei sie über ihre eigene Stimme erschrak, die von den blanken Wänden widerhallte.

Sie trat weiter in den Raum und bemerkte, dass etwas auf dem einzigen Tisch der Einrichtung zusammen mit einer Kamera lag: Ein Brief, verfasst in präzisen, eng aneinanderstehenden Lettern. Eindeutig die Handschrift Sahras.

Dass der Apparat daneben stand, jagte Maia einen eisigen Schauder über den Rücken – wann gab Sahra diesen jemals aus der Hand? –, dennoch nahm sie sich einen der Stühle, setzte sich und las die Zeilen, die ihre Freundin hinterlassen hatte.


An meine Familie und Freunde, an all die Menschen, die mir etwas bedeuten und denen ich etwas bedeute, die mich den Weg meines Lebens bis hierhin begleitet haben, mir und meiner Leidenschaft treu waren und diese zuweilen unterstützt und geteilt haben:

Meine Lieben,

wenn ihr das hier lest, dann ist mein Verschwinden auffällig geworden und jemand hat sich auf die Suche nach mir begeben - oder die Behörden verständigt.

Hiermit möchte ich euch darum bitten, das Unterfangen, mich ausfindig zu machen, einzustellen, denn es wird scheitern.

Mein Körper ist nicht länger weltlichen Grenzen unterworfen. Die Gesetze der Natur, die euch binden, gelten für mich nicht mehr.

Ich habe eine Entdeckung gemacht, eine ... unbeschreibliche. Es tut mir leid, dass ich nicht näher ins Detail zu gehen vermag, aber bislang fehlen mir selbst die Worte für das, was meine Augen erblicken.

Nur so viel: Meine Existenz in eurer Welt ist zu einem Moment geworden, einem flüchtigen Augenblick, einer Erinnerung, die bereits im Nebel des Vergessens versinkt. Aber grämt euch nicht, da, wo ich hin entschwinde ... Es ist mehr, als ich mir je erträumt habe.

Ich sprenge die Ketten all dessen, von dem ich immer geglaubt habe, es wäre eine Beständigkeit, an die ich mich klammern müsste. Ich ... fühle mich frei, obgleich ich gestehen muss, dass die Unsicherheit über das Unbekannte mich auch ängstigt.

Meine Fotografien ... ich werde versuchen, sie mitzunehmen. Ehrlich gesagt, weiß ich selbst nicht, ob das möglich ist, aber ich will die Hoffnung nicht aufgeben, etwas bei mir zu haben, was mich auf ewig an euch und eure Welt erinnert.

Ich bitte euch, trauert nicht um mich. Dies mag ein Abschied sein, ja, aber seid versichert, dass es mir da, wo ich hingehe, gut ergehen wird. Indes lebt euer Leben, wie ihr es für das Beste haltet, und geht stetig dem nach, was euer Herz erfüllt.

PS: Maia, wenn du das hier lesen solltest: Da draußen gibt es unzählige Welten, Sphären, ganze Dimensionen ... Einige davon beherbergen Wesenheiten, die ... wir begreifen sie nicht und sie uns nicht, es herrscht Angst vor dem Fremden auf beiden Seiten und ... Ich fürchte, ich habe versehentlich eine Art Tür geöffnet.

Nimm dich in Acht.


Maia las die Zeilen einmal, zweimal und ein drittes Mal, aber sie begriff den Sinn der Worte nicht.

Grundsätzlich erschloss sich ihr durchaus, was ihre Freundin ihr damit zu vermitteln versuchte – ob es nun der Wahrheit entsprach oder nur eine fantastische Ausrede dafür war, dass sie mit irgendeinem Kerl oder Mädel durchgebrannt war, bemaß sie dabei mit untergeordneter Relevanz.

Was hingegen nicht in ihren Verstand gelangte, war die Tatsache, dass Sahra nicht mehr da sein sollte. Wie konnte sie nur so mir nichts dir nichts verschwunden sein? Wie konnte sie sie hier einfach zurücklassen, ohne sich anständig verabschiedet zu haben? Hatte sie es nicht mehr gekonnt oder gewollt? Hatte sie keine Zeit mehr gehabt?

Maia würde es womöglich niemals herausfinden. Sie zweifelte nicht an der Botschaft ihrer Freundin. Diese war zwar schon immer ein wenig exzentrisch, aber beileibe nicht verrückt gewesen. Selbst wenn es eine rationale Erklärung für ihr Verschwinden gab, die Aussage, dass Sahra nicht mehr wiederkommen würde, bemaß sie als absolut.

Die junge Frau schaute erneut auf die Zeilen in ihrer Hand. Nimm dich in Acht. Ihre letzten Worte. Daneben war ein kleiner Pfeil gezeichnet worden, der ihr erst jetzt auffiel. Was hatte das zu bedeuten?

Sie drehte den Brief um und verstand endlich. Auf der Rückseite fand sie die letzte in dieser „Welt“ noch existierende Fotografie ihrer Freundin. Dabei handelte es sich um die Aufnahme, die Sahra von ihr im Zug geschossen und welche für so viel Aufregung gesorgt hatte.

Maia saß darauf auf einem Sitz innerhalb der Bahn, lächelnd und unwissend über das, was sich hinter ihr aufbaute ... An diesem Tag hatte sie nicht begreifen, sich nur darüber wundern können, warum Sahra so geschrien hatte. Nunmehr war ihr selbst nach Schreien zumute.

Hatte dort wirklich ein alter, bärtiger Mann mit einer Spitzhacke in der Hand gestanden, im Begriff, diese auf ihren Kopf herabfahren zu lassen, um sie hinterrücks zu erschlagen? Nein, das war unmöglich, das wäre den anderen Fahrgästen aufgefallen ... oder nicht? Sie besann sich des Briefes ihrer Freundin. Wenn es stimmte, was sie schrieb ...

Nimm dich in Acht.

Ein Schauer legte sich über ihren Rücken, ihr Puls beschleunigte sich. Das war Irrsinn! Gleichwohl wanderten ihre Augen zurück zu dem Bild. Blanker Wahn stand dem Mann, den niemand außer ihrer Freundin gesehen hatte, ins Gesicht geschrieben.

Irrsinn hin oder her, begegnen wollte sie ihm unter gar keinen Umständen.

Sie legte den Brief beiseite, die Fotografie nach unten, damit sie sie nicht länger betrachten musste. In ihr breitete sich das Bedürfnis aus, diesen Ort so schnell es nur gelang zu verlassen und nie wieder zurückzukehren. Zu finden gab es hier ohnehin nichts mehr.

Ehe sie sich erhob, bemerkte Maia aus dem Augenwinkel erneut die ausharrende Kamera Sahras. Diese an diesem nunmehr trostlosen Ort zurückzulassen, kam ihr falsch vor, weswegen sie die Hand danach ausstreckte, nur um mitten in der Bewegung innezuhalten.

Ihrer Extremität tat es der Muskel in ihrer Brust gleich, indem er für einen quälenden Moment erstarrte. Ein Geräusch war an ihr Ohr gedrungen. Das Klicken der Haustür, welche ins Schloss fiel.

Sicher nur der Wind, versuchte sie sich selbst zu beruhigen. Ein klägliches Unterfangen, da gleich darauf die Laute von schweren, schlurfenden Stiefeln erklangen.

Der Hausmeister!, schoss es Maia durch den Kopf. Natürlich, er wunderte sich sicher, wo sie blieb, und war bestrebt, nach ihr zu sehen.

„Alles in Ordnung hier drinnen!“, versichert sie mit klarer, fester Stimme, zumindest redete sie sich das selbst ein. In Wahrheit war das Beben darin unverkennbar. „Ich denke, ich bin hier fertig.“

Es kam keine Antwort zurück, lediglich ein weiterer, stapfender Schritt erreichte ihren Gehörgang.

Kalter Schweiß breitete sich auf Maias Stirn aus. Sie zitterte leicht, dachte an die Fotografie von sich in der Bahn sitzend, stellte sich unvermittelt vor, wie es wohl wäre, eine Spitzhacke durch die Schädeldecke gejagt zu bekommen, und bebte daraufhin umso mehr.

Ohne recht zu wissen warum, griff sie nach der Kamera, welche weiterhin wartend auf dem Tisch lag. Das Gerät gab ihr ein trügerisches Gefühl von Sicherheit, von etwas Bekanntem, an das sie sich klammern konnte. Als wäre der Geist ihrer entschwundenen Freundin bei ihr.

Mit dem Apparat bewaffnet, lief sie langsam auf den Flur zu, den einzigen Fluchtweg. Die schweren Schritte kamen ebenfalls näher. Mit jedem weiteren Stapfen beschleunigte Maias Herz. Doch als sie in den länglichen Raum trat, sah sie niemanden.

Der Flur lag leer vor ihr, mündete in der geschlossenen Haustür. Der rettende Ausgang, so nah und doch so fern. Ein paar Meter nur, aber genauso gut hätte sie am Ende der Welt liegen können. Die kahlen, nackten Wände wirkten auf einmal bedrohlich, widernatürlich. Wie aus ... aus einer anderen Welt, schoss es der jungen Frau durch den Kopf. Sie schluckte.

Ein weiteres schweres Stapfen ertönte. Sehr nah und ohne Frage direkt vor ihr. Aber da war nichts, da war niemand. Wie konnte das sein?

Maia war nach Heulen und Schreien zumute. Sie stand kurz davor, sich in Embryonalhaltung zu begeben und das Ende abzuwarten, tat jedoch nichts dergleichen.

Stattdessen schaute sie an sich herab, erblickte die Kamera in ihrer Hand. Diese schien plötzlich tonnenschwer zu sein. Mit aller Kraft, die sie noch aufzubringen fähig war, hob sie sie an, vor ihr Gesicht, blickte durch die Linse, fokussierte den weiterhin leeren Flur, legte ihren zitternden Finger auf den Auslöser, zwang ihn förmlich dazu, atmete tief durch ... – KlickBlitzlicht.

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Hier geht es zum zweiten Teil: Blitzlicht

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