Deutsches Creepypasta Wiki
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Es ist dunkel, die Luft abgekühlt und die Sterne leuchten klar am Himmel. Eine Nacht wie aus dem Bilderbuch. Um mich herum ist es völlig ruhig, um diese Zeit befinden sich kaum noch Menschen auf den Straßen. Ich genieße die Stille und laufe gemächlichen Schrittes den Gehweg entlang. Alles ist friedlich, ich freue mich schon auf Zuhause und bin froh, dass ich bald dort ankommen werde.

Mein Leichtmut wandelt sich jedoch von einem Moment zum nächsten in Furcht um. Mich beschleicht plötzlich das Gefühl beobachtet zu werden. Alarmiert bleibe ich stehen und sehe mich um, kann allerdings nichts Auffälliges entdecken. Trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, dass ich nicht mehr allein bin. Ich erinnere mich daran, dass ich auf der Straße unterwegs bin. Es wäre jetzt nicht gerade ungewöhnlich, wenn sich in der Nähe auch andere Menschen aufhalten würden. Unwillkürlich schüttle ich den Kopf über meine Ängstlichkeit und setze mich wieder in Bewegung. Einige Minuten laufe ich nun etwas missgelaunt weiter, finde langsam aber zu meiner Ruhe zurück.

Bis ich Schritte hinter mir vernehme. Schwere Schritte, die klingen, als wäre der dazugehörige Mensch groß und gut gebaut. Ein kalter Schauer läuft über meinen Rücken. Erneut alarmiert bleibe ich stehen und drehe mich um. Der Weg hinter mir ist wie leer gefegt, kein Mucks ist zu hören. Die Härchen in meinem Nacken stellen sich auf. Furcht nagt an meinen Eingeweiden, doch ich versuche sie zu unterdrücken. Wahrscheinlich habe ich mir das nur eingebildet. Mit einem unguten Gefühl im Magen gehe ich weiter, beschleunige aber mein Tempo. Für einen Moment ist alles ruhig, dann vernehme ich erneut die Schritte hinter mir. Es klingt, als wären sie mir näher, als zuvor. Diesmal ohne stehen zu bleiben, sehe ich über die Schulter nach hinten, doch auch jetzt ist der Weg wie ausgestorben, die Schritte nicht mehr zu hören. Angst knotet meinen Magen zusammen. Sobald ich mich jedoch nach vorn drehe, kann ich die Schritte wieder hinter mir hören. Erneut sehe ich über die Schulter. Wenige Meter hinter mir erkenne ich einen Schatten, die Silhouette eines Menschen. Gerade, als ich den Schatten anstarre, verschwindet dieser. Panik beschleunigt meinen Herzschlag und ich renne los. Immer wieder sehe ich über die Schulter nach hinten, kann aber nichts mehr entdecken. Die Schritte kann ich allerdings immer noch hören. Sie haben ebenfalls an Tempo zugelegt und kommen mir immer näher. Als ich das nächste Mal nach hinten sehe, kann ich die Schritte plötzlich nicht mehr wahrnehmen. Etwas voreilige Euphorie wallt in mir auf, doch dann sehe ich wieder nach vorn.

Der Schatten ist direkt vor mir aufgetaucht, sodass ich ungebremst in ihn hineinrenne.



Mit einem Schrei wache ich auf. Mein Herz rast, ein Schweißfilm bedeckt meine Haut und mein Atem ist ein flaches Keuchen.

Unwillkürlich zucke ich zusammen, als ein Arm sich um meine Taille legt und mich an einen warmen Körper zieht. „Alles gut, du hast nur geträumt“, die Stimme klingt verschlafen, hilft mir aber sofort dabei, mich wieder zu beruhigen. Ich kuschle mich an meinen Freund und atme tief durch. Schon seit ein paar Wochen quält mich dieser Albtraum. Es gibt kaum noch eine Nacht, in der ich durchschlafen kann.

„Tut mir leid, ich wollte dich nicht schon wieder aufwecken.“ Jay ist unglaublich geduldig. Seit ich fast jede Nacht schreiend wach werde, schläft er auch kaum noch durch. Trotzdem ist er nicht mürrisch, sondern nimmt mich in den Arm und hilft mir, mich wieder zu beruhigen. Auch jetzt zieht er mich, wie immer, dicht an sich und drückt mir einen Kuss auf die Stirn. „Mach dir keinen Kopf“, nuschelt er nur und vergräbt das Gesicht in meinem Haar, so wie er es jede Nacht tut, wenn er nicht will, dass ich mir weiter Vorwürfe mache. Mit einem Lächeln auf den Lippen schließe ich die Augen und bin schnell wieder eingeschlafen.

Der nächtliche Schrecken hinterlässt seine Spuren. Nicht nur, dass ich morgens schwer aus dem Bett komme, auch auf der Arbeit lässt meine Konzentration doch stark zu wünschen übrig. Besonders am späten Nachmittag bin ich kaum noch zu gebrauchen. Selbst Cathy, mit der ich mir ein Büro teile, hat mich bereits darauf hingewiesen, dass ich immer öfter gerädert wirke und mir vielleicht mal eine Auszeit gönnen sollte. Bei dem momentanen Stress ist daran jedoch nicht zu denken. Ich bin ja schon froh, wenn ich nach Hause komme, bevor es dunkel wird. Seitdem ich auch noch von diesen Albträumen geplagt werde, fühle ich mich in der Dunkelheit nicht besonders wohl.

Auch heute mache ich erst Feierabend, als die Sonne schon lange untergegangen ist. Obwohl es schon fast neun Uhr abends ist, bin ich nicht die letzte, die sich in dem Gebäudekomplex befindet. Auf meinem Weg zum Ausgang wünsche ich noch drei Kollegen einen schönen Abend.

Draußen angekommen, werde ich von kühler Luft und wunderbarer Stille begrüßt. Es ist bereits stockfinster, doch ich genieße für einen Moment die Ruhe, bevor ich meinen Weg nach Hause antrete. Das ist das Gute daran in einem kleinen Städtchen zu leben: abends ist es ruhig. Sobald es dunkel ist, treiben sich kaum noch Leute auf den Straßen herum. Auch jetzt, während meinem Heimweg, schlendere ich völlig allein den Gehweg entlang. Niemand ist in der Nähe. Nur meine Schritte und das Surren der Glühbirnen in den Straßenlaternen ist zu hören. Ihr Licht bietet genug Helligkeit, dass auch der Abstand zwischen zwei der Laternen nicht völlig in Dunkelheit versinkt.

Ein mulmiges Gefühl macht sich auf einmal in mir breit. Wahrscheinlich, weil ich mich momentan im Dunkeln nicht sonderlich wohl fühle. Doch ich versuche es zu verdrängen und schlinge die Arme um meinen Oberkörper. Trotzdem beschleunige ich mein Tempo und versuche mich darauf zu konzentrieren, dass ich in nicht mal zehn Minuten Zuhause sein werde.

Der dumpfe Hall von Schritten ist plötzlich irgendwo hinter mir zu vernehmen. Mein Herz setzt einen Schlag lang aus, bevor es in der nächsten Sekunde doppelt so schnell schlägt wie vorher. Wo kommen die denn auf einmal her? Es ist, als wären sie aus dem Nichts aufgetaucht. Aber das ist ja gar nicht möglich. Wahrscheinlich habe ich die Schritte vorher einfach nur nicht wahrgenommen. Trotz dieses Gedankens bin ich beunruhigt. Das Gefühl verfolgt zu werden knotet mir den Magen zusammen und verhindert, dass mein Puls wieder zu seinem gewohnten Tempo zurückkehrt. Ich sehe über die Schulter nach hinten, um mich davon zu überzeugen, dass sich bloß noch eine weitere Person auf der Straße befindet und ich nichts zu befürchten habe. Doch zu meinem großen Erstaunen kann ich nichts erkennen. Der Weg hinter mir ist leer. Habe ich mir die Schritte nur eingebildet?

Du wirst langsam paranoid.

Was bei dem Schlafmangel und dem Stress auf der Arbeit auch kein Wunder wäre. Ich muss dringend ins Bett. Kopfschüttelnd sehe ich wieder nach vorne und beschleunige mein Tempo etwas. Mein Herz rast immer noch. Ich muss erst noch verdauen, dass meine Sinne mir gerade einen Streich gespielt haben. Einen ziemlich fiesen Streich – ich habe wirklich geglaubt, dass irgendjemand mich verfolgen würde. Erneut kann ich nur den Kopf darüber schütteln, dass mir so etwas Nichtiges einen solchen Schrecken eingejagt hat. Eine Weile lang ist alles still und ich habe mich wieder so weit im Griff, dass ich relativ entspannt den Weg entlanglaufen kann.

Dann höre ich wieder die Schritte hinter mir, diesmal aber deutlich näher als vorhin. Spielen mir meine Sinne etwa schon wieder einen Streich? Ich bleibe stehen und drehe mich um, doch auch diesmal ist die Straße wie leer gefegt. Die Schritte sind nicht mehr zu hören. Ich muss mir das tatsächlich einbilden. Die Müdigkeit und der Stress sind wahrscheinlich zu viel für meinen Körper. Deshalb fange ich vermutlich auch an Dinge zu hören, die gar nicht da sind. Ich muss wirklich dringend ins Bett.

Mit einem leisen Seufzen drehe ich mich um – im selben Moment höre ich wieder die Schritte hinter mir. Die Härchen in meinem Nacken stellen sich auf. Ich wirble herum und der Klang der Schritte ist verschwunden. Doch in wenigen Metern Entfernung nehme ich plötzlich einen Schatten wahr. Mir stockt der Atem und mein Herz schlägt nun so schnell, dass ich befürchte, es könnte mir gleich aus der Brust springen. Ein kalter Schauer läuft über meinen Rücken. Erst langsam wird mir bewusst, dass der Schatten eigentlich ein Mensch ist. Er befindet sich genau zwischen zwei Straßenlaternen, sodass ihr Licht ihn kaum berührt und ich selbst seine Silhouette nur sehr undeutlich erkennen kann. Ich muss mehrmals blinzeln um sicherzugehen, dass ich mir diese Gestalt nicht auch bloß einbilde. Den Schock, dass die Schritte doch kein Hirngespinst waren, habe ich zwar überwunden, doch ich kann trotzdem nichts anderes tun als regungslos dazustehen. Obwohl alles in mir sofort die Flucht ergreifen und wegrennen will, lähmt Angst meine Muskeln und verhindert, dass ich mich rühren kann. Warum löst der Anblick dieser Gestalt eine solche Panik in mir aus? Und warum kommt mir diese ganze Situation plötzlich bekannt vor?

Alle Farbe weicht aus meinem Gesicht, als mir klar wird, dass der Schatten, dem aus meinem Albtraum doch sehr ähnlich sieht.

Jetzt fängst du wirklich an durchzudrehen!

Das ist völlig unmöglich!

Ich werde aus meiner Starre gerissen, als die Gestalt plötzlich auf mich zukommt. Obwohl sie sich nun im Licht befindet, kann ich nichts erkennen. Kein Gesicht, keine Haare, einfach nichts. Das ist der Punkt, an dem ich die Flucht ergreife. Ich drehe mich um und renne, als wäre der Teufel höchstpersönlich hinter mir her. Die Schritte hinter mir werden nun schneller, bis es klingt, als würden sie ebenfalls laufen. Unwillkürlich sehe ich zurück und meine Angst nimmt sogar noch zu. Die Gestalt verfolgt mich und holt langsam auf. Ich lege nochmal an Tempo zu. Meine Wohnung ist nicht mehr weit entfernt, ich muss sie nur erreichen, bevor mein Verfolger mich einholt. Mein Herz rast und mein Atem geht nur noch stoßweise. Ich traue mich nicht noch einmal nach hinten zu sehen und versuche stattdessen nur so schnell wie möglich zu rennen. Die Schritte kommen immer näher. Es klingt, als wären sie nicht mehr weit entfernt.

Endlich erscheint unser Wohngebäude in meinem Blickfeld. Nur noch ein paar Meter.

Adrenalin rauscht in solchen Mengen durch meine Blutbahnen, dass ich einen rekordverdächtigen Sprint zu der Haustür zurücklege. Im einen Moment renne ich noch um mein Leben, im anderen befinde ich mich in meinem Flur und lehne an der geschlossenen Tür. Mein Herz rast immer noch und ich zittere wie Espenlaub. Eine gefühlte Ewigkeit stehe ich so da, bis ich mich langsam wieder beruhige und mein Kopf etwas klarer wird.

Was zum Teufel war das gerade? Habe ich wirklich geglaubt, die Gestalt aus meinen Albträumen würde mich verfolgen? Das ist doch völlig hirnrissig. Und noch dazu überhaupt nicht möglich. Vermutlich haben mir meine Sinne einfach nur einen ziemlich fiesen Streich gespielt. Und ich Idiotin flüchte vor einem Hirngespinst. Ich kann gerade noch ein hysterisches Lachen unterdrücken. Eines steht fest: ich bin definitiv übermüdet und stehe viel zu sehr unter Strom. Vermutlich habe ich mir auch deshalb eingebildet, diese Gestalt zu sehen. Ich muss eindeutig ins Bett.

Mit einem leisen Seufzen stoße ich mich von der Tür ab und gehe schlurfend in die Küche. Dort stelle ich meine Tasche ab, lege meine Jacke weg und trinke ein Glas Wasser, bevor ich ins Schlafzimmer trotte. Jay liegt im Bett und sieht fern. Er sieht auf, als ich reinkomme und lächelt sanft. „Hey Prinzessin.“ Normalerweise würde mich dieser alberne Kosename zum Grinsen bringen, doch heute gelingt mir nicht mal ein Schmunzeln. Natürlich bemerkt er das, seine Miene wird ernst und er sieht mich besorgt an. „Alles in Ordnung? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.“

Ich ringe mir ein Lächeln ab. „Alles gut, ich bin einfach nur müde.“ Jay sieht mich skeptisch an, er glaubt mir nicht. „Wirklich, es geht mir gut. Ich brauche einfach nur eine Mütze Schlaf.“ Wirklich überzeugt wirkt mein Freund zwar nicht, aber er gibt sich mit meiner Erklärung zufrieden. Nachdem ich im Bad gewesen bin und mich umgezogen habe, kuschle ich mich zu ihm ins Bett. Er streichelt mir durchs Haar und flüstert mir beruhigend ins Ohr. Ich lasse mich von seiner Wärme einlullen und bereits nach wenigen Minuten fallen mir die Augen zu.



Ich bin wieder auf dem Gehsteig der Straße und laufe in Richtung meiner Wohnung. Es ist so düster, dass ich kaum die Hand vor Augen sehe. Die einzige Lichtquelle sind beleuchtete Häuser, die den Weg allerdings kaum erhellen. Die Straßenlaternen funktionieren nicht, was mir etwas eigenartig vorkommt. Normalerweise laufen die Lampen die ganze Nacht über. Ich habe noch nie erlebt, dass die Straße derart dunkel ist. Ein ungutes Gefühl macht sich in mir breit. Es ist beinahe unheimlich still. Mein eigener Atem und das Knirschen meiner Schuhe auf dem Asphalt sind die einzigen Geräusche, die ich überhaupt wahrnehme.

Moment mal…

Ich trage Turnschuhe. Die verursachen beim Gehen kein knirschendes Geräusch.

Die Härchen in meinem Nacken stellen sich auf. Unwillkürlich bleibe ich stehen und lausche. Die Schritte sind immer noch zu hören.

Ohne mich umzudrehen renne ich los.

Die Schritte werden ebenfalls schneller.

Auch wenn ich eigentlich gar nicht wissen will, was genau mich verfolgt, sehe ich über die Schultern nach hinten. Auch wenn die Straße in Dunkelheit getaucht ist, meine ich, eine Bewegung auszumachen. Mein Herz schlägt so schnell, dass ich befürchte, es könnte mir gleich einfach aus der Brust springen. Ich zwinge mich den Blick abzuwenden und noch einen Zahn zuzulegen. Mehrere Minuten lang renne ich, als wäre der Teufel höchstpersönlich hinter mir. Bis mir irgendwann bewusst wird, dass ich die Schritte nicht mehr hören kann. Ich sehe über die Schulter zurück und stelle fest, dass ich wirklich nicht mehr verfolgt werde. Erleichtert verlangsame ich mein Tempo und sehe wieder nach vorn.

Im selben Moment bremse ich so stark ab, dass ich das Gleichgewicht verliere und unsanft auf dem Hintern lande. Nur wenige Zentimeter vor mir befindet sich ein nahezu riesenhafter Mann. Zumindest meine ich, dass es sich um einen Mann handelt, angesichts der Größe dieser Silhouette. Er muss mindestens zwei Meter groß sein und scheint einen schwarzen Mantel zu tragen, der seine gesamte Gestalt umhüllt. Die Dunkelheit und eine, tief ins Gesicht gezogene, Kapuze verhindern, dass ich das Gesicht meines Gegenübers ausmachen kann. Es wirkt beinahe, als würde er mit der Dunkelheit verschmelzen.

Bis plötzlich die Straßenlaternen angehen. Tatsächlich trägt dieser Kerl einen bodenlangen, schwarzen Mantel und hat sich dessen Kapuze über den Kopf gezogen. Doch jetzt, dank des Lichts und meiner sitzenden Position auf dem Asphalt, erkenne ich sein Gesicht. Es ist tatsächlich ein Mann.

Seine Haut ist verschrumpelt, wird von tiefen Falten durchzogen und hat einen leicht gräulichen Teint. Es sieht so aus, als wäre er schon mindestens 80 Jahre alt. Seine Augenfarbe kann ich zwar nicht erkennen, aber er starrt mich mit einem derart durchdringenden Blick an, dass es mir kalt den Rücken runterläuft. Irgendwie passt das Gesicht nicht zu der Statur. Sein Körper ist breit und wirkt trotz des schwarzen Mantels durchtrainiert, während seine Gesichtszüge uralt aussehen.

Erst jetzt fällt mir auf, dass sein Gesicht mehrere kraterartige Erhebungen aufweist. Ich blinzle mehrmals und meine zu sehen, wie sich diese Erhebungen bewegen.



Mit einem Schrei wache ich auf. Mein Herz rast, ein Schweißfilm bedeckt meine Haut und mein Atem ist ein flaches Keuchen.

Als sich ein Arm um meine Taille legt, zucke ich zusammen und schlage instinktiv um mich. Nach wenigen Sekunden werden meine Handgelenke gepackt und auf die Matratze gedrückt, was mich noch mehr in Panik versetzt.

„Nein! Lass mich los!“

„Beruhige dich, Debbie. Ich bin’s, Jay.“

Die sanfte Stimme bewirkt, dass mein rasendes Herz langsam zur Ruhe kommt und mein Blick sich klärt. Jay lehnt über mir und sieht mich sorgenvoll an. Erst jetzt realisiere ich, dass mir Tränen über die Wangen laufen und ich am ganzen Körper zittere. Mein Freund setzt sich auf, bevor er mich sanft an sich zieht und mich in den Arm nimmt. „Alles ist gut, das war nur ein Traum“, flüstert er mir ins Ohr und streicht über meinen Rücken.

Es dauert einige Minuten, bis ich mich langsam beruhige und mein Kopf wieder etwas klarer wird. Dieser Traum war so real … und so anders als der, der mich die letzten Wochen gequält hat. Dieses Gesicht jagt immer noch einen kalten Schauer über meinen Rücken.

„Erzähl mir davon.“

Etwas irritiert sehe ich auf. Sanft wischt mir Jay die letzten Reste der Tränen von den Wangen.

„Erzähl mir, was du geträumt hast.“ Ich habe ihm bereits erläutert, was mir die letzten Wochen über den Schlaf geraubt hat. Er muss ahnen, dass es diesmal ein anderer Traum war – bis jetzt habe ich nie so neben mir gestanden, dass ich nach ihm geschlagen hätte.

Also schildere ich ihm von dem Albtraum und auch von meinem Erlebnis auf dem Weg nach Hause. Jay unterbricht mich kein einziges Mal, er hört einfach nur zu und denkt über das nach, was ich ihm anvertraue. „Du denkst dein Traum hängt mit dem zusammen, was dir gestern Abend passiert ist“, meint er schließlich in die entstandene Stille hinein. Eine einfache Feststellung. Meine Brust zieht sich zusammen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass er mich besser kennt, als ich mich selbst. Ich lehne den Kopf an seine Schulter und seufze leise. „Ich glaube, ich verliere langsam den Verstand.“

„So ein Unsinn. Du bist gestresst und hast seit Wochen nicht mehr durchgeschlafen. Ich glaube, deine Fantasie spielt dir da einen ziemlich grausamen Streich.“ Im ersten Moment bin ich etwas skeptisch, doch je länger ich über seine Worte nachdenke, desto plausibler erscheinen sie mir. Vermutlich hält mein Körper dem Druck, dem ich ihn aussetze, nicht mehr stand und so rächt er sich nun an mir.

„Wahrscheinlich hast du Recht“, murmle ich nach einer Weile. Nachdem sich der Schock gelegt hat, überkommt mich wieder die Müdigkeit. Es dauert nicht lange, bis mir die Augen zufallen. Jay scheint das zu bemerken, denn er legt sich mit mir hin und hüllt uns in die Decke ein. Nur wenige Sekunden später bin ich eingeschlafen.



Ich fühle mich, als wäre ich von einem Zug überrollt worden. Nur mit größter Mühe schaffe ich es überhaupt aus dem Bett zu kommen, mich fertig zu machen und zur Arbeit zu gehen. Cathy sitzt bereits an ihrem Schreibtisch und telefoniert. Sie sieht kurz auf, als ich die Tür hinter mir schließe und zieht bei meinem Anblick eine ihrer sorgfältig gezupften Augenbrauen hoch. Ich reagiere gar nicht darauf und setze mich stattdessen an meinen Schreibtisch, ehe ich den Computer starte. Meine Kollegin beendet derweil ihr Gespräch und sieht mich mit einem durchdringenden Blick an. Normalerweise tut sie das immer dann, wenn ihr etwas auf der Seele brennt und sie noch nicht sicher ist, ob sie das tatsächlich aussprechen soll, was sie sich denkt.

„Spuck‘s schon aus“, erlöse ich sie schließlich.

„Du siehst scheiße aus.“

Ich schnaube leise. Das weiß ich bereits. „Na vielen Dank auch.“

„Ich meine es ernst, Süße. Du siehst furchtbar aus und ich mache mir Sorgen um dich.“

Ich seufze leise und sehe zu meiner Kollegin und langjährigen Freundin. „Ich weiß. Die letzten Wochen habe ich nicht sonderlich viel geschlafen und das zehrt an meinen Nerven.“

Sie runzelt die Stirn und überlegt einen Moment. „Hast du’s schon mit Schlaftabletten versucht?“

Ich verziehe ein wenig das Gesicht. „Du weißt, dass ich nicht viel von Tabletten halte.“

„Das weiß ich, aber es wäre eine Möglichkeit durchzuschlafen.“

Wirklich überzeugt bin ich nicht. Aufgrund der Schlaftabletten in meinen Träumen gefangen zu sein und nicht aufwachen zu können, klingt für mich nicht sonderlich verlockend. Aber um Cathy zu beruhigen und das Thema erstmal auf Eis zu legen, sage ich: „Ich werde es in Erwägung ziehen.“


Der Tag zieht sich so sehr in die Länge, dass ich das Gefühl habe, bereits seit drei Tagen auf den Beinen zu sein. Draußen ist es schon lange dunkel und ich kann es kaum erwarten endlich nach Hause zu kommen. Cathy hat sich vor zwei Stunden verabschiedet und ich beschließe, dass ich für heute auch genug geschuftet habe. Ich schalte meinen Computer aus, packe meine Sachen zusammen und verlasse das Gebäude. Draußen werde ich von der kühlen Nachtluft und Nieselregen begrüßt. Mit einem leisen Seufzen ziehe ich mir die Kapuze über den Kopf und laufe los. Das Geräusch des Regens hat eine beruhigende Wirkung auf mich. Ich freue mich einfach nur auf mein Bett, darum lege ich auch einen Zahn zu.

Ich stoße ein leises Seufzen aus und lasse meinen Blick einen Moment lang über die Straße schweifen. Die Stille um mich herum ist beinahe erdrückend. Keine Menschenseele ist noch unterwegs, abgesehen von mir. Sollte mir das Sorgen bereiten?

Ach komm, hör auf…

Mit solchen Gedanken mache ich mich doch nur unnötig verrückt. Und das kann ich im Moment beim besten Willen nicht gebrauchen. Daher konzentriere ich mich nur noch auf das Geräusch des leichten Nieselregens.

Ich halte inne, als ich meine, im Augenwinkel eine Bewegung ausgemacht zu haben. Es ist immer noch vollkommen still und alles was ich sehen kann, ist Dunkelheit. Keine Bewegung, kein Geräusch, einfach nichts. Das sollte mich vielleicht beruhigen, verunsichert mich aber stattdessen nur noch mehr. Doch dann besinne ich mich wieder, schiebe alles auf die Müdigkeit zurück und gehe weiter. Sonderlich weit komme ich allerdings nicht.

Irgendwo hinter mir sind plötzlich Schritte zu hören. Ohne stehen zu bleiben, sehe ich zurück. Die Schritte verstummen. Sobald ich wieder nach vorn sehe, sind auch die Schritte wieder zu hören. Das kann ich mir unmöglich einbilden?! So einen grausamen Streich würde mir meine Fantasie doch nicht spielen. Oder?

Bevor ich weiter darüber nachdenken kann, verstummen die Schritte hinter mir wieder. Jetzt vernehme ich sie plötzlich irgendwo neben mir. Alarmiert sehe ich mich um und erstarre, als ich eine hünenhafte Silhouette auf der anderen Straßenseite erkenne. Angst jagt mir einen kalten Schauer über den Rücken. Ohne weiter darüber nachzudenken, renne ich los. Schritte sind zwar keine mehr zu hören, aber stattdessen meine ich immer wieder eine Bewegung im Augenwinkel wahrzunehmen. Obwohl ich so schnell renne wie ich nur kann, habe ich das Gefühl keinen Meter voranzukommen.

Als die dunkle Silhouette plötzlich direkt vor mir auftaucht, bremse ich derart abrupt ab, dass ich das Gleichgewicht verliere und unsanft auf dem Hintern lande. Auch wenn es dunkel ist, spüre ich, dass mein Gegenüber mich anstarrt. Die Gestalt wird von einem bodenlangen, schwarzen Mantel umhüllt, sodass es aussieht, als würde sie mit der Dunkelheit verschmelzen. Nur das Gesicht ist trotz der Schwärze deutlich zu erkennen. Es ist das eingefallene Gesicht eines alten Mannes. Ich bin mir nicht sicher, ob es an der Dunkelheit liegt, aber es sieht aus, als hätte die Haut einen grauen Farbton. Unwillkürlich robbe ich zurück. Mein Gegenüber rührt sich zwar keinen Millimeter, doch sein Blick nimmt jede meiner Bewegungen wahr. Diese Augen jagen mir Angst ein. Die Pupillen sind kaum stecknadelgroß, wohingegen die Iris genauso weiß ist wie der Augapfel. Unheimlich.

Was mich allerdings wirklich verstört, sind die Erhebungen in diesem grusligen Gesicht. Es sieht so aus, als wären seine Wangen und seine Stirn von Beulen übersät. Einige sind klein und kaum wahrnehmbar, während andere unnatürlich lang sind.

Plötzlich fangen diese seltsamen Erhebungen an sich zu bewegen.

Bei diesem Anblick rebelliert mein Magen, doch ich bin unfähig mich zu rühren. Ich kann nichts anderes tun, als diese Beulen anzustarren.

Und dann höre ich ein Flüstern.

Erst ist es ganz undeutlich, so als wäre es weit weg. Doch mit jedem Augenblick scheint es näher zu sein. Ich habe keine Ahnung woher es kommt, aber mich beschleicht das ungute Gefühl, dass es von dieser Gestalt vor mir ausgeht. Auch wenn sich ihr Mund nicht bewegt.

In dem Moment hören die Beulen im Gesicht meines Gegenübers auf sich zu bewegen. Das Flüstern verstummt. Seine Mundwinkel ziehen sich nach oben. Immer weiter. Bis er von einem Ohr zum anderen grinst. Dieses Grinsen lässt mein Blut zu Eis erstarren. Und dann höre ich das Flüstern wieder. Diesmal ist es, als wäre es direkt neben meinem Ohr. Meine Augen weiten sich, als ich endlich verstehe, was diese Stimme flüstert.

Debbie.



Mit einem erstickten Schrei fahre ich hoch. Meine Atmung ist nur ein flaches Keuchen und ich schaue mich alarmiert um.

Es dauert eine Weile bis mir bewusst wird, dass ich nur geträumt habe. Ich bin immer noch in meinem Büro und scheinbar an meinem Schreibtisch eingeschlafen. Erleichtert atme ich mehrmals tief durch und versuche mein rasendes Herz wieder zu beruhigen.

Es war nur ein Traum.

Mit einem leisen Seufzen fahre ich mir durch die Haare und lehne mich auf meinem Stuhl zurück. Mir entweicht ein Stöhnen, als ich mit einem Blick auf die Uhr feststelle, dass es schon nach elf ist. Verdammt, wie lange habe ich denn geschlafen? Und warum hat Cathy mich nicht geweckt? Mein schlechtes Gewissen verstärkt sich noch weiter, als ich mein Handy zur Hand nehme und sehe, dass Jay mich versucht hat anzurufen. Daher packe ich nun auch schnell meine Sachen zusammen und schalte den Computer aus, bevor ich aus dem Gebäude eile.

Draußen angekommen halte ich inne. Es ist stockfinster und ein leichter Nieselregen fällt vom Himmel. Wie in meinem Traum. Mein Magen verknotet sich und ein verdammt ungutes Gefühl macht sich in mir breit. Trotzdem zwinge ich mich dazu, loszugehen und versuche diesen Traum zu verdrängen. Allerdings ist das leichter gesagt als getan. Immer wieder ertappe ich mich dabei, wie ich mich umsehe und lausche, ob nicht irgendwo Schritte zu hören sind.

Okay, jetzt fängst du wirklich an durchzudrehen …

Es war nur ein Traum. Ein sehr realistischer und grusliger Traum, aber eben nur ein Traum. Nichts davon ist wirklich passiert und es ist völlig absurd zu glauben, dass es noch passieren könnte. Ich bin einfach nur übermüdet und meine Fantasie spielt mir einen ziemlich grausamen Streich. Nichts worüber ich mir wirklich Sorgen machen müsste. Ich atme mehrmals tief durch, was meinen Kopf wieder etwas klärt und mich zu einer anderen Frage zurückbringt: Sollte ich wirklich Schlaftabletten nehmen, um ein wenig zur Ruhe zu kommen? Der Gedanke, endlich wieder eine Nacht durchzuschlafen ist wahnsinnig verlockend. Doch gleichzeitig sitzt mir auch die Angst im Nacken, dass ich dann stundenlang den Albträumen ausgeliefert wäre. Eine Gänsehaut kriecht über meinen Rücken. Es wäre der reinste Horror in diesem Träumen festzusitzen und dank der Schlaftabletten keine Möglichkeit zu haben, ihnen zu entfliehen. Nein, das ist keine Option. Ich muss wohl oder übel einfach warten und hoffen, dass die Träume einfach wieder verschwinden.

Warum nur habe ich das Gefühl, dass das nicht so schnell passieren wird?

In dem Moment höre ich das Flüstern.

Mein Herz setzt einen Schlag lang aus, bevor es gleich darauf doppelt so schnell schlägt wie vorher. Alarmiert sehe ich mich um, doch ich kann nichts außer Dunkelheit erkennen. Es ist völlig still, keine Menschenseele weit und breit. Etwas zittrig atme ich durch. Meine Sinne scheinen sich gegen mich verschworen zu haben.

Das ist verdammt noch mal nicht komisch!

Wieder ein Flüstern. Diesmal, als wäre die Stimme direkt neben meinem Ohr.

Ich zucke zusammen und springe unwillkürlich zur Seite. Doch auch diesmal kann ich nichts Verdächtiges erkennen. Trotzdem nehme ich nun die Beine in die Hand. Es ist nicht mehr weit bis zu meiner Wohnung und dank des Adrenalins, das durch meine Adern rauscht, lege ich die Strecke in einer rekordverdächtigen Zeit zurück.

Sobald die Haustür hinter mir ins Schloss gefallen ist, atme ich erleichtert auf und lehne mich einen Moment mit dem Rücken gegen das kühle Holz. Es dauert eine Weile, bis mein Herzschlag zu seinem gewohnten Tempo zurückgekehrt ist und sich meine Atmung wieder beruhigt hat. Schließlich stoße ich mich von der Tür ab und wanke auf etwas wackligen Beinen in die Küche.

Erst als ich bereits im Raum stehe wird mir bewusst, dass das Licht brennt. Jay ist um diese Zeit normalerweise schon im Schlafzimmer. Hat er vergessen das Lampen auszumachen?

„Hey.“

Ich zucke zusammen und bemerke erst jetzt, dass mein Freund an unserem Esstisch sitzt. Unwillkürlich presse ich eine Hand auf meine Brust. „Gott, hast du mich erschreckt“, stoße ich aus, während ich tief durchatme und so meinen Herzschlag wieder etwas beruhige.

„Entschuldige Prinzessin.“ Er steht auf, kommt zu mir und drückt mir einen Kuss auf die Stirn, bevor er mich ansieht. „Alles in Ordnung? Du siehst ziemlich fertig aus.“

Ich lege meine Handtasche ab, bevor ich mich in seine Arme flüchte. Die Umarmung spendet mir Trost, Zuneigung und Schutz. Ich fühle mich sicher. Das habe ich einfach gebraucht. Eine Weile lang genieße ich einfach nur die tröstende Wärme, die Jay mir spendet, bevor ich zu ihm aufsehe.

„Ich hatte einen ziemlich miesen Tag. Ich bin auf der Arbeit eingeschlafen, deshalb bin ich auch so spät dran.“ Er streicht mit einer Hand sanft über meine Wange und sieht mich besorgt an.

„Du hast seit Wochen keine Nacht mehr durchgeschlafen und ständig Albträume. Es ist kein Wunder, dass du auf der Arbeit einschläfst. Kann ich irgendetwas für dich tun?“

Ich überlege einen Moment, bevor ich leicht den Kopf schüttle. „Das ist lieb von dir, aber ich glaube, du kannst mir dabei auch nicht helfen. Mir würde es ja schon wesentlich besser gehen, wenn die Träume endlich aufhören würden.“

„Vielleicht könnten dir ja Schlaftabletten helfen?“

Ich verziehe leicht das Gesicht. Haben Cathy und Jay sich etwa abgesprochen? „Ich bin mir nicht sicher, ob das eine gute Idee wäre.“ Als er den Kopf leicht schief legt, erkläre ich: „Aufzuwachen ist die einzige Möglichkeit, den Albträumen zu entfliehen. Wenn ich Schlaftabletten nehme, bin ich diesen Träumen ausgeliefert.“

Jay denkt einen Moment lang über meine Worte nach. „Mir fällt schon noch etwas ein.“

Unwillkürlich muss ich lächeln und drücke ihm einen sanften Kuss auf die Lippen. „Du bist so süß. Das habe ich doch gar nicht verdient.“

Mein Freund grinst amüsiert, bevor er fragt: „Wer sind Sie und was haben Sie mit meiner romantik-allergischen Freundin gemacht?“

Ich muss lachen und haue gegen seine Brust. „Du bist ein Idiot.“

„Ich liebe dich auch.“

„Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir das glauben kann“, ziehe ich ihn schmunzelnd auf.

Jay zieht einen Schmollmund und guckt mich mit seinem Hundeblick an, bevor er mich spitzbübisch angrinst. Innerlich wappne ich mich. Wenn er so ein Gesicht zieht, hat er irgendetwas ausgeheckt.

Ehe ich überhaupt reagieren kann, hat er mit einem Arm um meinen Rücken und mit dem anderen unter meine Kniekehlen gefasst und hebt mich hoch, als wäre ich leicht wie eine Feder. Ich kann mir einen überraschten Aufschrei nicht verkneifen und schlinge die Arme um seinen Hals.

„Ich werde es dir schon beweisen“, grinst er mich an, bevor er mich ins Schlafzimmer trägt.



Es ist dunkel. Stockdunkel. Ich kann nicht einmal die Hand vor meinen Augen erkennen. Stille macht die Dunkelheit noch unheilvoller. Bis auf meinen eigenen, flachen Atem ist nichts zu hören. Das ist nicht nur unheimlich, sondern auch verdammt beunruhigend.

Besonders, als mich plötzlich das Gefühl beschleicht, beobachtet zu werden. Unwillkürlich beschleunigt sich mein Herzschlag und ich sehe mich um, kann aber aufgrund der Dunkelheit, um mich herum, rein gar nichts erkennen. Trotzdem bin ich mir sicher, dass ich nicht allein bin.

Im nächsten Moment stellen sich die Härchen in meinem Nacken auf und ein kalter Schauer läuft über meinen Rücken. Ein Flüstern. Dem Klang nach zu urteilen irgendwo dicht hinter mir. Panisch wirble ich herum, doch natürlich kann ich rein gar nichts erkennen.

Wieder ein Flüstern, diesmal eine kleine Spur lauter. Näher.

Erneut drehe ich mich einmal um mich selbst. Das mag völlig sinnlos sein, aber die Angst ist stärker als der Verstand.

„Wer ist da? Zeig dich!“ Meine Stimme klingt längst nicht so energisch, wie ich es mir gewünscht hätte. Ich klinge wie ein kleines, verängstigtes Mädchen. Verdammt.

Ein warmer Atem streift meinen Nacken und entlockt mir einen Aufschrei. Ich springe mehrere Schritte zurück, bevor ich mit rasendem Herzen in die Dunkelheit starre. Irgendjemand ist hier, aber ich kann nicht mal die kleinste Bewegung wahrnehmen.

Wieder ein Flüstern. Diesmal ist es direkt neben mir. Warmer Atem streift mein Ohr und jagt einen kalten Schauer über meinen Rücken. Nun versteh ich auch endlich, was die Stimme flüstert.

Debbie.



Mit einem Schrei wache ich auf. Panisch sehe ich mich um und brauche einen Moment, bis ich realisiere, dass ich in meinem Bett sitze und das nur ein übler Traum war. Trotzdem zittere ich am ganzen Körper und Tränen laufen über meine Wangen.

Das wird immer schlimmer.

Ich halte das nicht mehr lange aus.

Wie soll ich zur Ruhe kommen, wenn mich diese grausamen Träume Nacht für Nacht heimsuchen?

Mit einer Hand fahre ich mir durchs Haar und versuche durchzuatmen, als mein Blick auf die offene Schlafzimmertür fällt.

Mein Blut gefriert zu Eis.

Es ist zwar dunkel, aber durch die Beleuchtungen draußen ist es in unserer Wohnung nicht völlig düster. Dadurch kann ich eine schwarze Gestalt im Türrahmen erkennen.

Ich schreie.

Im nächsten Moment werde ich in eine warme, starke Umarmung gezogen und verstumme augenblicklich. „Hey, beruhige dich, du hast nur geträumt. Alles ist gut.“

Ich blinzle mehrmals und sehe nochmal zur Tür. Die Gestalt ist verschwunden.

Habe ich mir das nur eingebildet? Das kann doch gar nicht sein. Spielt mein Hirn mir jetzt schon solche grausamen Streiche? Reichen denn die Albträume nicht schon?

Ich kann nicht verhindern, dass ich anfange zu zittern. Mit einem Wimmern lehne ich den Kopf an Jays Schulter und schließe einen Moment die Augen. Mein Herz rast immer noch und es fällt mir schwer, mich wirklich zu beruhigen.

Jay hält mich eine ganze Weile lang einfach nur fest, bis er schließlich leise fragt: „Was hast du denn geträumt? Du bist ja völlig aufgelöst.“

Unwillkürlich beiße ich mir auf die Lippe, bevor ich zu ihm aufsehe und dann alles einfach aus mir heraussprudelt. Ich erzähle ihm von meinem Traum und von der Gestalt, die ich meine gesehen zu haben. Tatsächlich hilft mir das Reden dabei, mich zu beruhigen. Jay hört schweigend zu, bis ich fertig bin und streicht sanft über meine Wange. „Vielleicht solltest du mal mit einem Experten darüber reden?“

Etwas überrascht sehe ich ihn an. Daran habe ich bis jetzt noch gar nicht gedacht.

„Deine Träume werden immer schlimmer, du schläfst kaum noch und bist ständig gestresst. So kann das nicht weitergehen. Das macht dich kaputt. Ich ertrage es nicht, dich so zu sehen.“

Zugegeben, Jay hat Recht. So kann es auf keinen Fall weitergehen. Ich bin mir allerdings noch nicht ganz sicher, ob es eine gute Idee ist, gleich zu einem Experten zu laufen.

„Ich werde mich mal ein bisschen schlau machen.“

Jay zieht eine Augenbraue hoch.

„Ich weiß einfach nicht, ob es klug ist, zu einem Experten zu gehen und Unsummen an Geld zu bezahlen, wenn ich vielleicht selbst eine Lösung finde.“

Er wirkt immer noch etwas skeptisch, nickt schließlich aber. „Na gut. Wenn ich dir irgendwie helfen kann, sag Bescheid.“

„Ist gut“, murmle ich und lehne den Kopf wieder an seine Schulter.



Ich habe kaum mehr als zwei Stunden geschlafen und fühle mich, als wäre ich von einem Zug überrollt worden. Es gelingt mir kaum die Augen offen zu halten. Der Tag zieht sich dermaßen in die Länge, dass ich das Gefühl nicht loswerde schon eine Ewigkeit vor meinem Computer zu sitzen und kein Stück weiterzukommen. Ich schaffe es nicht, meine Aufgaben zu erledigen. Der Stapel an Papierkram auf meinem Schreibtisch wird immer größer. Cathy hat schon mehrere Fehler ausgebügelt, die mir speziell in den letzten Tagen unterlaufen sind. Auch heute läuft es nicht viel besser. Ich bin absolut unkonzentriert und wäre mehrmals schon beinahe eingenickt. Schließlich gestehe ich mir ein, dass das keinen Zweck mehr hat. So kann ich nicht weitermachen. Eine Stunde bevor ich normalerweise Feierabend mache, packe ich meine Sachen zusammen und verabschiede mich knapp von Cathy.

Es ist noch hell, als ich das Gebäude verlasse und ich bin einen Moment lang ziemlich überrascht vom Anblick meiner Umgebung bei Tageslicht. War ich die letzten Wochen wirklich immer so lange im Büro?

Ich verdränge den Gedanken und spaziere zur nächsten Apotheke. Auf dem Weg dorthin gelingt es mir, meine Frustration und den Ärger auf der Arbeit ein wenig zu verdrängen. Trotzdem bin ich immer noch angespannt. Ich bin ein nervliches Wrack. Jay hat Recht: wenn ich nichts unternehme, mache ich mich kaputt. Unwillkürlich straffe ich die Schultern. Ich werde mich nicht von diesen Albträumen fertigmachen lassen.

Knapp eine halbe Stunde später bin ich Zuhause. Obwohl es noch nicht mal dunkel geworden ist, sitze ich im Bett und starre auf die Tablettenpackung in meiner Hand. Soll ich wirklich eine Schlaftablette nehmen? Ich zögere. Aber wenn es mir tatsächlich hilft endlich etwas zur Ruhe zu kommen, ist es das Risiko wert. Ich atme durch und drücke eine Tablette aus der Packung, ehe ich sie mit einem Schluck Wasser runterspüle und mich dann hinlege. Ob mein Plan wohl aufgehen wird?



„Wach auf, Prinzessin. Du musst zur Arbeit.“ Ein sanftes Rütteln an meiner Schulter reißt mich aus einem tiefen, traumlosen Schlaf. Ich reagiere mit einem unwilligen Murren. „Nur noch fünf Minuten.“ Jay lacht leise und ich spüre wie er mir über die Wange streicht. „Komm schon, dein Kaffee wird noch kalt.“ Erneut murre ich unwillig, bevor ich die Augen öffne und mich langsam aufsetze. Ich fahre mir mit einer Hand durchs Haar und reibe mir den Schlaf aus den Augen. Moment mal …

Verdutzt sehe ich zu Jay, der mich mit einem Lächeln auf den Lippen beobachtet. „Habe ich etwa durchgeschlafen?“ Ich kann mich nicht erinnern wach geworden zu sein. Er nickt leicht. „Ja, du hast geschlafen wie ein Baby.“ Überrascht und verwundert blinzle ich mehrmals. Kein Albtraum. Kein nächtlicher Schrecken. Ich fühle mich frisch und ausgeruht. Unglaublich. Niemals hätte ich gedacht, dass die Schlaftabletten eine solche Wirkung erzielen würden. Vielmehr war ich der festen Überzeugung, dass sie die Träume nur noch schlimmer machen würden. Voller Erleichterung falle ich Jay um den Hals, der mich lachend an sich drückt. „So gut gelaunt habe ich dich früh morgens ja noch nie erlebt.“ Ich bin ja auch eigentlich ein ziemlicher Morgenmuffel. Und nach den schrecklichen Nächten der letzten Wochen, war ich morgens auch nicht gerade die angenehmste Zeitgenossin. Ein Wunder, dass Jay nicht schon längst die Flucht ergriffen hat. Ich sehe zu ihm auf und lasse mich von seinem Lächeln anstecken. Einen Moment lang bleiben wir einfach so sitzen, bis er mir einen Kuss auf die Stirn drückt. „So sehr ich diesen Blick auch liebe und deine gute Laune auskosten möchte, wir müssen langsam los, sonst kommen wir zu spät.“ Erneut murre ich unwillig, was ihm ein herzhaftes Lachen entlockt.

Zum ersten Mal seit Wochen komme ich mit einem Lächeln auf den Lippen ins Büro. Cathy ist schon da und sieht mich entgeistert an, verkneift sich allerdings einen Kommentar. Scheinbar ist sie sich noch nicht ganz sicher, was sie von meiner Laune halten soll. Wir arbeiten schon seit Jahren zusammen und sie weiß, was für ein Morgenmuffel ich bin. Meine Kollegin dagegen gehört zu den Menschen, die sogar früh morgens schon gut gelaunt sind und denen man den Mund zusammen tackern müsste, um sie am Reden zu hindern. Ich kann gar nicht beschreiben wie sehr mich diese Art früher genervt hat. Für jemanden wie mich, der morgens kaum in die Gänge kommt und erst gegen Mittag wirklich ansprechbar ist, war es der Horror eine Kollegin wie sie zu bekommen.

Nachdem ich einmal meinen Locher nach ihr geworfen habe, hat sie zum Glück damit aufgehört, mich vor zehn Uhr schon vollzuquatschen. Seitdem sind wir Freundinnen.

Summend setze ich mich an meinen Schreibtisch und mache mich an die Arbeit. Mir ist bewusst, dass Cathy mich argwöhnisch beobachtet, aber ich schenke ihr keine Beachtung. Wahrscheinlich versucht sie gerade abzuwägen, ob sie es riskieren soll mich anzusprechen. Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen, lasse sie jedoch noch ein wenig zappeln.

Sie scheint allerdings gemerkt zu haben, dass ich mich über sie amüsiere, denn sie lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück und sieht mich mit einem durchdringenden Blick an. „Wie kommt es, dass du so gute …“ Mitten im Satz bricht sie ab und ihre Augen weiten sich. „Warte mal …“ Ich ziehe eine Augenbraue hoch, als sie mich plötzlich spitzbübisch angrinst und mit dem Finger auf mich zeigt. „Sex oder Schlaf?“

Ich kann nicht anders, ich muss einfach lachen. „Diskretion ist ein Fremdwort für dich, was?“

Cathy macht eine wegwerfende Handbewegung. „Lenk nicht vom Thema ab.“

Unwillkürlich hebe ich die Hände als Zeichen meiner Kapitulation. „Na gut.“ Trotzdem lasse ich sie noch einen Moment lang zappeln. Meine Kollegin gehört zu den neugierigsten Menschen, die ich kenne und es macht sie wahnsinnig, wenn ich es hinauszögere ihre Fragen zu beantworten.

Erst als sie die Augen zusammenkneift und den Mund aufmacht, um drohend meinen Namen zu sagen, erlöse ich sie: „Schlaf.“

Etwas überrascht legt Cathy die Stirn in Falten. „Keine Albträume?“

Ich schüttle den Kopf. „Nein.“

Ihr Blick wechselt von überrascht zu skeptisch. „Wie kommt’s?“

„Ich habe mir gestern eine Schlaftablette eingeworfen.“

Ihre Augenbrauen wandern in die Höhe. „Ich dachte, du hältst das für keine gute Idee?“

„Habe ich ja auch nicht. Aber ich dachte mir, einen Versuch ist es wert. Und es hat tatsächlich geholfen.“

Cathy sieht mich einen Moment lang überrascht an, dann grinst sie plötzlich übers ganze Gesicht. Oh nein … jetzt kommt gleich: ich hab’s dir doch gesagt. Wenn es etwas gibt, das ich wirklich abgrundtief hasse, dann ist es dieser Satz. Und das weiß meine Kollegin ganz genau.

„Wage es ja nicht“, drohe ich ihr gerade noch, als sie schon fröhlich flötet: „Ich hab’s dir doch gesagt.“


Ich brauche fast den ganzen Tag, um die liegen gebliebene Arbeit der letzten Tage aufzuholen. Cathy hat sich schon in den Feierabend verabschiedet und draußen ist es bereits dunkel geworden. Allerdings ist mir das heute herzlich egal. Bis jetzt ist es so gut gelaufen, dass ich auch noch den restlichen Papierkram erledigen will, bevor ich nach Hause gehe.

Ich bin gerade völlig in einen neuen Auftrag vertieft, als mich plötzlich das Gefühl beschleicht, beobachtet zu werden. Die Härchen in meinem Nacken stellen sich auf und ich schaue irritiert von meinem Computer auf. Nichts.

Wie auch, es ist bereits halb zehn. Um diese Zeit treibt sich normalerweise niemand mehr im Büro herum. Ich wende mich wieder meiner Arbeit zu und verdränge das ungute Gefühl, dass sich in mir ausbreiten will. Mein Körper ist wahrscheinlich noch nicht ganz auf der Höhe. Noch 1-2 Nächte ohne Albträume, dann sollte sich das legen. Hoffe ich zumindest.

Um diesen Plan in die Tat umzusetzen, sollte ich mich allerdings langsam auf den Heimweg machen. Nachdem der Computer ausgeschaltet ist, packe ich meine Sachen zusammen, mache das Licht aus und will gerade zur Tür hinaus, als ich erschrocken einen Schritt zurückweiche. In der Türschwelle steht eine schwarze Gestalt.

Was zum …?

Dadurch, dass es im Raum dunkel, im Gang aber noch hell ist, kann ich zwar die Umrisse meines Gegenübers wahrnehmen, sein Gesicht bleibt mir allerdings verborgen. Trotzdem bin ich mir sicher, dass das keiner meiner Kollegen sein kann.

Keiner von ihnen ist knapp zwei Meter groß. Und keiner von ihnen trägt einen bodenlangen, schwarzen Mantel.

Mein Blut gefriert schlagartig zu Eis und ich weiche noch weiter zurück. Mein Herz beginnt zu rasen.

Aber das kann doch nicht …

Das ist doch unmöglich!

In dem Moment höre ich es. Ganz leise, aber trotzdem wahrnehmbar. Es ist, als würde mir jemand ins Ohr flüstern.

Debbie.

Meine Augen weiten sich und ich weiche unwillkürlich noch weiter zurück. Instinktiv will ich mich umdrehen, um zu sehen, ob irgendjemand hinter mir ist, aber ich wage es nicht, die Gestalt im Türrahmen aus den Augen zu lassen.

Erneut ein Flüstern, jetzt ein wenig lauter. Und bedrohlicher.

Debbie.

Diesmal wirble ich instinktiv herum, doch hinter mir ist niemand. Panisch drehe ich mich wieder um, nur um festzustellen, dass die Gestalt verschwunden ist. Überrascht blinzle ich mehrmals, bevor ich aus meinem Büro stürze und im Gang stehen bleibe. Unser Stock besteht aus vielen einzelnen Büroräumen, die rechts und links auf dem Korridor verteilt sind. Die Büros werden von dem Mitarbeiter, der sie als letzter verlässt, abgeschlossen. Um diese Zeit sind alle Räume verschlossen, was heißt, dass die Gestalt durch den langen Gang bis zum Treppenhaus laufen müsste, um sich meinem Sichtfeld zu entziehen. Und das wäre in der kurzen Zeit völlig unmöglich.

Doch der Gang ist leer.

Mehrmals schaue ich nach links und nach rechts und sogar nochmal in mein Büro, aber es ist niemand zu sehen. Einen Moment lang bleibe ich regungslos stehen und versuche zu verstehen, was gerade passiert ist.

Kann es sein, dass ich mir das nur eingebildet habe? Das muss es sein. Wie sonst, sollte jemand mir in meinem Büro auflauern und drei Sekunden später einfach verschwinden?

Scheinbar spielen mir meine Sinne wirklich einen grausamen Streich. Warum sollte die Gestalt sonst auch genauso ausgesehen haben, wie die aus meinen Albträumen?

Ich sollte zusehen, dass ich nach Hause und ins Bett komme. Mit einer Hand fahre ich mir durchs Haar und schließe mein Büro ab, bevor ich das Gebäude so schnell wie möglich verlasse.

Eine Viertelstunde später bin ich endlich Zuhause. Ich lasse Jacke, Schuhe und Tasche einfach im Flur stehen und gehe schnurstracks ins Schlafzimmer. Jay liegt schon im Bett, scheint aber noch wach zu sein. Er richtet sich etwas auf, als ich die Tür hinter mir schließe. „Hey, Prinzessin.“

„Hey“, murmle ich, ehe ich schnell ins Bad verschwinde. Ein paar Minuten später setze ich mich aufs Bett und nehme die Schlaftabletten in die Hand. Ohne zu zögern drücke ich eine Tablette aus der Packung und spüle sie mit etwas Wasser runter. Dann kuschle ich mich an Jay und lege den Kopf auf seine Brust. „Alles in Ordnung?“, fragt er nach einem Moment und entlockt mir damit ein leises Seufzen. Ich erzähle ihm, was ich meine gesehen zu haben und sehe zu ihm auf, als ich geendet habe. „Wahrscheinlich haben mir meine Sinne einfach nur einen Streich gespielt“, murmle ich. Jay sieht etwas skeptisch aus, streicht aber sanft über meine Wange. „Wahrscheinlich. Schlaf jetzt erst mal, morgen sieht alles schon etwas besser aus.“ Ich nicke leicht und lege den Kopf wieder auf seine Brust. Während ich bereits wegdämmere, verdränge ich jeden weiteren Gedanken an diesen eigenartigen Vorfall und gleite nur wenig später in den Schlaf über.



Die zweite Nacht in Folge ohne Albträume. Das ist fast zu schön um wahr zu sein. Endlich fühle ich mich nicht mehr so gerädert und bin nicht mehr die schlechte Laune in Person. Gut, ich bin immer noch ein Morgenmuffel, aber zumindest bin ich wieder fitter als in den letzten Wochen. Das ist beinahe schon unheimlich. Selbst Cathy ist sich nicht sicher, ob sie meiner guten Laune am frühen Morgen wirklich trauen soll. Was ich ihr allerdings nicht mal übel nehmen kann. Trotzdem bin ich froh, dass sie die meiste Zeit über die Klappe hält und wir in Ruhe unsere Arbeit erledigen können.

Eine halbe Stunde nach Dienstschluss lehne ich mich auf meinem Stuhl zurück. In den beiden Tagen, seit ich wieder ruhig schlafen konnte, habe ich mehr geschafft, als in den letzten zwei Wochen.

Ich schalte den Computer aus, packe meine Sachen zusammen und verabschiede mich von Cathy, bevor ich das Büro verlasse. Bleibt nur zu hoffen, dass das jetzt kein Ausnahmezustand ist und die Albträume nicht doch noch wiederkommen.

Fröhlich vor mich hin summend verlasse ich das Gebäude und schlendere nach Hause. Meine gute Laune ist wirklich schon fast unheimlich. Ich muss über mich selbst grinsen und schüttle leicht den Kopf. Wenig später habe ich meine Wohnung erreicht und stelle erstaunt fest, dass Jay noch nicht da ist. Wann bin ich das letzte Mal vor ihm Zuhause gewesen? Naja gut, dann habe ich zumindest mal ein wenig Zeit für mich.

Erneut vor mich hin summend, räume ich etwas auf, bevor ich mich mit einem Glas Wein und Crackern bewaffnet auf die Couch mümmle. Eine Weile lang zappe ich unschlüssig durch die Fernsehprogramme, bevor ich mich für eine stumpfe Comedy-Sendung entscheide. Sonderlich lustig finde ich den Komiker zwar nicht, aber es ist zumindest eine angenehme Ablenkung. So einen entspannten Abend hatte ich schon seit Wochen nicht mehr.

Eine knappe Stunde später ist der Wein leer, die Cracker verputzt und Müdigkeit macht sich in mir breit. Ich stehe auf, strecke mich ein wenig und räume noch auf, bevor ich ins Schlafzimmer gehe. Da ich noch wach bleiben will, bis Jay nach Hause kommt, lege ich mich ins Bett, nehme aber keine der Schlaftabletten. Ich rolle mich in die Decke ein und höre noch ein wenig Musik, bis ich schließlich wider Willen einnicke.

Ein leises Knarzen reißt mich aus dem Halbschlaf. Unwillig mich aufzurichten, rolle ich mich etwas mehr in die Decke ein. Vermutlich ist das nur Jay, der von der Arbeit nach Hause kommt. Kaum zwei Sekunden später kann ich im Flur Schritte hören, die schließlich ins Schlafzimmer kommen. Stille legt sich über den Raum. Was macht er denn nur? Ich rolle mich auf den Rücken. „Hey, Schatz. Komm ins Bett“, nuschle ich. Antwort bekomme ich keine. Nicht mal eine Begrüßung. Alles was ich höre, ist ein schweres Atmen.

Mit einem Schlag bin ich hellwach. Das ist nicht Jay.

Ich setze mich im Bett auf, um zu sehen, wer in meinem Schlafzimmer steht. Im selben Moment gefriert mein Blut zu Eis.

Ich habe das Licht im Flur angelassen und durch die offene Tür dringt genug Helligkeit, um die Gestalt zu erkennen, die nicht mal zwei Meter von mir entfernt mitten im Raum steht. Durch das schwache Licht kann ich nur Umrisse erkennen, doch das ist auch ausreichend. Die hünenhafte Statur, die von einem bodenlangen, schwarzen Mantel verdeckt wird und die tief ins Gesicht gezogene Kapuze haben sich längst in mein Hirn eingebrannt.

Nein! Das kann doch nicht …

Obwohl ich sein Gesicht nicht sehen kann, weiß ich, dass er mich anstarrt.

Unfähig mich zu rühren, kann ich nichts anderes tun, als zurück zu starren.

Als ich das nächste Mal blinzle steht die Gestalt plötzlich direkt vor meinem Bett. Ich schreie auf und will unwillkürlich zurückweichen, stoße allerdings mit dem Rücken gegen die Rückwand des Bettes.

Im nächsten Moment höre ich das Flüstern. Direkt neben meinem Ohr.

Debbie.

Die Stimme klingt lockend. Einlullend.

„Nein!“ Ich klinge weitaus weniger energisch, als ich es gehofft hatte. Verdammt. Ich ziehe die Knie an meinen Körper und schlinge die Arme um meine Beine.

Das Flüstern verändert sich. Es klingt plötzlich irgendwie bedrohlich. Ungeduldig. Und obwohl die Gestalt sich nicht bewegt hat, wird die Stimme auch noch etwas lauter.

Debbie.

Instinktiv halte ich mir mit den Händen die Ohren zu. Ich kneife die Augen zusammen und lehne die Stirn an meine Knie.

„Hau ab! Lass mich in Ruhe!“

Das Flüstern wird lauter. Eindringlicher. Ungeduldiger.

Debbie.

„Verschwinde!“

„Ich habe doch gar nichts gemacht.“

Ich zucke zusammen und sehe auf. Jay steht in der Tür und sieht mich besorgt an. Die Gestalt ist verschwunden.

Wie zum Teufel …?

Völlig verwirrt richte ich mich auf und sehe mich nochmal im Raum um. Es ist, als wäre nie etwas gewesen. Aber wie kann das sein? Der Mann stand doch gerade noch mitten im Zimmer. Wie kann er von einem Moment auf den anderen einfach verschwinden?

„Was ist passiert? Du bist ja kreidebleich.“ Jay setzt sich zu mir aufs Bett und zieht mich sanft an sich. Ich lehne mich an ihn und bemerke erst jetzt, dass mir Tränen über die Wangen laufen und ich am ganzen Körper zittere.

Es dauert eine ganze Weile, bis ich mich wieder etwas beruhigt habe. Aber was soll ich Jay sagen? Dass ich die Gestalt aus meinen Albträumen in unserem Schlafzimmer gesehen habe? Er würde mich für verrückt erklären. Langsam glaube ich ja sogar selbst, dass ich den Verstand verliere. Anders kann ich mir das alles einfach nicht erklären.

„Ich… ich hatte wieder einen Albtraum“, wispere ich schließlich in die Stille hinein.

Eine kleine Ewigkeit lang schweigt Jay. Hat er mich nicht gehört? Ich will mich gerade wiederholen, als er eine Hand auf meinen Nacken legt, was mich dazu bringt zu ihm aufzusehen. Sein Blick ist besorgt, gleichzeitig aber auch skeptisch. „Du bist gerade zusammengekauert auf dem Bett gesessen und hast dir die Ohren zugehalten. Und du hast ‚verschwinde‘ gefaucht. Erzähl mir nicht, du hättest geschlafen.“ War ja klar, dass ich ihm nichts vormachen kann.

„Na gut, ich habe nicht geschlafen. Ich dachte, ich hätte etwas gesehen und das hat mich … leicht aus der Fassung gebracht“, murmle ich schließlich. Jay zieht eine Augenbraue hoch und legt zwei Finger unter mein Kinn, sodass ich seinem Blick nicht ausweichen kann.

„Was meinst du denn gesehen zu haben?“

Ich zögere. „Das wirst du mir nicht glauben.“

Sein Blick wird etwas sanfter. „Versuch es doch einfach.“

Unwillkürlich beiße ich mir auf die Lippe und zögere erneut, bevor ich schließlich leise sage: „Die Gestalt aus meinen Albträumen.“

Quälend lange Sekunden verstreichen und mein Herz schlägt vor Nervosität beinahe Saltos. Endlich bricht Jay das Schweigen: „Seit du die Schlaftabletten nimmst hast du keine Albträume mehr. Vielleicht versucht dein Unterbewusstsein so, dass zu verarbeiten, was dir im Schlaf nicht mehr möglich ist?“

„Aber diese Gestalt … hat rein gar nichts mit meinem Leben zu tun … Sie verfolgt und terrorisiert mich …“

„Du hast seit Monaten ziemlichen Stress auf der Arbeit. Auch bevor die Träume angefangen haben konntest du nicht wirklich abschalten. Womöglich versucht dein Unterbewusstsein ja so sich von diesem ganzen Stress zu erholen.“

Ich lege den Kopf leicht schief. Der Gedanke ist gar nicht mal so abwegig. Vielleicht sind diese Albträume ja wirklich stressbedingt. Das wäre zumindest beruhigender, als die Variante, dass ich langsam den Verstand verliere.

Ich lehne den Kopf an seine Schulter und atme langsam durch. „Wahrscheinlich hast du Recht.“ Jays rationale Art zu denken hat mich schon vor einigen vorschnellen Entscheidungen bewahrt. Hin und wieder geht mein Temperament einfach mit mir durch, doch er schafft es jedes Mal mich zurück auf den Boden zu befördern. Selbst wenn ich ihn mal anmaule und wütend bin, grinst er mich einfach nur auf seine typische Art an und mein Ärger verfliegt auf der Stelle.

Jetzt bin ich wieder einmal dankbar für seine rationale Art. Was würde ich ohne ihn nur machen?

Jay lacht plötzlich leise. „Du würdest dich vermutlich fluchend im Kreis drehen und keinen Schritt vorwärts kommen.“ Es dauert, bis mir schließlich bewusst wird, dass ich das gerade laut gesagt habe. Ich kann mir ein Schmunzeln nicht verkneifen und knuffe ihm in die Schulter.

„Mach dich nicht über mich lustig.“

Erneut ein leises Lachen. „Das würde ich niemals wagen!“

„Mach nur so weiter, dann kannst du heute auf der Couch schlafen“, knurre ich.

Ich kann spüren, dass Jay von einem Ohr zum anderen grinst. Im nächsten Moment massiert er mit einer Hand sanft meinen Nacken und ich muss mir ein zufriedenes Seufzen verkneifen. „Bist du dir da sicher?“, fragt er nach einer Weile schelmisch.

„Halt die Klappe“, grummle ich.

Diesmal stimme ich in sein Lachen mit ein.



Auch in dieser Nacht ist mein Schlaf traumlos geblieben. Die Tabletten sorgen tatsächlich dafür, dass ich mich besser fühle. Ausgeruhter und frischer. Was mir allerdings Sorgen bereitet ist der Vorfall gestern Abend. Ich bin mir absolut sicher, dass das die Gestalt war, die mich in meinen Albträumen verfolgt hat. Aber wie soll das möglich sein? Jays Erklärung ist zwar eigentlich sehr logisch, doch wirklich überzeugt bin ich nicht. Vor allem beunruhigt es mich, dass diese Gestalt mich nun heimsucht, wenn ich wach bin. Die Träume kann ich auf eine rege Fantasie abschieben, aber das …

Immer wieder versuche ich mir einzureden, dass ich mir nur einbilde diesen Mann zu sehen und er eigentlich gar nicht da ist, doch wirklich überzeugen kann ich mich davon nicht. Außerdem habe ich auch keine Ahnung, was ich jetzt tun soll. Wie ich diesem Spuk endlich ein Ende bereiten kann.

Ich ertrage es nicht mehr ständig in Angst zu leben. Das muss ein Ende haben.

Den ganzen Tag lang grüble ich darüber nach, was ich tun kann, damit diese Gestalt endlich verschwindet. Auf eine Lösung komme ich leider nicht. Das ist so frustrierend.

Eine knappe Stunde später sitze ich Zuhause auf der Couch und starte meinen Laptop. Vielleicht finde ich ja im Internet irgendetwas, das mir weiterhilft. Große Hoffnungen hege ich zwar nicht, aber einen Versuch ist es wert.

Ich surfe durchs Netz, lese mir etliche Beiträge durch und sehe mir auch einige Videos an. Eine Lösung für mein Problem finde ich dabei nicht. Nach anderthalb Stunden klappe ich meinen Laptop frustriert wieder zu. Mit einem leisen Seufzen fahre ich mir durchs Haar, stehe auf und schlurfe in die Küche, um mir einen Kaffee zu machen. Jay müsste jeden Moment nach Hause kommen. Vielleicht hat er ja eine Idee, was ich tun soll.

Ich grummle vor mich hin und starre meine Kaffeemaschine an, damit sie endlich etwas in die Gänge kommt, aber natürlich ist das ziemlich zwecklos. Irgendwann schmeiße ich dieses Gerät einfach aus dem Fenster.

Die Härchen in meinem Nacken richten sich plötzlich auf und ein kalter Schauer läuft über meinen Rücken. Ich bin nicht allein.

Alarmiert wirble ich herum und weiche einen Schritt zurück. Im Türrahmen steht jemand. Kaum zwei Meter von mir entfernt. Eine hünenhafte Gestalt, die mit den Schultern beinahe den Holzrahmen streift. Ein bodenlanger, schwarzer Mantel und die dazugehörige Kapuze verbergen zwar den Großteil meines Gegenübers vor mir, doch das macht keinen Unterschied. Ich weiß, dass es sich um die gleiche Gestalt handelt, die mir gestern aufgelauert ist. Die ich im Büro gesehen habe. Die mich in meinen Albträumen verfolgt hat.

Instinktiv weiche ich noch weiter zurück. Durch das helle Licht in der Küche kann ich jetzt auch sein Gesicht sehen.

Es ist das eingefallene Gesicht eines alten Mannes, was einen eigenartigen Kontrast zu seinem muskelbepackten Körper bildet. Die Haut hat einen unnatürlich grauen Farbton, was seine Augen regelrecht herausstechen lässt. Die Pupillen sind kaum stecknadelgroß, wohingegen die Iris genauso weiß ist wie der Augapfel.

Was mich allerdings wirklich verstört, sind die Erhebungen in diesem grusligen Gesicht. Es sieht so aus, als wären seine Wangen und seine Stirn von Beulen übersät. Einige sind klein und kaum wahrnehmbar, während andere unnatürlich lang sind.

Während ich nichts anderes tun kann, als diese seltsamen Erhebungen anzustarren, fangen eben diese plötzlich an sich zu bewegen.

Mein Magen rebelliert, als mir bewusst wird, dass das keine Beulen sind.

Das sind Finger.

Dieser Gestalt sprießen Finger aus dem Gesicht heraus, die sich bewegen und nach mir zu greifen scheinen.

Mein Mageninhalt droht meinen Körper zu verlassen. Doch ich bin wie erstarrt, unfähig mich zu rühren.

Debbie.

Dieses Flüstern … als wäre es direkt neben meinem Ohr. Der Mund meines Gegenübers hat sich zwar nicht bewegt, aber ich bin mir absolut sicher, dass das Flüstern von ihm ausgeht. Es klingt ungeduldig. Fordernd. Und dann fängt es an sich im Abstand von etwa zehn Sekunden zu wiederholen.

Immer und immer wieder flüstert diese Stimme meinen Namen.

Der Mann hat sich noch keinen Millimeter gerührt, doch nun wandern seine Mundwinkel in die Höhe. Wie in Zeitlupe. Bis er wortwörtlich von einem Ohr zum anderen grinst.

Böse ist das erste Wort, das mir durch den Kopf schießt. Grausam das zweite. Und diese beiden Worte treffen den Nagel auf den Kopf. Dieses Grinsen ist nicht hinterhältig, schadenfroh oder irre. Es ist einfach nur böse. Dazu kommt noch sein Blick … Wie ein Raubtier, das nur darauf wartet, sich auf sein wehrloses Opfer zu stürzen. Ein kalter Schauer läuft über meinen Rücken.

Das Flüstern hört währenddessen nicht auf. Im Gegenteil, die Abstände verkürzen sich. Nur der Tonfall seiner Stimme hat sich nicht geändert. Ungeduldig und fordernd.

Ich halte mir die Ohren zu, doch trotzdem kann ich das Flüstern noch wahrnehmen. Am liebsten würde ich die Augen schließen und mich zusammenkauern, aber ich wage es nicht meinen Gegenüber aus den Augen zu lassen.

„Aufhören!“, stoße ich schließlich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Ich ertrage dieses Flüstern nicht mehr.

„Hör auf! Lass mich in Ruhe!“

Obwohl ich es nicht für möglich gehalten hätte, das Grinsen wird noch um eine Spur böser. Grausamer.

Die Abstände verringern sich erneut. Ich kann kaum noch einen klaren Gedanken fassen. Obwohl ich mir die Hände auf die Ohren presse, ist das Flüstern trotzdem noch zu hören.

Für einen kurzen Moment kneife ich die Augen zusammen und versuche das Flüstern auszublenden, scheitere jedoch kläglich.

Wenn das so weitergeht, verliere ich noch den Verstand.

Allerdings bleibt mir keine Zeit zum Nachdenken, denn als ich die Augen wieder öffne, ist die Gestalt plötzlich nur noch einen knappen Meter von mir entfernt.

Mit einem Aufschrei weiche ich zurück.

In meiner Panik reiße ich mehrere Schubladen auf, bis ich in einer schließlich finde, wonach ich mehr oder weniger unbewusst gesucht habe. Mit beiden Händen umklammere ich den Griff des Messers und halte es wie einen Schutzschild vor mich.

Wirklich sicher fühle ich mich dadurch zwar nicht, aber zumindest bin ich nicht mehr ganz so schutzlos wie vorher.

Doch obwohl die scharfe Spitze des Messers auf ihn zeigt, wird das Grinsen meines Gegenübers noch breiter.

Ich versuche mich dadurch nicht beirren zu lassen. „Bleib weg von mir! Lass mich endlich in Ruhe!“ Meine Stimme klingt bei weitem nicht so sicher und forsch, wie ich es mir gewünscht hätte, doch zu meiner Überraschung verstummt das Flüstern endlich.

Unwillkürlich atme ich erleichtert auf. Entspannen kann ich mich aber noch nicht, der Mann steht mir schließlich immer noch gegenüber. Und sein Grinsen ist nach wie vor beängstigend.

Als ich das nächste Mal blinzle ist er verschwunden.

Aber wie …?

Mehrmals schaue ich mich in der Küche um, aber ich bin wieder allein. Trotzdem habe ich noch immer das Gefühl, angestarrt zu werden.

Es gibt kein Entkommen.

Ich zucke zusammen und kann mir gerade noch so einen Aufschrei verkneifen. Erneut schaue ich mich mehrmals in der Küche um. Nichts. Auch das Gefühl angestarrt zu werden ist jetzt weg.

Trotzdem rast mein Herz und mein Atem ist nur noch ein abgehacktes Keuchen.

Unfähig mich auch nur einen Schritt zu bewegen, lasse ich das Messer fallen und sinke zu Boden. Im sitzen ziehe ich die Beine an meinen Oberkörper, schlinge die Arme um meine Knie und mache mich so klein wie irgend möglich. Tränen laufen über meine Wangen, als ich die Stirn auf meine Knie lehne und ich zittere am ganzen Körper.



Ich zucke zusammen, als eine Hand sich auf meine Schulter legt und schlage instinktiv um mich. Es dauert nicht lange bis meine Handgelenke festgehalten werden, was mich noch panischer werden lässt. „Nein! Lass mich in Ruhe! Verschwinde!“

„Debbie, ich bin es. Beruhige dich!“ Erst beim Klang dieser vertrauten Stimme öffne ich die Augen und sehe, dass Jay vor mir kniet. Erleichterung lässt meinen Widerstand ersterben und erneut Tränen über meine Wangen laufen. Sofort lässt er meine Handgelenke los, setzt sich neben mich und zieht mich sanft in seine Arme. Ich lehne mich an ihn und vergrabe das Gesicht an seiner Brust, während er mir beruhigend über den Rücken streicht.

„Mein Gott, was ist denn passiert?“

Eine Antwort gelingt mir nicht sofort. Ich zittere immer noch am ganzen Körper und bringe kaum einen klaren Gedanken zustande. Mein Herz rast zwar nicht mehr, doch die Angst ist nach wie vor gegenwärtig. Der Anblick dieses Mannes hat sich in mein Hirn eingebrannt und bewirkt, dass sich mein Magen sogar jetzt noch umdreht.

„Diese Gestalt … ich habe sie wieder gesehen“, wispere ich schließlich.

Jays Hand auf meinem Rücken kommt zum Stillstand. „Die aus deinen Albträumen?“

Ich lehne mich etwas zurück, damit ich meinen Freund ansehen kann. Sein Blick ist besorgt, aber auch irgendwie skeptisch. Meine Brust zieht sich schmerzhaft zusammen. „Ich bilde mir das nicht ein. Dieses ... Ding war hier. Es hat mich bedroht.“

„Wie ist es hier reingekommen?“

Ich stutze und runzle die Stirn. „Was?“

„Naja, wie ist diese Gestalt in unsere Wohnung gekommen? Die Tür ist immer abgeschlossen.“

„Keine Ahnung …“

„Und wie ist sie wieder rausgekommen?“

Ich öffne den Mund, um zu antworten und schließe ihn dann auch schon wieder. Der Mann ist von einer Sekunde auf die andere verschwunden. Kein Mensch kann sich so schnell aus dem Staub machen …

„Ich glaube dir, dass du gesehen hast, was du eben gesehen hast. Aber ich glaube auch, dass du im Moment ziemlich überladen bist.“

Ich weiß nicht recht, was ich davon halten soll. Bis vor einer Minute hätte ich geschworen, dass diese Gestalt wirklich da gewesen ist. Jetzt bin ich mir da nicht mehr ganz so sicher. Das, was ich gesehen habe, ist eigentlich völlig unmöglich. Kann es wirklich sein, dass ich mir das alles nur eingebildet habe?

„Und was soll ich jetzt tun? So kann ich nicht weitermachen … das ertrage ich nicht.“

Jay streicht mir sanft über die Wange. „Nimm dir ein paar Tage frei. Nimm dir etwas Zeit für dich. Du wirst sehen, das wird dir gut tun.“

Ob das wirklich eine gute Idee ist?

Bevor ich mir weitere Gedanken dazu machen kann, hat Jay mich hochgehoben und trägt mich in Richtung Schlafzimmer. „Schlaf erstmal eine Nacht darüber. Aber glaub‘ mir, morgen sieht die Welt schon wieder etwas besser aus.“



Am Morgen bin ich wirklich etwas ruhiger, die Tablette hat mir einen erholsamen, traumlosen Schlaf beschert. Ich bin nicht mehr aufgewühlt und die Angst ist ebenfalls verflogen. Zumindest zum Teil. Der furchterregende Anblick dieser Gestalt geistert mir immer noch im Kopf herum, doch ich versuche diese Gedanken zu verdrängen. Stattdessen richte ich mich auf und bemerke erst jetzt, dass Jay mich beobachtet.

„Hey, du bist ja schon wach.“

Er lächelt mich verschlafen, aber liebevoll an, ehe er sich aufsetzt und mir einen Kuss auf die Stirn drückt. „Morgen, Prinzessin.“ Einen Moment lang sieht er mich prüfend an. „Alles in Ordnung?“

Ich nicke leicht. „Ich denke schon, ja.“

„Dann lass uns frühstücken. Ich verhungere gleich!“

Lachend stehen wir auf und gehen in die Küche. Das Messer, das ich gestern aus der Schublade gezogen habe, um mich zu verteidigen, liegt noch auf dem Boden. Jay kommt mir zuvor und hebt es auf. Er mustert erst die scharfe Klinge, dann mich etwas skeptisch.

„Was denn? Ich hatte Angst und wollte mich irgendwie schützen“, rechtfertige ich mich. Mein Freund sieht immer noch etwas beunruhigt aus, nickt aber und verstaut das Messer wieder in der Schublade.

Ich beschließe dieses Thema nicht weiter auszuschlachten und decke stattdessen den Tisch.

Während wir wenig später frühstücken, denke ich nochmal über diesen Vorfall nach. Es war nicht das erste Mal, dass ich diesen Mann gesehen habe. Seit ich nachts ruhig schlafen kann, werde ich von ihm tagsüber verfolgt. Er taucht auf, terrorisiert mich und verschwindet dann wieder. Das ist eigentlich völlig unmöglich. Es wäre nur logisch, dass ich mir nur einbilde, ihn zu sehen. Versucht mein Körper mir auf diese Art mitzuteilen, dass ich mir mal eine Auszeit nehmen sollte?

„Du bist so still“, sagt Jay schließlich und reißt mich so aus meinen Gedanken.

Ich sehe auf und trinke einen Schluck von meinem Kaffee. „Ich habe nur über gestern Abend nachgedacht. Denkst du wirklich, dass das alles aufhört, wenn ich mir eine Auszeit gönne?“

Jay greift nach meiner Hand und drückt sie sanft. „Ich bin zwar kein Experte, aber ich könnte es mir gut vorstellen. Einen Versuch wäre es doch wert, oder? Ein paar Tage zur Entspannung würden dir sicher gut tun.“ Er lächelt mich an. „Und wenn es tatsächlich nicht helfen sollte, was ich nicht glaube, dann werden wir eine andere Lösung finden.“

Seine Zuversicht bringt mich ebenfalls zum Lächeln. „Du hast Recht, einen Versuch ist es definitiv wert.“

Er grinst mich verschmitzt an. „Ich liebe es, wenn du mir Recht gibst.“

Ich verdrehe schmunzelnd die Augen. „Und du schaffst es immer wieder, so einen Moment zu zerstören.“

Wir müssen beide lachen.



Ich habe Jays Rat befolgt und mir für den Rest der Woche frei genommen. Mein Chef hat zwar nicht gerade begeistert geklungen, schließlich aber zugestimmt. Allerdings weiß ich jetzt nicht so recht, was ich mit meiner Zeit anfangen soll. Das letzte Mal, als ich einfach nur ein paar Tage zuhause gewesen bin, ist schon ewig her. Jay konnte sich leider nicht frei nehmen, was bedeutet, dass ich den ganzen Tag über allein sein werde.

Nachdem ich schon die ganze Wohnung aufgeräumt und geputzt habe, ist es gerade mal später Vormittag. Ich entschließe mich ein wenig spazieren zu gehen. Das habe ich schon lange nicht mehr gemacht. Die frische Luft hilft mir, meine Gedanken wieder ein wenig zu sortieren und mich zu entspannen.  

Jetzt, wo ich wieder rational denken kann, kommt mir der Vorfall gestern total surreal vor. Als wäre das gar nicht wirklich passiert. Als ob ich das nur geträumt hätte. Wahrscheinlich habe ich mir das alles wirklich nur eingebildet. Ich halte mich an diesem Gedanken fest.

Sobald ich wieder in der Wohnung bin, lasse ich mir ein heißes Bad ein und schalte mir dazu Musik an. Das warme Wasser tut mir gut und hilft mir dabei, die ganze Anspannung für einen Moment zu vergessen. Wahrscheinlich hat meine Unruhe und Nervosität die ganze Situation nicht gerade besser gemacht. Vielleicht wird ja doch bald alles wieder gut werden.

Der restliche Tag verläuft ebenfalls sehr entspannt. Ich habe gelesen und sehe gerade noch ein wenig fern. In der nächsten Stunde sollte Jay nach Hause kommen, bis dahin schaffe ich es auch noch, uns etwas Leckeres zu kochen. Für morgen habe ich mich mit einer alten Freundin verabredet und entschlossen mal wieder shoppen zu gehen.

Zugegen, ich hätte nie gedacht, dass ein entspannter Tag mir dermaßen gut tun würde. Ich bin zuversichtlich, dass sich jetzt wirklich etwas verändern wird. Die letzten paar Tage habe ich geschlafen wie ein Baby und bin endlich nicht mehr ständig erschöpft. Ich fühle mich so gut, wie schon lange nicht mehr. Das ist beinahe schon unheimlich.

Als Jay nach Hause kommt, bin ich gerade mit dem Essen fertig geworden und decke den Tisch. Er kommt in die Küche und sieht mich begeistert an. „Das riecht ja lecker.“ Lächelnd kommt er zu mir und drückt mir einen Kuss auf die Lippen, bevor er mir hilft den Tisch fertig zu decken. „Du solltest dir öfter mal frei nehmen.“ Ich schaue ihn grinsend an. „Nur um dich zu bekochen? Das muss ich mir aber gründlich überlegen.“ Jay guckt mich gespielt beleidigt an, bevor wir beide lachen müssen.

Zu meiner Überraschung verläuft der Rest des Abends völlig ereignislos. Die Gestalt aus meinen Albträumen ist nicht aufgetaucht. Zugegeben, ich war die ganze Zeit über etwas nervös, weil ich ständig mit einem weiteren Vorfall gerechnet hätte, aber nichts dergleichen ist passiert. Es ist schon eine ganze Weile her, seit ich das letzte Mal mit einem so guten Gefühl ins Bett gegangen bin.



Am nächsten Morgen fühle ich mich so erholt und zufrieden, wie schon lange nicht mehr. Nachdem Jay zur Arbeit gegangen ist, habe ich mich mit einer alten Freundin in einem Café getroffen und mich eine gefühlte Ewigkeit mit ihr unterhalten. Danach bin ich noch ins Einkaufszentrum gefahren und habe mich dazu hinreißen lassen mir neue Klamotten zu kaufen.

Bewaffnet mit drei verschiedenen Tüten komme ich am frühen Abend wieder nach Hause und packe meine neuen Sachen vor mich hin summend aus. Es mag klischeehaft sein, aber ein angenehmer Plausch und eine kleine Shoppingtour erfüllen mich immer wieder mit Freude. Zufrieden mit meinen Errungenschaften, verstaue ich eben diese in meinem Schrank und gehe dann wieder in die Küche. Ich mache eine Bestandsaufnahme der Lebensmittel im Kühlschrank und überlege, was ich uns heute kochen soll. Schließlich entscheide ich mich für einen Auflauf, den Jay sich jedes Mal wünscht, wenn ich ihn frage, was ich kochen soll.

Ich summe immer noch vor mich hin, während ich den Auflauf zubereite und fühle mich so unbeschwert wie eine verliebte 16-Jährige. Der Gedanke bringt mich zum Grinsen. Unglaublich, was ein erholsamer Schlaf und eine kleine Shoppingtour bei mir bewirken.

Weniger später ist der Auflauf im Ofen und ich schenke mir ein Glas Wein ein. Dazu drehe ich mir noch laut Musik auf. Mit dem Glas Wein in der Hand singe und tanze ich zu dem Lied durch die Wohnung und kann gar nicht mehr aufhören zu grinsen. So entspannt und leicht habe ich mich seit Wochen nicht mehr gefühlt. Endlich bin ich wieder ich selbst.

In dem Moment höre ich das Flüstern.

Trotz der lauten Musik höre ich die Stimme klar und deutlich an meinem Ohr.

Debbie.

Nein … nein, bitte nicht …

Ich erstarre augenblicklich und umklammere das Glas in meiner Hand so fest, dass ich befürchte, es zu zerbrechen. Mit einem Mal verstummt die Musik und ich bin mir beinahe sicher, dass das nicht an einem technischen Defekt lieg.

Erneut flüstert mir die Stimme meinen Namen ins Ohr. Sanft. Einlullend. Eine Gänsehaut kriecht über meinen Rücken. Ich wage es kaum mich umzudrehen. Mir ist bewusst, dass der Mann aus meinen Albträumen hinter mir steht, ich kann beinahe seinen Atem in meinem Nacken spüren. Genauso ist mir bewusst, dass es völlig zwecklos ist, die Konfrontation hinauszuzögern, aber ich befürchte, dass ich mich bei seinem Anblick übergeben muss und das möchte ich ganz gerne vermeiden.

Wenn das dein einziges Problem ist …

Ich seufze leise und zucke gleich darauf zusammen, als die Stimme erneut meinen Namen flüstert. Diesmal ein wenig ungeduldig. Unwillkürlich knirsche ich mit den Zähnen, bevor ich mich umdrehe.

Nichts.

Was zum …?

Debbie.

Ich wirble herum und weiche im nächsten Moment mehrere Schritte zurück.

Obwohl ich versucht habe, mich gegen den Anblick des Mannes aus meinen Albträumen zu wappnen, jagt es mir trotzdem einen kalten Schauer über den Rücken, dieses Gesicht wieder vor mir zu sehen.

Dieses alte, verschrumpelte Gesicht mit den unheimlichen Augen und den Fingern, die aus den Wangen und der Stirn herausragen. Er steht einfach nur da und starrt mich an.

Mein Magen knotet sich zusammen und mein Herz beginnt zu rasen. Ich weiche einen weiteren Schritt zurück, als das Flüstern wieder beginnt.

Erst sanft und einlullend, dann etwas forscher und ungeduldig und schließlich drohend. Obwohl die Stimme nur meinen Namen flüstert, jagt es mir eine Heidenangst ein. Die Pausen zwischen den verschiedenen Tonlagen wirken beinahe schon theatralisch, was mich umso nervöser macht. Unwillkürlich weiche ich noch weiter zurück, bis ich mit dem Rücken gegen die Wand stoße und mir einen überraschten Aufschrei verkneifen muss.

Das Flüstern wird eine Spur lauter, eindringlicher.

„Nein! Hau ab, lass mich endlich in Frieden!“ In Ermangelung einer besseren Idee, werfe ich mein Weinglas in Richtung der Gestalt.

Ich habe keine Ahnung, was ich erwartet habe.

Aber mit Sicherheit nicht das.

Das Glas prallt an der Brust meines Gegenübers ab und zerschellt zwei Sekunden später auf dem Boden. Wein spritzt in alle Richtungen und Scherben bedecken nun den Fußboden. Ich starre das zerbrochene Glas an, während mein Hirn versucht zu begreifen, was das bedeutet.

Dieser Mann ist real. Ich habe mir das alles nicht eingebildet – das ist wirklich passiert.

Sämtliche Hoffnungen, die ich mir in den letzten beiden Tagen gemacht habe, zerplatzen wie eine Seifenblase. Meine Fantasie hat rein gar nichts mit den ganzen Vorfällen zu tun gehabt. Das ist alles wirklich passiert. Es fühlt sich an, als würde in meinem Inneren plötzlich eine einzige, gähnende Leere herrschen.

Diese Gestalt ist tatsächlich real.

Langsam machen sich Panik und Verzweiflung in mir breit.

Sämtliche Ängste, Befürchtungen und düstere Vorahnungen, die ich bis vor kurzem noch erfolgreich verdrängt hatte, brechen mit einem Schlag wieder über mich herein.

Was soll ich jetzt tun?

Bis vor ein paar Minuten war ich noch der festen Überzeugung, diesem Mann durch Willenskraft überlegen zu sein. Dass er mir nichts anhaben kann, solange ich mir nur vor Augen halte, dass er nicht mal wirklich existiert. Doch jetzt fühle ich mich absolut hilflos. Wie soll ich mich gegen ihn zur Wehr setzen? Nach dem, was in den letzten Wochen passiert ist, könnte ich mich im Moment nicht mal gegen ein Kleinkind behaupten.

Verdammt, was soll ich nur tun?

Mein Blick fällt wieder auf das zerbrochene Weinglas. Der Stiel ist heil geblieben, am Übergang zum Glas ist nur noch eine scharfe Spitze übrig. Das könnte durchaus als Waffe dienen. Alles ist besser, als völlig wehrlos zu sein. Das Blöde ist nur, dass der Stiel knapp einen halben Meter von mir entfernt auf dem Boden liegt. Ob ich ihn mir wohl aneignen kann, bevor ich angegriffen werde?

Ruckartig sehe ich wieder auf und stelle fest, dass der Mann grinst.

Es ist das selbe Grinsen, das mich das letzte Mal schon so verstört hat. Von einem Ohr zum anderen und derartig grausam, dass es mir einen kalten Schauer über den Rücken jagt.

Böse. Abgrundtief böse.

Ob er wohl ahnt, was ich vorhabe?

Wenn ja, macht er jedenfalls keine Anstalten, mich von meinem Plan abzuhalten.

Dann fängt das Flüstern wieder an, diesmal mit wesentlich kürzeren Abständen, aber in den selben Tonlagen wie zuvor und mein Hirn verweigert seinen Dienst.

Unwillkürlich drücke ich mich mit dem Rücken gegen die Wand und halte mir mit den Händen die Ohren zu. Trotzdem kann ich das Flüstern noch hören. Es kommt mir so vor, als würde es drängender klingen, als vorher. Die Abstände werden kürzer. Ich presse die Handflächen stärker gegen meine Ohren, aber ich kann die Stimme nach wie vor hören.

„Aufhören!“ Verdammt, ich klinge genauso verzweifelt wie ich mich fühle.

Es passiert genau das Gegenteil: die Stimme wird lauter, drohender und die Abstände, in denen sie meinen Namen flüstert, immer kürzer. Es fühlt sich an, als würde ich regelrecht bombardiert werden und ich kann rein gar nichts dagegen tun. Dieses Flüstern macht mich wahnsinnig. Ich habe das Gefühl, jedes Mal, wenn sie meinen Namen ausspricht, ein kleines Stückchen von meinem Verstand zu verlieren.

Ohne es zu bemerken, rutsche ich die Wand immer weiter nach unten, bis ich schließlich auf dem Boden sitze und die Beine anziehe, um mich so klein wie nur möglich zu machen. Das Flüstern hört nicht auf. Obwohl ich nach wie vor die Hände auf meine Ohren presse, höre ich es klar und deutlich. Dass ich schon darum flehe, dass es endlich aufhören soll, interessiert meinen Gegenüber kein Stück.

Ich ertrage das nicht länger.

Das muss aufhören!

Ich schreie. So laut ich kann.

Meine Hoffnung wäre gewesen, das Flüstern übertönen zu können, doch mein Plan geht nicht auf. Eigentlich sollte meine Lautstärke die Stimme mit Leichtigkeit in den Hintergrund drängen können, allerdings ist genau das Gegenteil der Fall. Meine Schreie klingen gedämpft und abgeschwächt, während ich das Flüstern nach wie vor überdeutlich hören kann. Das macht überhaupt keinen Sinn!

Ich versuche es erneut, schreie so laut es mir möglich ist, doch es gelingt mir nicht eine Sekunde die Stimme zu übertönen. Diese scheint sich einen Spaß daraus zu machen, mich zu quälen. Ich sehe den Mann zwar ganz bewusst nicht an, meine aber zu spüren, dass sein Grinsen immer breiter wird.

In meine Verzweiflung mischt sich auch ein kleiner Funken Wut. Dass mich dieses Wesen terrorisiert ist doch schlimm genug, muss es sich auch noch über mich lustig machen?

Langsam sehe ich wieder auf, wobei mein Blick erneut auf den Stiel des zerbrochenen Weinglases fällt. Mein Herzschlag beschleunigt sich. Ich brauche diese Waffe. Vorsichtig werfe ich einen Blick in Richtung meines Gegenübers. Er hat sich keinen Millimeter bewegt, starrt mich aber immer noch mit diesem bösartigen Grinsen im Gesicht an. Keine meiner Bewegungen scheint unbemerkt zu bleiben. Trotzdem lasse ich langsam meine Hände sinken und versuche das Flüstern so gut es geht zu ignorieren. Mir ist bewusst, dass ich beobachtet werde, doch er macht keine Anstalten, mich von meinem Plan abzuhalten. So schnell ich kann krabble ich nach vorn, bekomme den abgebrochenen Stiel zu fassen und richte mich dann etwas unbeholfen auf. Die provisorische Waffe halte ich vor mich, wie einen Schutzschild, während ich unbewusst wieder etwas zurückweiche. Er hat sich nach wie vor nicht bewegt und auch das Grinsen hat sich nicht verändert. Sonderlich beeindruckt scheint er von meiner Waffe nicht zu sein.

„Verschwinde endlich! Lass mich in Ruhe!“ Erst jetzt wird mir bewusst, dass das Flüstern nicht eine Sekunde lang verstummt ist. Aber jetzt klingt die Stimme eindringlicher. Bedrohlicher. In dem Moment frage ich mich, was ich eigentlich versuche mit dem abgebrochenen Stiel zu erreichen. Dass diese Gestalt sich von einer kleinen Scherbe nicht beeindrucken lässt, hätte mir vorher schon klar sein sollen. Außerdem ist er größer und breiter als ich, was bedeutet, dass er mir körperlich überlegen ist und ich mit einer so mickrigen Waffe sowieso nicht viel ausrichten könnte.

Diese Erkenntnis trifft mich wie ein Fausthieb mitten ins Gesicht. Es ist völlig egal, was ich versuche, ich werde nichts ausrichten können. Erst jetzt wird mir bewusst, wie ausweglos meine Situation eigentlich ist.

Meine Hände zittern so sehr, dass ich befürchte den Stiel abzubrechen. Ich kann mich nicht mal darauf konzentrieren, mich ein wenig zu beruhigen, weil dieses penetrante Flüstern mich langsam um den Verstand bringt.

Ich weiche unbewusst so weit zurück, dass ich schließlich wieder mit dem Rücken gegen die Wand stoße. Mein Wille zur Gegenwehr scheint mit jedem Flüstern kleiner zu werden. Jede noch so kleine Hoffnung, endlich Herr der Lage zu werden, wird langsam erstickt. Ich fühle mich winzig und hilflos.

Meine Finger sind so verkrampft, dass ich den Stiel noch halte, während ich mir die Handflächen auf die Ohren presse und die Wand nach unten rutsche, bis ich auf dem Boden sitze. Tränen laufen über meine Wangen, als mir bewusst wird, dass ich bettle.

Ich flehe die Gestalt an, dass sie mich endlich in Frieden lassen soll. Meine Stimme klingt dumpf, wie in Watte gepackt, während das Flüstern klar und deutlich zu hören ist. Die Schreie vorhin haben meine Stimmbänder so sehr gereizt, dass ich nach einer Weile nur noch ein heiseres „Bitte“ zustande bringe. Immer wieder presse ich dieses eine Wort hervor. Ich werfe einen Blick auf den Mann, der dafür sorgt, dass ich langsam den Verstand verliere. Er hat sich nach wie vor keinen Millimeter gerührt, steht einfach nur da und starrt mich an. Mit diesem verstörenden Grinsen im Gesicht. Die Finger, die aus den Wangen und aus der Stirn herausragen, bewegen sich und scheinen ein Eigenleben zu führen. Mein Magen rumort bei diesem Anblick und ich kneife die Augen zusammen, um mich davon loszureißen.

Das Flüstern wird mit jeder Sekunde eindringlicher. Ich weiß nicht, was es von mir will, aber es scheint langsam die Geduld zu verlieren. Wahrscheinlich sollte mich das alarmieren, doch ich kann nichts anderes tun, als verkrampft dazusitzen und mir die Ohren zuzuhalten. Mein Wille zur Gegenwehr scheint abgestorben zu sein, genauso wie die Hoffnung, dass alles wieder gut werden könnte. Ich bin nur noch ein weinendes und zitterndes Häufchen Elend.

Debbie.

Die Stimme klingt plötzlich anders. Nicht mehr, als würde sie mir ins Ohr flüstern, sondern als würde sie sich direkt vor mir befinden. Ruckartig hebe ich den Kopf und schreie im nächsten Moment erstickt auf.

Dieses furchterregende Gesicht ist plötzlich nur wenige Zentimeter von meinem entfernt. Ich starre direkt in diese unheimlichen Augen und nehme nur am Rande wahr, dass das Grinsen verschwunden ist. Die Miene meines Gegenübers ist genauso kalt, wie sein Blick. Die unzähligen Finger in seinem Gesicht scheinen nach mir zu greifen.

Es gibt kein Entkommen.

Nach diesem Satz verstummt das Flüstern. Im selben Moment ziehen sich seine Mundwinkel langsam nach oben, bis er schließlich genauso bösartig grinst, wie zuvor. Erst als ein starker Griff meine Oberarme umschließt, werde ich aus meiner Starre gerissen.

„Nein!“

Kurz darauf höre ich ein Röcheln und blinzle mehrmals. Was zum …?

Der abgebrochene Stiel des Weinglases steckt bis zu seinem abgeflachten Ende im Hals des Mannes. Ohne es wirklich zu wollen, habe ich meine provisorische Waffe in seine Kehle gerammt. Mir ist nicht mal bewusst gewesen, dass ich den Stiel überhaupt noch in der Hand gehalten habe.

Doch vor mir befindet sich plötzlich nicht mehr die Gestalt aus meinen Albträumen.

Stattdessen kniet Jay vor mir.

Ich kann einen überraschten Aufschrei nicht unterdrücken, bevor ich beide Hände auf meinen Mund presse.

Aber wie …? Gerade war doch noch das Wesen vor mir, das mich die letzten Wochen lang terrorisiert hat. Was ist gerade passiert?!

Jay röchelt und sieht mich voller Entsetzen an. Es ist sein Hals, in dem ich das scharfe Ende des Weinglases versenkt habe. Mein Herz setzt einen Schlag lang aus.

Oh Gott … Nein!

Was habe ich nur getan?

Blut fließt in einem dünnen Rinnsal aus der Wunde heraus. Dieser Anblick sorgt einen Moment lang dafür, dass ich wie vom Donner gerührt dasitze und es nicht schaffe, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen.

Bis Jay ein wenig von mir zurückweicht, eine Hand auf seinen Hals legt und mit der anderen das abgeflachte Ende des Stiels umfasst. Bevor ich ihn aufhalten kann, hat er die Waffe aus seinem Fleisch gezogen und sofort strömt Blut aus der offenen Wunde. Mit einem Klirren landet das blutverschmierte Stück Glas auf dem Boden und im selben Moment kippt Jay zur Seite.

Endlich kann ich mich aus meiner Starre lösen. Einen Wimpernschlag später knie ich neben ihm und presse meine Hände auf die blutende Wunde. Er ist blass und atmet schwer, sucht aber meinen Blick. Ich schaffe es allerdings nicht, ihn anzusehen. Nicht, nachdem ich ihn niedergestochen habe.

„Oh Gott … das wollte ich nicht … es tut mir so leid … das war doch nicht meine Absicht …“ Die Wunde hört einfach nicht auf zu bluten, obwohl ich schon so viel Druck darauf ausübe wie ich kann. Panik macht sich in mir breit. „Bitte, bleib bei mir …“, flehe ich unbewusst. „Du darfst nicht sterben.“

Ich zucke zusammen, als seine Hand sich auf meine Wange legt und sehe ihn an. Sein Blick ist nicht mehr voller Entsetzen. Jetzt sehe ich nur noch Wärme in seinen glasigen Augen. Tränen lassen meine Sicht verschwimmen und ich blinzle mehrmals, um wieder klar sehen zu können.

„Ich liebe dich.“ Jays Stimme ist dünn, kaum wahrnehmbar, doch seine Worte bewirken, dass sich ein Kloß in meinem Hals bildet und ich schwer schlucken muss.

Im nächsten Moment wird sein Blick starr und sein Brustkorb hebt sich nicht mehr.

Nein! Das darf nicht sein … bitte nicht.

Aus einem Impuls heraus nehme ich die Hände von seinem Hals und fange mit einer Herzdruckmassage an. Mehrere Minuten lang versuche ich so ihn wiederzubeleben. Ich will nicht akzeptieren, dass das eigentlich zwecklos ist. Erst, als ich nicht mehr die Kraft habe, weiterzumachen, gebe ich auf. Ich kralle meine Hände in sein T-Shirt, lehne meine Stirn auf seine Brust und lasse den Tränen freien Lauf.

Nach einer gefühlten Ewigkeit richte ich mich langsam wieder auf. Einen Moment lang sehe ich Jay einfach nur an. Eine erschreckend große Blutlache hat sich unter ihm gebildet. Sein Gesicht ist bleich geworden und seine Augen starren mit trübem Blick an die Decke. Meine Brust zieht sich schmerzhaft zusammen und meine Hand zittert, als ich sie ausstrecke und seine Augen schließe. „Es tut mir so leid“

Ich habe gerade den wichtigsten Menschen in meinem Leben umgebracht. Jays Blut klebt an meinen Händen.

Wie konnte das nur passieren?

Wie konnte ich nur meine große Liebe töten?

Ich fühle mich, als würde in meinem Inneren eine tiefe, gähnende Leere herrschen. Als wären sämtliche Gefühle in mir einfach abgestorben. Alle meine Hoffnungen, Wünsche und Träume scheinen zusammen mit Jays Leben erloschen zu sein. Nur noch eine leere Hülle ist übrig.

Wahrscheinlich zucke ich deshalb nicht mal mit der Wimper, als das Flüstern wieder beginnt. Trotzdem knirsche ich unbewusst mit den Zähnen. Ich ertrage das nicht länger.

Mein Blick fällt auf meine blutverschmierten Hände. Dann auf den blutverschmierten Stiel, mit dem ich Jay getötet habe. Ich nehme ihn in die Hand und hebe langsam den Kopf.

Der Mann aus meinen Albträumen steht wieder vor mir. Seine kalten Augen starren mich an, während seine Lippen zu einem bösartigen Grinsen verformt sind.

Es gibt kein Entkommen.

Die Stimme an meinem Ohr fängt plötzlich an zu lachen. Tief und grollend. Genauso grausam, wie das Grinsen in seinem entstellten Gesicht. Er lacht mich aus. Er weidet sich an meinem Leid. Unwillkürlich umklammere ich den Stiel in meiner Hand. Mein Entschluss steht fest. Ich weiß, was ich zu tun habe.

„Doch das gibt es“, flüstere ich, bevor ich mir das scharfe Ende meiner Waffe in den Hals ramme. Der Schmerz raubt mir den Atem, doch noch schlimmer wird er, als ich den Stiel wieder aus meinem Fleisch herausziehe. Mit einem Klirren landet das abgebrochene Stück des Weinglases auf dem Boden. Blut fließt unaufhörlich aus der Wunde an meinem Hals. Es dauert nicht lange, bis ich anfange zu röcheln und mir schwindlig wird. Schließlich kippe ich neben Jay zur Seite.

Die Gestalt beobachtet mich die ganze Zeit, das Lachen verstummt dabei nicht für eine Sekunde.

Ich bekomme kaum noch Luft, mein Sichtfeld verschwimmt und die Stimme nehme ich nur noch dumpf wahr. Die Blutlache unter mir wird immer größer und meine Kräfte schwinden.

Nur wenig später werde ich von Dunkelheit eingeschlossen.



Endlich ist es still.






- Leezah97

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