Deutsches Creepypasta Wiki

Harte Elektrobeats hallten durch das kleine Zimmer und in seinem Kopf wieder. Kein anderer Laut war zu vernehmen, da er die Lautstärke, zwar nicht auf das Maximum, aber hoch genug gedreht hatte, dass die Musik von keiner abweichenden Quelle übertönt wurde.

Höher und höher schlugen die Klänge, immer weiter trieben sie nach oben, trieben ihn an, ließen ihn nicht zur Ruhe kommen. Mochte es halbwegs besinnlich angefangen haben, war er spätestens nach zehn Sekunden verloren gewesen. Der Song hatte ihn gepackt und würde ihn erst wieder loslassen, wenn er zu Ende gespielt hatte.

So glaubte er zumindest ...

Verstörend, dachte er nicht zum ersten Mal, indes die Klangkulisse just eine weitere Ebene erreichte, eine noch tiefer schürfende, eine noch grausamere. Verstörend und faszinierend. Er war gefesselt, wobei diese Beschreibung ihm in Hinblick auf seinen Zustand unzureichend erschien.

Und da kam die zweite Pause, sofern denn von einer solchen gesprochen werden konnte.

Die erste war in Form eines Zuges erschallt, welcher kurzzeitig alle anderen Sounds ausblendete. Nur um umso schräger, schiefliegender, mitreißender, verstörender weiterzugehen, ohne dass der Höhepunkt des Songs nur ansatzweise erreicht wurde.

Die zweite Pause wiederum war kaum lang genug, dem Hörer Zeit zum Durchatmen zu geben, da direkt im Anschluss noch härtere Beats folgten, die langsam vom Finale kündeten.

Die Disharmonie dieses Glanzstücks erreichte schließlich ihren Höchstpunkt, der treibende Sound durchbrach ein letztes Mal die ungeahnte Grenze, die schon längst angekratzt zu sein schien. Die Spannung wurde unerträglich und dann ... nichts. Ein paar ausklingende letzte Hammerschläge, direkt auf das eh schon geplagte, rasende Herz und auf einmal, aus. Ohne Vorwarnung, ohne die Befriedigung eines langsam dahinschwindenden Klangteppichs, einfach vorbei, während der Hörer taumelnd auf dem Gipfel der Achterbahn festsaß.

Er saß noch lange da, in dieser plötzlich eingetretenen Stille und sah sich unfähig, irgendetwas zu unternehmen, ja sich nur zu regen. In seinem Kopf herrschte Leere, indes er gleichzeitig versuchte, das eben Gehörte zu verarbeiten. Sein Herz pochte weiterhin wild, kam aber langsam auf ein gesundes Maß herunter.

Wow. So etwas hatte er nie zuvor erlebt. Verstörend, faszinierend, perfide grausam ... kein Adjektiv seines Wortschatzes, vermochte nur ansatzweise zu beschreiben, was er soeben erlebt hatte.

Wenn ich das jemandem erzähle, erklärt er mich für verrückt ... Nicht, dass ihn das wie all die Jahre zuvor, hindern würde.

Er hatte eben einen anderen Bezug zur Musik, hörte sie nicht nur, sondern lebte sie. Er atmete Musik, ertastete jeden einzelnen Takt so lange, bis er ihm in Fleisch und Blut überging, bis er nicht mehr nur ein zusammengemischtes Gewirr aus separierten Tönen vernahm, sondern sie bis ins kleinste Detail auseinanderhalten und wahrhaftig fühlen konnte.

Während andere Menschen damit priesen, eine Bibliothek an tausenden und abertausenden Liedern zu besitzen von Dutzenden Künstlern, derer sie gerade einmal die Hälfte zu benennen fähig waren, kannte er jedes seiner Stücke auswendig, hatte sie so häufig gehört, dass er sie beliebig in seinem Kopf abspielen konnte, was selbstredend kein Vergleich zum richtigen Hören, Fühlen und Leben darstellte.

War er exzentrisch? Vermutlich. Störte ihn das? Wie könnte es, wenn Musik doch alles für ihn bereithielt, was er zum Leben brauchte?

Und dieses, eben gehörte Stück Kunst: Unglaublich, fesselnd, atemberaubend, verängstigend ... Er würde es noch viele Male hören, das war ihm klar. Aber nicht mehr heute. Das eine Mal reichte für einen Tag, das hatte ihn schon genug aufgewühlt. So etwas hatte er zuvor nie erlebt, zumindest nicht in diesem Ausmaß.

Ich sollte mich schlafenlegen, entschied er kurzer Hand. Ja, schlafen und den Geist in Ruhe sinnieren lassen. Morgen würde er sich den Song erneut zu Gemüte führen, vorbereitet dann, um nicht aufs Neue erschlagen zu werden, von dieser schieren Gewalt, dieser entfesselten Macht, die kein Mensch außer ihm zu verstehen in der Lage war.

Er erhob sich aus dem Sessel, schaltete die Anlage aus, schlenderte zu seinem Bett herüber und warf sich angezogen, wie er war hinein, nur um wenige Minuten später schon wegzudämmern.

Bevor er einschlief, dachte er noch: Ein Schriftsteller oder Maler, der so schreiben oder malen könnte, wie dieses Lied komponiert wurde, könnte Großes vollbringen. Er würde die Menschheit in Angst und Schrecken versetzen, keine Frage, aber es wäre ein Meisterwerk, das seinesgleichen sucht. Schade, dass das dazu wohl kaum jemand in der Lage ist ...

Der Schlaf war kurz und unruhig. Mit pochendem Herzen erwachte er schweißgebadet. Fürchterliche Träume hatten ihn gehetzt und gejagt, hatten ihn erbarmungslos verfolgt, schneller und weiter und immer weiter. Jetzt blieb von ihnen nur ein Schemen, eine dunkle Erinnerung, doch an Schlaf war nicht mehr zu denken.

Ein Blick auf seinen Wecker verriet ihm, dass er gerade mal drei Stunden hinter sich gebracht hatte. Die Stadt außerhalb seiner Wohnung lag in tiefer Dunkelheit, einsam und verlassen da. Was sollte er jetzt mit seiner übrigen Zeit anfangen?

Automatisch ruckte sein Kopf zu der Musikanlage. Oh nein, auf keinen Fall! Wie es ihn auch lockte und rief, er war noch nicht bereit; nicht nach diesen Träumen, deren Ursprung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit überhaupt erst in diesem lagen!

Zuerst was trinken, entschloss er. Seine Kehle war staubtrocken.

Er stand auf, ging zum Kühlschrank, goss sich ein Glas ein, setzte sich damit in seinen Sessel und ehe er sich versah, trieb ihn schon wieder dieser Song durch eine Hetzjagd der Gefühle, während das Glas Wasser unangetastet neben ihm stand.

Er war nicht von losgekommen, hatte nicht widerstehen können, kam sich vor wie ein Süchtiger, der nur zu genau wusste, dass dir Droge seiner Wahl ihn eines Tages umbrachte und diesem Wissen zum Trotz, dennoch immer weiter in dem Sumpf seines Elends versank.

Okay, das war ein bisschen weit hergeholt, aber ernsthaft, nie zuvor, hatte ihn ein Lied derart in seinen Bann gezogen, dass sein Körper regelrecht automatisch und ohne sein Zutun handelte, obgleich in seinem Inneren eine kleine, kaum wahrnehmbare Stimme verlangte, den Song nicht wieder einzuschalten, ihm zurief, dass es zu früh sei, er nicht bereit wäre. Doch wie sollte diese leise, flüsternde Stimme, gegen das donnernde Hallen ankommen, dass nun wieder seine Wohnung erfüllte? Sie wurde schlicht niedergeschrien, von den kreischenden Klängen, bis sie schließlich verstummte.

Das Lied endete, er nahm sich vor einen Schluck Wasser zu trinken und sich mit etwas anderem zu beschäftigen. Stattdessen ließ er es zum dritten Mal von vorn spielen, um die Ruhe, die ihn zwischen seinen vier Wänden einengte, zu vertreiben. Ruhe, war jetzt das Letzte, wonach ihm verlangte. Er wollte mehr und immer mehr, wollte dieses unbefriedigende Gefühl hinter sich lassen, dass das Finale des Songs stets mit sich brachte. Irgendwie musste es doch möglich sein!

Auf unangenehme Weise drängte sich der Vergleich mit dem Süchtigen erneut auf ... Solange zumindest, bis die Bilder von harten Beats zertrümmert wurden.


Die Stunden zogen dahin, die Sonne ging auf, er hörte weiter den immer gleichen Song, kannte mittlerweile jede Phase, jeden einzelnen Klang und war doch nicht zufrieden. Die Zeit deutete mit aller Dringlichkeit darauf, dass er aufstehen und zur Arbeit zu gehen hatte, doch erfüllte allein der Gedanke daran ihn mit Grauen. Wie könnte er ruhigen Gewissens in einem stickigen Büro zu sitzen, während hier dieses Meisterwerk darauf wartete weiter gehört zu werden?

Am Ende obsiegte die Vernunft – nicht ohne ein ausgiebiges Maß an Missfallen. Mit größter Anstrengung schaffte er es, sich aufzuraffen, zu duschen, anzuziehen und die Haustür zu verlassen. Bei jedem Schritt wurde ihm schwerer ums Herz, die Motivation sank in den Keller, derweil er nach oben stieg.

Moment, nach oben? Was sollte das? Was tat er da?

Seine Füße bewegten sich von selbst, marschierten stoisch die Treppe hinauf, statt hinunter, aber was gedachten sie dort zu tun? Eine Etage höher, eine weitere und dann noch eine, ohne dass er die Kontrolle über seinen Körper zurückerlangt hätte. Wenn das so weiterging, würde er bald das Dach erreichen und dann?

Nein, das ist unmöglich!, versuchte er sich zu beruhigen. Die Tür zum Dach war ohnehin verschlossen, musste sie sein, aus Sicherheitsgründen. Logische Schlussfolgerung hin oder her, seine sich von selbst bewegenden Füße erfüllten ihn mit wachsendem Grauen, dass eine Grenze nach der anderen spielend hinter sich und ihn zu einem nervösen, panischen, wie Espenlaub zitternden Nervenbündel werden ließ, welches nichts weiter tun in der Lage war, als kontrolllos seinem Schicksal entgegenzusehen.

Er erreicht die Tür zum Dach, seine Hand streckte sich aus, der Moment der Wahrheit kam. Die Klinke wurde hinabgedrückt und ... Nein! Mühelos glitt sie auf und mühelos, setzten seine Beine ihren Weg fort, gleich, wie er sich dagegen strebte. Geradewegs, in gemächlichem Tempo trugen sie ihn zum Rand hin, um ihn hinabzustürzen.

Würde es wehtun? Würde es lange dauern? Er hoffte es nicht. Wenn er schon sterben musste, dann doch bitte schmerzfrei und schnell!

Er unternahm den Versuch, die Augen zu schließen, um wenigstens die letzten Meter nicht mit ansehen zu müssen, doch nicht einmal dazu war er mehr fähig.

Sie erreichten den Rand des Daches, das hieß er und sein Körper, denn er fühlte sich nicht länger mit ihm verbunden, eher wie ein fremdes Wesen, dass nicht hierhergehörte, ein Parasit, der entfernt gehörte, und zwar auf die einzig mögliche, drastische Art.

Sie blieben stehen. Oh Gott sei Dank. Es war noch nicht vorbei! Gleich würde er die Kontrolle zurückerlangen und dann ... Die Pause endete, der letzte Schritt wurde getätigt, er fiel, nur nicht nach unten, sondern nach oben!

Ungläubig starrte er unter sich, sah, wie er sich von dem Dach entfernte, von der Straße, in der er wohnte, von den Menschen, die sich seine Nachbarn nannten und sich stetig über den Lärm aus seiner Wohnung beschwerten. Alles wurde kleiner und kleiner, während er immer höher und höher stieg, bis er die Wolkendecke durchbrach und die Welt unter sich zu einer entfernten Erinnerung verkam.

Es war ein schreckliches Gefühl, ihm drehte sich der Magen um und dennoch war es auf eine befremdliche Art faszinierend. Schrecklich und faszinierend und Übelkeit erregend und nicht enden wollend, da er immer höher und höher und noch höher stieg. Ein Ende seiner Reise schien nicht in Sicht, wenn er sein Tempo ungebremst hielt, dann ...

Pause, kurz vor dem Durchbruch in das All, welches dunkel und endlos über ihm hing.

Hier schwebte er nun, noch nicht gänzlich von seinem Heimatplaneten entfernt und doch so weit weg, wie er sich nie zu träumen gewagt hätte. Über ihm, das endlose Nichts. Wenn er dort hinaufsteigen würde, dann gäbe es kein Zurück, dessen war er sich sicher.

Die Pause endete so schnell, wie sie angefangen hatte. Mit rasender Geschwindigkeit schoss er hinauf zum Himmelreich der Sterne. Schneller, schneller, weiter, weiter, höher, höher, bis der Gipfel erreicht wurde, nur dass es keinen Gipfel gab, kein Ziel, kein Ende, es dürfte nicht enden, denn jedes Ende dieses majestätischen Fluges, wäre ein Drama ohne Gleichen. Ein Ende dieser himmlischen Reise bedeutete ein Ende allen Seins, da nichts mehr wert war zu sein, im Vergleich zu diesem göttlichen Erlebnis.

Er fürchtete sich nicht länger vor seinem Sturzflug, er genoss ihn in all seinen Zügen. Atemberaubend schön war er und gleichzeitig so unendlich abgründig furchterregend. Das war Kunst, in seiner reinsten Form!

Und dann ... dann war es vorbei. Der Flug endete, die Kunst erreichte ihren Zenit, das Meisterwerk mündete im unvermeidlichen Finale. Unbefriedigend, ungenügend, unfertig. Die Hochstimmung brach schlagartig ab, ehe er den Sturz vollzog.

Von den höchsten Höhen, die ein Mensch je erreicht hatte, stürzte er hinab in ein Loch, so tief, dass es keine Aussicht auf Entrinnen gab. Selbst wenn er diesen Flug ein weiteres und ein Dutzend Mal erlebte, er kannte nun seinen Ausgang, wusste, dass am Ende keine Zufriedenheit, sondern Unvollkommenheit auf ihn wartete. Das Drama, das er fürchtete, trat ein und alles, was ihm blieb, war sich dem Sturz hinzugeben, zu hoffen, dass der Aufprall ihm ein ähnlich jähes Ende bereitete, wie diesem Schandwerk, das er so voreilig als meisterhaft bezeichnet hatte.

Doch wie sollte auch Perfektion entstehen, wenn sie wie alles Irdische, der Endlichkeit unterlag?