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Keine Ahnung wo ich war, wie lange ich schon unterwegs war. Oder wo ich hinwollte. Ich kniff die Augen in der Dunkelheit zusammen, als beißender Schneeregen auf meinem Gesicht wie mit tausenden von heißen Nadelstichen brannte. Meine Wangen waren gerötet und unter der dicken Winterjacke begann die Wärme, sich zu stauen, während ich meine Hände vor Taubheit nur noch erahnen konnte. Ich sah auf die Uhr an meinem Handgelenk. 22:07. Die Ziffern schienen grünlich durch den weißen Dunst meiner Atemwölkchen. Ich ließ meinen Blick durch die Umgebung schweifen. Eigentlich, dachte ich, ist es sogar schön hier, fast schon malerisch; der Schneefall hatte etwas nachgelassen und die Brücke, auf der ich stand, bildete mit dem fast eingefrorenen Fluss und dem sanften Licht einer alten Straßenlaterne ein atemberaubendes Relief, umrahmt von leisem Schneegestöber. Ich konnte den Schnee fallen hören. Alles war auf einmal so ruhig und friedlich. Ich setzte mich auf eine verschnörkelte Bank irgendwo am Rande der Brücke. Ich kann es mir bis heute nicht erklären, aber ich fühlte mich so frei und gleichgültig in dieser Winternacht. Die Stimme eines Mannes irgendwo aus der Ferne riss mich aus meinen Gedanken. Er sprach anscheinend mit jemandem. Deswegen verwunderte es mich auch so, als er kurz darauf ohne Begleitung (soweit ich das erkennen konnte; es war stockfinster… abgesehen von der Laterne) die Brücke passierte. Obwohl die Entfernung es mir unmöglich machte, das zu sehen, spürte ich, dass er zu mir sah, und in seinen unwahrscheinlich blauen Augen, die wie türkise Katzenaugen in der Nacht leuchteten, flackerte ein undefinierbarer Funke wie durch Hoffnung auf, als sein Blick mich streifte. Wie in Zeitlupe blieb er stehen, langsam. Ich hörte, dass er sich in meine Richtung drehte und auf mich zuging. Ich hatte keine Ahnung, was er von mir wollte. Ich wandte mich vorsorglich ab, bereit, wegzurennen, falls es dazu kommen sollte. Im goldenen Schein der Laterne tauchte Stück für Stück die Gestalt des Mannes auf, als er vorsichtig näher kam. Er setzte sich geräuschlos ans andere Ende der Bank.<br />
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Keine Ahnung wo ich war, wie lange ich schon unterwegs war. Oder wo ich hinwollte. Ich kniff die Augen in der Dunkelheit zusammen, als beißender Schneeregen auf meinem Gesicht wie mit tausenden von heißen Nadelstichen brannte. Meine Wangen waren gerötet und unter der dicken Winterjacke begann die Wärme sich zu stauen, während ich meine Hände vor Taubheit nur noch erahnen konnte. Ich sah auf die Uhr an meinem Handgelenk. 22:07. Die Ziffern schienen grünlich durch den weißen Dunst meiner Atemwölkchen. Ich ließ meinen Blick durch die Umgebung schweifen. Eigentlich, dachte ich, ist es sogar schön hier, fast schon malerisch; der Schneefall hatte etwas nachgelassen und die Brücke, auf der ich stand, bildete mit dem fast eingefrorenen Fluss und dem sanften Licht einer alten Straßenlaterne ein atemberaubendes Relief, umrahmt von leisem Schneegestöber. Ich konnte den Schnee fallen hören. Alles war auf einmal so ruhig und friedlich. Ich setzte mich auf eine verschnörkelte Bank irgendwo am Rande der Brücke. Ich kann es mir bis heute nicht erklären, aber ich fühlte mich so frei und gleichgültig in dieser Winternacht. Die Stimme eines Mannes irgendwo aus der Ferne riss mich aus meinen Gedanken. Er sprach anscheinend mit jemandem. Deswegen verwunderte es mich auch so, als er kurz darauf ohne Begleitung (soweit ich das erkennen konnte; es war stockfinster… abgesehen von der Laterne) die Brücke passierte. Obwohl die Entfernung es mir unmöglich machte, das zu sehen, spürte ich, dass er zu mir sah, und in seinen unwahrscheinlich blauen Augen, die wie türkise Katzenaugen in der Nacht leuchteten, flackerte ein undefinierbarer Funke wie durch Hoffnung auf, als sein Blick mich streifte. Wie in Zeitlupe blieb er stehen, langsam. Ich hörte, dass er sich in meine Richtung drehte und auf mich zuging. Ich hatte keine Ahnung, was er von mir wollte. Ich wandte mich vorsorglich ab, bereit, wegzurennen, falls es dazu kommen sollte. Im goldenen Schein der Laterne tauchte Stück für Stück die Gestalt des Mannes auf, als er vorsichtig näher kam. Er setzte sich geräuschlos ans andere Ende der Bank.<br />
 
„Was wollte er von mir?“<br />
 
„Was wollte er von mir?“<br />
 
Ich blieb unbeeindruckt an meinem Platz sitzen, fest entschlossen, mich zu verteidigen, falls er mich angreifen sollte. Meine Kiefermuskulatur spannte sich an.<br />
 
Ich blieb unbeeindruckt an meinem Platz sitzen, fest entschlossen, mich zu verteidigen, falls er mich angreifen sollte. Meine Kiefermuskulatur spannte sich an.<br />
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„Sind Sie Mia?“<br />
 
„Sind Sie Mia?“<br />
 
Ich drehte mich weg und tat, als hätte ich ihn nicht gehört. Die Situation war mir ziemlich unangenehm. Meine ungebremste Fantasie erledigte den Rest. Wer zum Teufel war Mia? Irgendeine heimliche Geliebte, von der seine Frau nichts wissen durfte? War es ein Codewort, um die Geliebte zu erkennen? Ich fühlte mich sehr unwohl.Er räusperte sich erneut, diesmal klang er bestimmter. „Entschuldigung? - Mia. Ob Sie Mia sind, habe ich gefragt.“<br />
 
Ich drehte mich weg und tat, als hätte ich ihn nicht gehört. Die Situation war mir ziemlich unangenehm. Meine ungebremste Fantasie erledigte den Rest. Wer zum Teufel war Mia? Irgendeine heimliche Geliebte, von der seine Frau nichts wissen durfte? War es ein Codewort, um die Geliebte zu erkennen? Ich fühlte mich sehr unwohl.Er räusperte sich erneut, diesmal klang er bestimmter. „Entschuldigung? - Mia. Ob Sie Mia sind, habe ich gefragt.“<br />
 
Ich zählte langsam in meinem Kopf, einundzwanzig, zweiundzwanzig, schüttelte den Kopf und verneinte abweisend, den Blick nach unten gerichtet: „Sie müssen mich wohl verwechseln. Tut mir leid.“<br />Ich betrachtete ihn schief aus dem Augenwinkel, um direkten Blickkontakt zu vermeiden. Vielleicht war er betrunken. Der Funke in seinen Augen erlosch so plötzlich, dass mir der Mann schon fast leid tat. Er richtete den Blick nach vorne, die Lippen zu einem stummen „Oh“ geformt. Die Ellbogen auf die Knie gestützt, saß er da und schwieg mich an. Irgendwie ertrug ich diese Art von Stille nicht. Ich räusperte mich widerwillig.<br />„Sagen Sie, wer ist denn diese Mia? Waren Sie hier verabredet? Ich habe vorhin eine brünette Frau hier vorbeigehen sehen, vielleicht…“<br />Ich bemerkte, dass er mich schon wieder betrachtete; melancholisch, aber amüsiert. Ich verstummte.<br />„Mia ist meine Tochter“, erwiderte er. Bitte? Ich war verdutzt.<br />„Wie kommen Sie darauf…? Ich meine, dass ich…?“<br />Ich verstummte trotzig und drehte mich erneut weg. So langsam wurde mir das Ganze zu blöd. Allein schon die Tatsache, dass ich zwanzig Jahre alt war und er vielleicht dreizehn, vierzehn Jahre älter war als ich, machte das Ganze ziemlich unwahrscheinlich. Im Übrigen kannte ich meinen Vater sehr gut, und dieser Mann war es - soweit ich das im Mondschein erkennen konnte - nicht. Er sah zu Boden, diesmal lächelnd. „Ich weiß, was sie jetzt denken. Ich habe es ja selber nicht geglaubt. Es ist nur – Sie sehen ihr so unglaublich ähnlich, und…“ Er schwieg plötzlich. Ich räusperte mich erneut. Nach einer gefühlten halben Stunde fragte ich: „Was ist denn mit Ihrer Tochter? Wollten Sie sie hier treffen?“<br />
Ich zählte langsam in meinem Kopf, einundzwanzig, zweiundzwanzig, schüttelte den Kopf und verneinte abweisend, den Blick nach unten gerichtet: „Sie müssen mich wohl verwechseln. Tut mir leid.“<br />
 
Ich betrachtete ihn schief aus dem Augenwinkel, um direkten Blickkontakt zu vermeiden. Vielleicht war er betrunken.Der Funke in seinen Augen erlosch so plötzlich, dass mir der Mann schon fast leid tat. Er richtete den Blick nach vorne, die Lippen zu einem stummen „Oh“ geformt. Die Ellbogen auf die Knie gestützt, saß er da und schwieg mich an. Irgendwie ertrug ich diese Art von Stille nicht. Ich räusperte mich widerwillig.<br />
 
„Sagen Sie, wer ist denn diese Mia? Waren Sie hier verabredet? Ich habe vorhin eine brünette Frau hier vorbeigehen sehen, vielleicht…“<br />
 
Ich bemerkte, dass er mich schon wieder betrachtete; melancholisch, aber amüsiert. Ich verstummte.<br />
 
„Mia ist meine Tochter“, erwiderte er. Bitte? Ich war verdutzt.<br />
 
„Wie kommen Sie darauf…? Ich meine, dass ich…?“<br />
 
Ich verstummte trotzig und drehte mich erneut weg. So langsam wurde mir das Ganze zu blöd. Allein schon die Tatsache, dass ich zwanzig Jahre alt war und er vielleicht dreizehn, vierzehn Jahre älter war als ich, machte das Ganze ziemlich unwahrscheinlich. Im Übrigen kannte ich meinen Vater sehr gut, und dieser Mann war es - soweit ich das im Mondschein erkennen konnte - nicht. Er sah zu Boden, diesmal lächelnd. „Ich weiß, was sie jetzt denken. Ich habe es ja selber nicht geglaubt. Es ist nur – Sie sehen ihr so unglaublich ähnlich, und…“ Er schwieg plötzlich. Ich räusperte mich erneut. Nach einer gefühlten halben Stunde fragte ich: „Was ist denn mit Ihrer Tochter? Wollten Sie sie hier treffen?“<br />
 
 
Er sah mich traurig an.<br />
 
Er sah mich traurig an.<br />
 
„Geplant war es nicht. Ich dachte einfach nur, Sie wären es. Verzeihung. Ich habe sie schon länger nicht mehr gesehen, und…“<br />
 
„Geplant war es nicht. Ich dachte einfach nur, Sie wären es. Verzeihung. Ich habe sie schon länger nicht mehr gesehen, und…“<br />

Version vom 14. Februar 2018, 20:13 Uhr

Keine Ahnung wo ich war, wie lange ich schon unterwegs war. Oder wo ich hinwollte. Ich kniff die Augen in der Dunkelheit zusammen, als beißender Schneeregen auf meinem Gesicht wie mit tausenden von heißen Nadelstichen brannte. Meine Wangen waren gerötet und unter der dicken Winterjacke begann die Wärme sich zu stauen, während ich meine Hände vor Taubheit nur noch erahnen konnte. Ich sah auf die Uhr an meinem Handgelenk. 22:07. Die Ziffern schienen grünlich durch den weißen Dunst meiner Atemwölkchen. Ich ließ meinen Blick durch die Umgebung schweifen. Eigentlich, dachte ich, ist es sogar schön hier, fast schon malerisch; der Schneefall hatte etwas nachgelassen und die Brücke, auf der ich stand, bildete mit dem fast eingefrorenen Fluss und dem sanften Licht einer alten Straßenlaterne ein atemberaubendes Relief, umrahmt von leisem Schneegestöber. Ich konnte den Schnee fallen hören. Alles war auf einmal so ruhig und friedlich. Ich setzte mich auf eine verschnörkelte Bank irgendwo am Rande der Brücke. Ich kann es mir bis heute nicht erklären, aber ich fühlte mich so frei und gleichgültig in dieser Winternacht. Die Stimme eines Mannes irgendwo aus der Ferne riss mich aus meinen Gedanken. Er sprach anscheinend mit jemandem. Deswegen verwunderte es mich auch so, als er kurz darauf ohne Begleitung (soweit ich das erkennen konnte; es war stockfinster… abgesehen von der Laterne) die Brücke passierte. Obwohl die Entfernung es mir unmöglich machte, das zu sehen, spürte ich, dass er zu mir sah, und in seinen unwahrscheinlich blauen Augen, die wie türkise Katzenaugen in der Nacht leuchteten, flackerte ein undefinierbarer Funke wie durch Hoffnung auf, als sein Blick mich streifte. Wie in Zeitlupe blieb er stehen, langsam. Ich hörte, dass er sich in meine Richtung drehte und auf mich zuging. Ich hatte keine Ahnung, was er von mir wollte. Ich wandte mich vorsorglich ab, bereit, wegzurennen, falls es dazu kommen sollte. Im goldenen Schein der Laterne tauchte Stück für Stück die Gestalt des Mannes auf, als er vorsichtig näher kam. Er setzte sich geräuschlos ans andere Ende der Bank.
„Was wollte er von mir?“
Ich blieb unbeeindruckt an meinem Platz sitzen, fest entschlossen, mich zu verteidigen, falls er mich angreifen sollte. Meine Kiefermuskulatur spannte sich an.
Aber, dachte ich, er sieht nicht böse aus.
Er räusperte sich und sagte, irgendwie… naja, unsicher: „Entschuldigen Sie, dass ich Sie so direkt anspreche“.
Seine Stimme klang tief, warm, aber auch ein bisschen heiser.
„Ich hätte nur eine kleine Frage.“
Ich spürte, dass er mir direkt in die Augen sah. Ich sah nicht zurück.
„Sind Sie Mia?“
Ich drehte mich weg und tat, als hätte ich ihn nicht gehört. Die Situation war mir ziemlich unangenehm. Meine ungebremste Fantasie erledigte den Rest. Wer zum Teufel war Mia? Irgendeine heimliche Geliebte, von der seine Frau nichts wissen durfte? War es ein Codewort, um die Geliebte zu erkennen? Ich fühlte mich sehr unwohl.Er räusperte sich erneut, diesmal klang er bestimmter. „Entschuldigung? - Mia. Ob Sie Mia sind, habe ich gefragt.“
Ich zählte langsam in meinem Kopf, einundzwanzig, zweiundzwanzig, schüttelte den Kopf und verneinte abweisend, den Blick nach unten gerichtet: „Sie müssen mich wohl verwechseln. Tut mir leid.“
Ich betrachtete ihn schief aus dem Augenwinkel, um direkten Blickkontakt zu vermeiden. Vielleicht war er betrunken. Der Funke in seinen Augen erlosch so plötzlich, dass mir der Mann schon fast leid tat. Er richtete den Blick nach vorne, die Lippen zu einem stummen „Oh“ geformt. Die Ellbogen auf die Knie gestützt, saß er da und schwieg mich an. Irgendwie ertrug ich diese Art von Stille nicht. Ich räusperte mich widerwillig.
„Sagen Sie, wer ist denn diese Mia? Waren Sie hier verabredet? Ich habe vorhin eine brünette Frau hier vorbeigehen sehen, vielleicht…“
Ich bemerkte, dass er mich schon wieder betrachtete; melancholisch, aber amüsiert. Ich verstummte.
„Mia ist meine Tochter“, erwiderte er. Bitte? Ich war verdutzt.
„Wie kommen Sie darauf…? Ich meine, dass ich…?“
Ich verstummte trotzig und drehte mich erneut weg. So langsam wurde mir das Ganze zu blöd. Allein schon die Tatsache, dass ich zwanzig Jahre alt war und er vielleicht dreizehn, vierzehn Jahre älter war als ich, machte das Ganze ziemlich unwahrscheinlich. Im Übrigen kannte ich meinen Vater sehr gut, und dieser Mann war es - soweit ich das im Mondschein erkennen konnte - nicht. Er sah zu Boden, diesmal lächelnd. „Ich weiß, was sie jetzt denken. Ich habe es ja selber nicht geglaubt. Es ist nur – Sie sehen ihr so unglaublich ähnlich, und…“ Er schwieg plötzlich. Ich räusperte mich erneut. Nach einer gefühlten halben Stunde fragte ich: „Was ist denn mit Ihrer Tochter? Wollten Sie sie hier treffen?“
Er sah mich traurig an.
„Geplant war es nicht. Ich dachte einfach nur, Sie wären es. Verzeihung. Ich habe sie schon länger nicht mehr gesehen, und…“
Ich sah vorwurfsvoll zurück: „Wissen Sie denn nicht, wie Ihre Tochter aussieht?“
Wieso hatte ich ihn das gefragt? Er schreckte zusammen. An seinem stechenden Blick merkte ich, dass ich das nicht hätte sagen sollen. Er öffnete den Mund, als wollte er das richtigstellen, schloss ihn aber gleich wieder. Ich konnte den Schnee fallen hören. Er sah mich stumm an, so wie ein Reh, das plötzlich in den Lichtkegeln eines Autos erscheint, den Fahrer anschaut. Unendlich vorwurfsvoll. Du wirst mich gleich überfahren, sagte sein Blick. Tatsache, ich dachte zunächst, er wäre wütend. Aber er war es nicht. Er verhielt sich ganz ruhig. Der fallende Schnee überdeckte fast seine raue, flüsternde Stimme, als er mir eine zweite Frage stellte.
„Wollen Sie meine Geschichte hören?“
Es war eine ungewöhnliche, wenn nicht gar groteske Situation. Ich saß in der Dunkelheit neben einem Mann, den ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte, dessen Namen ich nicht kannte und dessen Tochter ich ähnlich sah. Ich hatte keine Angst.
„Ich war ein normaler Mensch, wissen Sie?“, sagte er. Seine Augen suchten in meinem Gesicht fieberhaft nach einem Anzeichen von Bestätigung. Ich nickte, obwohl ich es nicht wusste. Stattdessen begann ich mir die Frage zu stellen, ob er es inzwischen nicht mehr war.
„Ich hatte eine Frau, eine Familie, zwei Töchter. Annie, und…“
„Und Mia“, unterbrach ich. Er lächelte.
„Ja, Mia.“
„Es lief alles gut. Ich hatte nicht viel Geld, aber wir konnten gut leben - eigentlich. Eines Tages, als sie fünf war, wurde Annie, die ältere, krank. Wir dachten zuerst, es sei nichts Ernstes. Eine Grippe vielleicht. Bis wir sie eines Nachts wegen Atembeschwerden in die Klinik bringen mussten. Ihr war schwindlig, sie aß nicht, nahm immer weiter ab. Sie bekam Nasenbluten. Oft. Ihr Husten klang schrecklich. Die Ärzte wussten nicht, was zu tun war. Sie sagten, sie hätten alles versucht, was in ihrer Macht stünde. Aber so wie es aussah, konnten sie nichts mehr für sie tun. Sie wurde auf die Intensivstation verlegt, und die Ärzte gaben ihr noch drei Wochen. Höchstens.“
Er brach ab. Stille.
„Das tut mir leid“, flüsterte ich. Er sah mir in die Augen. Langsam, nachdrücklich, als müsste er die Worte in seinem Kopf ordnen, sagte er: „Das muss es nicht, wissen Sie. Annie wurde gesund. Sie konnte schon nach zwei Wochen wieder zurück nach Hause kommen, weil sie sich offenbar vollständig erholt hatte. Es gab zwar nie wieder Rückfälle.“ Er räusperte sich.
„Nun ja, jedenfalls nicht in dem Sinne. Es ging ihr gut, verstehen Sie? Gesundheitlich. Aber irgendetwas an ihr war… anders. Ich weiß nicht, wie man es sonst ausdrücken sollte. Etwas hat nicht mit ihr gestimmt. Als Vater merkt man so etwas einfach. Sogar meine Frau war der Meinung, dass sie anders geworden ist, aber wissen Sie, wir hatten beide keine Ahnung, was es war, also beließen wir es dabei. Schließlich waren wir froh, unsere kleine Annie wiederzuhaben.“
Er atmete tief aus und schwieg gedankenverloren. Abrupt drehte er sich zu mir und sah mir so intensiv in die Augen, dass ich erschrak. Sein Blick war so abwesend und trotzdem so… so aufdringlich, als würde er direkt durch meine Augen in die Ferne schauen; als wären meine Augen zwei Löcher und dahinter eine schöne Blumenwiese, die er in paraonioder Begeisterung betrachtete. Er fuhr fort, während er mir so in die Augen sah. Auch seine Stimme veränderte sich. Sie klang jetzt düsterer, bedrohlicher. Irgendwie traurig und irgendwie auch nicht. Naiv. Aber bestimmt.
„Aber ich konnte nicht froh sein, wissen Sie. Annie war anders geworden. Und so sollte es nicht sein. Ich musste…“, er pausierte kurz und schien nach den richtigen Worten zu suchen, bis er gedankenverloren flüsterte: „…Konsequenzen ergreifen.“
Er lächelte leise und war gerade im Begriff fortzufahren, aber sein Mund schloss sich wieder. Seine Stimme verstummte so plötzlich, so böse, dass diese letzten Worte noch eine Weile wie ein Echo in der Luft hingen. Und so sollte es nicht sein.
Ich musste Konsequenzen ergreifen. Konsequenzen. KONSEQUENZEN. Oh mein Gott. Ich verstand gar nichts mehr.
Hatte er seine Tochter etwa... aber nein, das wäre zu abwegig. Glaubte ich jedenfalls. Oder hoffte. Meine Hände begannen zu zittern. Einem unguten Gefühl folgend ergriff ich meine Tasche mit beiden Händen und nestelte betont langsam und unauffällig nach irgendetwas, mit dem ich mich notfalls wehren konnte. Ein Schlüssel vielleicht. Ich wurde hektischer, als ich das selbstgefällige Grinsen auf seinem Gesicht bemerkte. Er beobachtete mich. Aber sein grausamer Blick zwang mich, aufzuhören. Er würde Verdacht schöpfen. Meine Hände sanken wie von selbst tiefer; ich saß wie auf heißen Kohlen und wartete gezwungenermaßen, dass er weiterredete. Er war noch nicht fertig mit seiner Geschichte, das wusste ich. Aber ich glaubte erkannt zu haben, welche Art von Geschichte er mir erzählen wollte. Und ich hatte keine Lust, im nächsten Kapitel verewigt zu werden. Die Zeit verstrich gleichzeitig unendlich langsam und rasend schnell. Noch immer sagte er nichts. Wie konnte ich nur so dumm sein und glauben, ich hätte nichts von jemandem zu befürchten, der einen abends im Park ansprach? Wir beide saßen auf einer Parkbank, ein Mann, der seit Gott-weiß-wie-lange regungslos auf seinem Platz verharrte wie ein Raubtier, und eine junge Frau, die nur von seinem machtvollen, grausamen Blick an die Bank gefesselt wurde. Der Blick des Mannes hatte sich schleichend verändert, er war irgendwie kälter geworden. Hündischer. Niederträchtig. Grausam. Ich traute mich nicht einmal, wegzusehen.
Ich betete. Das hatte ich noch nie gemacht. Niemals. Gott, bitte hilf mir doch. Mach, dass er mich in Ruhe lässt. Ich habe Angst. Hilf mir.
Aber Gott hörte mich nicht, der Mann, dessen Namen ich noch nicht einmal kannte, sah mich bloß an, mit diesem eiskalten, bösen Grinsen, die Zähne halb entblößt. Ich spürte die Anspannung, die von seinem Körper ausging. Wie lange sollte ich das noch aushalten können? Ich wusste einfach nicht, was ich tun sollte. Ich ertappte mich dabei, Luft zu holen. Es war erschreckend, wie wenig Kontrolle ich über mich hatte. Mein rationales Ich wäre schon längst auf und davon, über alle Berge verschwunden. Ich wusste, ich würde etwas zu ihm sagen müssen, mich irgendwie herausreden… aber wie? Ein falsches Wort, und er könnte mich bestimmt umbringen, wenn er wollte. Plötzlich ein Gedankenblitz. Mia. Der Grund, warum er mich angesprochen hatte... oder war es nur ein Vorwand gewesen? Er hatte sie in seiner Geschichte noch gar nicht erwähnt. Meine Stimme klang heiser und krächzend, sogar, als ich flüsterte und ihn fragte: „Und was ist mit Mia passiert?“
Das einzige, das mir spontan eingefallen war. Shit. Aber seine Reaktion verwunderte mich. Als hätte ich ihn vor den Kopf gestoßen. Sein Grinsen gefror und ebbte langsam ab. Er bewegte sich zum ersten Mal seit einer gefühlten Stunde, und ich begann, ebenfalls entspannter zu werden. Jetzt saß er da wie vorhin, den Blick auf den Boden, die Arme locker verschränkt. Wieder ein normaler Mensch. Mir fiel erst jetzt auf, dass er einen Anzug trug. Um seine Lippen zuckte ein Lächeln.
„Was mit Mia ist. Natürlich. Ganz vergessen.“
Ich unterdrückte das Bedürfnis, vor Erleichterung laut loszulachen. Noch vor einer Sekunde hatte ich geglaubt, dass der Typ mir wirklich an den Kragen wollte.
„Mia.“
Er ließ sich den Namen auf der Zunge zergehen wie Eiskonfekt. „Mia. Mia.“ Er lachte. „Sicher. Der Grund, warum ich ihnen das alles erzählt habe. Ich habe mit Mia noch einiges zu klären, ich hab sie eine Weile schon nichts mehr von ihr gehört. Sie ist damals von zuhause abgehauen.“ Er leckte sich melancholisch die Lippen, die Augen verloren nach vorne gerichtet.
„Die Kleine hat den Mord ja gesehen.“
Er blickte mich schief grinsend von der Seite an.
„Und wissen Sie, Sie erinnern mich an sie. An Mia. Sie wissen schon.“
Ich verstand.
Ab da fehlt mir der größte Teil der Erinnerung dieses Abends. Ich weiß nur noch, dass ich meine Tasche gepackt habe, aufgesprungen bin und am nächsten Tag in meinem Bett aufwachte, mit dem Echo des Mannes, dessen Namen ich noch nicht einmal kannte, in den Ohren.
Sind Sie Mia?
Ich begann mir mit der Zeit einzureden, dass ich alles nur geträumt hatte. Obwohl ich mich noch genau an die Angst erinnern konnte, die ich empfunden hatte, fiel es mir schwer, das Gespräch als reales Ereignis in Erinnerung zu behalten. Wie in einem Traum eben; man erinnert sich daran, wie es passiert ist, aber man weiß nicht, ob es passiert ist. Ich vergaß ziemlich schnell. Es war im Sommer, vier Jahre später, als ich abends mit meinem Freund spazieren ging. Schon von weitem hatte ich das unheimliche Gefühl, die Gegend wiederzuerkennen. Als wir dann auf der Brücke standen, war ich mir sicher. Ich war schon einmal hier gewesen. Wir gingen ein Stück weiter. Und plötzlich hatte ich Gewissheit. Ich hatte damals nicht nur geträumt. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. Weiterzugehen. Ich wollte meinen Freund nicht wissen lassen, was damals hier vorgefallen ist. Ich drückte seine Hand fester, als wir an der Bank vorübergingen, auf der wir gesessen sind. Im Schatten der Bäume konnte ich erkennen, dass zwei Menschen darauf saßen. Ein Mann im Anzug mit dem Rücken zu mir und ein Mädchen, das meine Zwillingsschwester sein könnte. Ich wandte mich hektisch ab und ging weiter. Ich verstand nicht viel von dem, was sie redeten. Aber ich glaubte, den Namen Mia heraushören zu können. Weil mich mein Gewissen nicht in Ruhe ließ, beschloss ich widerwillig, der Sache auf den Grund zu gehen. Nochmal dorthin zurück wollte ich auf keinen Fall. Also hörte ich mich nach allen Männern in der Umgebung um, die zwei Töchter namens Annie und Mia hatten (in der Hoffnung, dass er die Wahrheit gesagt hatte). Und tatsächlich wurde ich fündig. Es existierte ein polizeilicher Bericht von ihm.

"Michael Brown, geboren am 6. August 1964, war verheiratet mit Lucy Brand und hatte mit ihr zwei Töchter, Anastacia und Mia. Als seine Tochter Anastacia krankheitsbedingt verstarb, entwendete er ihre Leiche aus dem Krankenhaus und behandelte sie so, als wäre sie noch lebendig. Seine Frau Lucy wusste davon, aber aus Angst vor ihm erzählte sie nie jemandem davon und unterstützte ihren Mann, wenn er sich um seine tote Tochter kümmerte. Ihrer  jüngeren Tochter Mia erzählte sie jedoch, dass Anastacia noch im Krankenhaus wäre, die ihrerseits gut unter Verschluss gehalten wurde. Um ihrem Mann wenigstens teilweise Einhalt zu gebieten, wies Lucy ihn darauf hin, dass sich Anastacia seit ihrem Aufentalt im Krankenhaus verändert habe, wörtlich "anders geworden sei". Michael stimmte ihr zu und begann, sich in diesen Gedanken hineinzusteigern. Lucy berichtet davon, dass Michael sich tagelang im Zimmer mit seiner Tochter eingeschlossen haben soll, in dieser Zeit alle Nahrung verweigerte und ihre "Veränderung" beklagt habe. Eines Tages kam Lucy nach Hause und fand ihren Mann, der trauernd vor dem Körper seiner toten Tochter saß. In ihrer Brust steckte ein Messer, und Michael beteuerte, dass er sie hätte töten müssen, weil "sie so anders als früher geworden war". Das hätte er nicht aushalten können.
Lucy geriet in Panik und wollte endlich Hilfe für ihren Mann holen. Sie konnte ihre Tochter Mia aber nicht finden und fragte ihn deshalb, ob er sie gesehen habe. Michael antwortete nur, dass diese den "Mord" an Anastacia gesehen habe und darauf geflohen sei. Er müsse sie aber finden, um zu verhindern, dass sie jemandem davon erzählt. In der Tat war Mia nicht mehr auffindbar, und Lucy holte aus Angst um Michael und Mia die Polizei.
Als die Polizei wenig später eintraf, wurde Lucy mit eingeschlagenem Schädel vor dem Telefon gefunden, Michael war unauffindbar. Es wird davon ausgegangen, dass er ihren Hilferuf mitbekommen und sie deswegen erschlagen hat."

Bis dahin ließ mich der Bericht erstaunlich kalt. Gut, die Geschichte war schrecklich, aber bei den ganzen Schauergeschichten, die ich mir über Michaels wahre Identität ausgemalt hatte, erschien mir die Theorie vom entlaufenen Irren noch relativ harmlos. Ich würde wohl die Polizei holen müssen. Plötzlich fiel mir auf, dass der Bericht noch eine zweite Seite hatte, deren Inhalt, zwei knappe Sätze, mich ziemlich in Erstaunen versetzten: Seine Tochter Mia wurde bis heute nicht gefunden, es ist unklar, ob sie noch lebt. Michaels Leiche wurde kurz darauf in einem Fluss gefunden, nachdem Zeugen beobachtet hatten, wie er von einer Brücke sprang."