Deutsches Creepypasta Wiki

Eine Begegnung im Trümmerfeld[]

Seine Stimme hallte laut und klar von den Wänden wider, obgleich er sie nicht sonderlich beanspruchte. Die Akustik innerhalb des Gemäuers empfand er als phänomenal, bekam zu diesem Zeitpunkt davon allerdings kaum mehr etwas mit. Zu sehr war er Gefangener der Musik, die in gemäßigter Lautstärke direkt auf seine Ohren wirkte, ihn anleitete, ihn befreite, ihn leben ließ.

Die Klänge entführten Vincent in eine gänzlich andere Welt, in eine, in der er nicht von den Sorgen seines tristen Lebens geplagt wurde, in eine, in der er schlicht er selbst sein dürfte. Es war bezeichnend, dass er das nur an einem Ort wie diesem vermochte. Hier, in einem vergessenen Teil der Gesellschaft, welcher völlig zerfallen und zurückgelassen, nur wenige Meter vom sprühenden Leben der Stadt lag.

Der junge Mann hatte sie schon vor langer Zeit für sich entdeckt. Auf einer seiner vielen Wanderungen durch die Nacht, in denen er wenigstens ansatzweise das Gefühl bekam, für sich zu sein, unbeobachtet und vor allem ungehört. Wenn die Stadt schlief und er sie als einer der wenigen im Wachzustand durchschritt, bekam er zumindest zum Teil die ersehnte Freiheit, die ihm sonst verwehrt blieb. Wahre Erlösung hatte er aber erst zusammen mit dieser Ruine entdeckt.

In welchem Glanz sie wohl einstmals erstrahlte? Eine Schule? Ein Krankenhaus? Es ließ sich nur schwer sagen. Eingestürztes Mauerwerk, eingeworfene und später mit Brettern zugenagelte Fenster sowie allgemeine Verwahrlosung, hatten alles zerfressen. Möglicherweise war es zu „Lebzeiten“ schon eine Bruchbude gewesen?

Mit ein wenig Recherche, ließe es sich vermutlich leicht herausfinden, doch daran hegte Vincent kein Interesse. Für ihn zählte allein der Jetzt-Zustand: Kaputt, so wie er sich innerlich fühlte.

Auch er galt als von der Öffentlichkeit vergessen, am Straßenrand zurück- und liegengelassen, als Ruine, der man keine Beachtung mehr schenkte. Doch das war okay. Er konnte damit leben, brauchte diese Gesellschaft ebenso wenig, wie sie ihn. Alles was er zur schieren Existenz benötigte, waren seine Musik und seine Stimme.

Mehr wie das reine Hören genoss er es, seine Musik auszuleben, indem er ihr seine eigenen Nuancen hinzufügte. Vincent mochte kein guter Sänger sein – es fiel ihm schwer, dass zu beurteilen, da er seine Stimme derart nie vor anderen erhob – doch einem war er sich gewiss: Er sang mit Leidenschaft. Diese Tatsache und dass es ihn jedes Mal aufs Neue befreite, waren alles, was es für ihn zu diesem Thema zu wissen galt.

Seit seiner Entdeckung kam er deswegen regelmäßig her, an diesen trostlosen, verlassenen, totenstillen Ort, an dem ihn niemand störte oder hörte, um allein für sich zu sein und seiner einzig wahren Liebe zu frönen.

Dafür begab er sich immer tief in die Eingeweide des Gebäudes, welches aus mehreren baufälligen Stockwerken bestand, die er weitgehend mied. Insbesondere nach oben hin, wurde der Boden immer unwegsamer und vor allem instabiler. Die Gefahr einzustürzen und schlimmstenfalls verschüttet zu werden, war ihm schlicht zu hoch. Abgesehen davon ging er damit das Risiko ein, dass die Luft seine Stimme weiter hinaustrug wie beabsichtigt.

Aus diesem Grund zog es ihn statt nach oben, eher hinab in das Kellergewölbe, welches stets kühl, dunkel und vor allem in vollkommener Stille da lag.

Der junge Mann empfand bei seinen abendlichen Abstiegen keine Angst. Es lauerte nichts in der Dunkelheit, was ihm mehr Schaden hätte zufügen können, als das, was außerhalb von ihr lag. Im Gegenteil, dort unten in der Finsternis fühlte er sich fast schon sicherer, als in der verrückten Außenwelt, die einen zurückgezogen lebenden Menschen wie ihn, mit Freude auffraß und halb zerkaut wieder ausspuckte.

Mittlerweile kannte er sich in dem labyrinthartigen Gebilde sogar so gut aus, dass er sich großräumig ohne Taschenlampe zurechtfand. Selbstredend hatte er zur Sicherheit trotzdem immer eine dabei, schon allein um den Boden zu seinen Füßen zu sehen, da allerlei Schutt verteilt lag, über den der Unvorsichtige leicht stolperte. Darauf sich Schürf- oder gar tiefere Schnittwunden zuzufügen, verzichtete Vincent gern.

Deswegen lag besagte Taschenlampe in diesem Moment zu seinen Füßen und beleuchtete einen Teil des Raumes, in dem er stand und von den Lasten des Tages lossagte. Innerhalb der Gesellschaft zu agieren und zu funktionieren war anstrengend, um nicht zu sagen unsagbar mühselig. Um eben jene Belastung abzuschütteln, kam er bei jeder sich bietenden Gelegenheit hier runter.

Vincent lauschte den ruhig einsetzenden Klängen des nächsten Liedes, wiegte langsam den Kopf auf und ab, stimmte sich ein. Die Augen hielt er geschlossen, indes die Melodie, die über seine Kopfhörer transportiert wurde, langsam Fahrt aufnahm. Gerade als der erste Ton angesungen wurde und er einsetzte, öffnete er die Augen und sah sie.

Eine Gestalt stand inmitten des Türrahmens, welcher durch den Lichtschein der Taschenlampe bestrahlt wurde.

Statt zu singen, schrie der junge Mann nur kurz auf, während er erschrocken zurück stolperte und fast rücklings im Dreck landete. Von seinem Laut aufgescheucht, wandte die Gestalt sich ab und rannte davon, hinein in die Dunkelheit zurück, aus der sie gekommen war.

Fassungslos starrte Vincent ihr hinterher. Sein Herz pumpte rasend schnell in seiner Brust, seine Atmung ging hektisch, nur langsam beruhigte er sich wieder. Er fuhr sich mit der flachen Hand übers Gesicht, fluchte leise vor sich her und ging leicht in die Knie, da er fast das Gefühl hatte ersticken zu müssen. Indes dröhnte die Musik weiterhin auf ihn ein, wovon er kaum etwas mitbekam.

Was war das?, fragte er sich. Ein junges Mädchen, lautete die offensichtliche Antwort. Wobei seine Sicherheit in dieser Angelegenheit schwankte.

Er hatte nur einen kurzen Blick auf sie erhascht. Auf ihre bleiche Haut, ihre langen schwarzen Haare, die ein dem Anschein nach junges Gesicht umrahmten, ihren schmächtigen Körper, welcher von nicht mehr als einem schlichten, weißen Kleidchen bedeckt wurde. Mit nackten Füßen hatte sie zitternd dagestanden und ihn aus ihren begeistert glänzenden Augen angesehen. Nun ... womöglich hatte er doch mehr von ihr gesehen, wie zuerst gedacht.

Oder ich reime mir da etwas zusammen. Ebenfalls möglich. Immerhin war der Schein seiner Taschenlampe von ihrer blassen Haut und mehr noch von dem blütenweißen Kleid reflektiert worden, was ihn ein wenig geblendet hatte. Mit Sicherheit ließ sich hier demnach gar nichts sagen.

Ich sollte hier verschwinden. Ein nachvollziehbarer, wenngleich moralisch fragwürdiger Gedanke. Klar, das Mädchen hatte ihm einen Riesenschreck eingejagt, doch konnte er jetzt allen Ernstes unverrichteter Dinge gehen, ohne sich wenigstens die Frage gestellt zu haben, was zum Teufel sie hier unten so leicht bekleidet zu suchen hatte?

Eine mögliche Antwort fiel ihm wie Schuppen von den Augen, verwarf sie aber sogleich wieder. Selbst wenn sie mit jemand anderes hierhergekommen wäre, um ein wenig ihrer trauten Zweisamkeit nachzugehen, wäre sie wohl kaum barfüßig durch den Schutt gewandert und hätte riskiert, sich die Fußsohlen blutig zu laufen. Nein, da steckte mehr hinter.

Schlimmstenfalls benötigte sie Hilfe und wer, wenn nicht er, sollte sie liefern?

„Du musst verrückt sein“, stellte Vincent murmelnd fest, während er sich nach seiner Taschenlampe bückte, um sie aufzuheben. Wenige Sekunden später befand er sich schon in dem langen Gang und marschierte in die Richtung, in die die Unbekannte gerannt war.

Das Kleidchen im Labyrinth suchen[]

„Hallo?“ Vincents Stimme hallte laut von den Wänden wider, was ihm einen gehörigen Schauer über den Rücken jagte. Immerhin hörte er sie jetzt, da er seine Kopfhörer nicht mehr trug und da sie neben seinen beständigen Schritten, der einzige erklingende Laut waren, stellte er erstmalig fest, wie unheimlich die drückende Stille hier unten doch zu sein vermochte. Vor allem da keine Erwiderung auf seine Frage folgte.

Der Lichtkegel seiner Taschenlampe huschte von links nach rechts, indes er immer weiterlief, durchleuchtete die Gänge vor ihm und die unzähligen Räume zu seinen Seiten, welche allesamt verwaist dalagen. Auf dem Boden fanden sich keinerlei Blutspuren, was entweder dafürsprach, dass die junge Frau sich bedacht bewegte oder er einer falschen Spur folgte. Insbesondere Letzteres würde erklären, warum sie ihm nicht antwortete.

Es sei denn, du hast sie dir nur eingebildet, dachte er stumm bei sich, was er aber für unwahrscheinlich hielt.

Dann war sie vielleicht ein Geist? Also bitte ... Es war nicht so, dass Vincent die Existenz des Übernatürlichen anzweifelte, doch wenn es hart auf hart kam, war er eher geneigt, für den Anfang auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben. Und Tatsache war nun mal, dass er ein Mädchen gesehen hatte, dass möglicherweise in Schwierigkeiten steckte.

Er war bestrebt, wenigstens sein Bestes getan zu haben, um sie zu finden und seine Hilfe anzubieten, ehe er sich davonmachte. Den kompletten Kellerkomplex abzusuchen kam einer Mammutaufgabe gleich, weswegen er sich nur vornahm, ihn einer groben Suche zu unterziehen, auf sich aufmerksam zu machen, indem er hin und wieder nach der Dame rief und erst, wenn er nach einer geraumen Zeit weiterhin nichts gefunden hatte, die Suche aufzugeben.

Natürlich hätte er genauso rausgehen und die Polizei verständigen können, doch wenn die dann hier eintraf und nichts fand, hätte er sich zum einen erklären müssen, was er mitten in der Nacht auf fremden Grundstücken zu suchen hatte – das Betreten des Gebäudes galt als streng untersagt – und käme sich zudem reichlich dämlich vor. Nein, eine grobe Erkundung musste genügen, um sein Gewissen zu beruhigen, vor allem weil ihm mit jedem Schritt, den er tiefer in das Gewölbe unternahm, kälter wurde.

Die Luft hier unten wurde langsam regelrecht beißend, die Stille immer drückender, die Dunkelheit finsterer ... Reiß dich gefälligst zusammen!, ermahnte Vincent sich selbst. Das waren nur seine Selbstzweifel, die an ihm zerrten. Allmählich wurde er doch ein wenig nervös, unsicher, vielleicht sogar ängstlich.

So tief war er bisher nie vorgedrungen und je weiter er kam, desto unwegsamer wurde es. Mehr und mehr Trümmer stapelten sich auf dem Boden zu seinen Füßen, die Luft wurde feuchter, wodurch die Kälte leichter in seine Knochen drang und ihn trotz verhältnismäßig dicker Kleidung frieren ließ. Wenn es ihm schon so erging, wie stand es dann erst um die Unbekannte?

Was tust du hier nur ...? Und wenn sie schon längst über alle Berge war? Einen ihm nicht bekannten Ausgang genommen hatte, während er sich zu Tode fror? Dann blieb immer noch die Frage, was sie hier überhaupt gesucht hatte ...

Und wenn sie doch nicht allein ist? Wenn sie hier unten gegen ihren Willen festgehalten wird, sich befreit hat und auf der Flucht ist? Dann machst du Idiot ihre Häscher im Zweifel noch auf dich aufmerksam!

Jetzt bekam er es wirklich mit der Angst zu tun. Das war zumindest eine deutlich plausiblere Erklärung als Geister oder Einbildungen. Vielleicht sollte ich doch die Polizei verständigen ...

Augenblicklich blieb er stehen, ließ seine Gedanken kreisen, während er gleichzeitig seine überstrapazierten Nerven zu beruhigen versuchte. Er fasste einen Entschluss.

Er musste hier weg. Es brachte nichts, seine Angst obsiegte. Er würde, sobald er rauskam, den Notruf betätigen – innerhalb des Kellergewölbes hatte er keinen Empfang – und dann spontan entscheiden, ob er blieb oder vor dem Eintreffen der Behörden davonzog, um potenziellem Ärger aus dem Weg zu gehen. Darum konnte er sich in jedem Fall später kümmern, als wichtiger galt es erst einmal, diesen düsteren Ort zu verlassen.

Mit gefestigtem Willen setzt Vincent dazu an, sich umzudrehen. Just in diesem Moment, vernahm er etwas leise Trippelndes hinter sich. Es klang, als würde jemand mit kurzen, aber schnellen und kontrollierten Schritten näherkommen.

Dem jungen Mann gefror das Blut in den Adern. „H-hallo?“, fragte er kaum vernehmbar, indes er sich unendlich langsam umdrehte. Der Lichtschein erreichte sie, als sie nur wenige Meter von ihm entfernt war. Mit weit aufgerissenem Mund und schreckgeweiteten Augen rannte sie auf ihn zu, wobei sie mit ihren kurzen Schritten versuchte möglichst allen spitzen und scharfkantigen Schutt zu vermeiden. Kein Ton kam über ihre Lippen.

Dafür schrie Vincent umso lauter. Vor Schreck und mehr, weil er mitten in der Drehung auf etwas Glitschigem ausrutschte und das Gleichgewicht verlor. Er sah noch, wie das Mädchen ihn fast erreichte, ehe er nach hinten hin wegkippte, mit dem Kopf hart aufschlug und schlagartig das Bewusstsein verlor.

Blitze der Pein[]

Vincents folgende Erinnerungen waren verschwommen und unklar. Er wusste noch, wie er mit dröhnendem Schädel und schlierigem Blick erwachte. Von völliger Dunkelheit war er umgeben, Kälte kroch seine Knochen unnachgiebig empor, er zitterte, hatte Schmerzen und furchtbare Angst.

Orientierungslos hatte er nach seiner Taschenlampe getastet, von der er ahnte, dass sie irgendwo in seiner näheren Umgebung lag. Blindlings herumtastend hatte er sie gefunden, nachdem er sich mehrfach an kleinen Glassplittern oder scharfkantigen Trümmerteilen verletzt hatte. Die Mühe sollte es nicht wert sein, da das Gerät sich nach mehrmaligem Betätigen nicht mehr einschalten ließ. Die Batterie musste sich, während seiner Bewusstlosigkeit erschöpft haben.

Somit war ihm nur geblieben, sein Handy hervorzuholen und sich mit dem Bildschirmlicht zurechtzufinden. Zwar besaß der kleine Computer eine Taschenlampenfunktion, doch hatte er es schnell aufgegeben nach dieser zu suchen, da seine Sicht so schlierig und verschwommen war, dass er kaum etwas auf dem Display erkannte.

Taumelnd war er durch die Gänge geschlendert, hatte sich an den Wänden entlang bewegt, indes seine Beine immer wieder weggeknickt waren. Ihm war schummrig gewesen, Übelkeit hatte sich breitgemacht, ein Schwindelanfall jagte den nächsten. Er hatte keine Ahnung gehabt, wo er hinmusste, ob jemand hinter ihm her war oder ob er hier jemals wieder herauskommen würde. Die ganze Zeit über hatte er gespürt, wie ihm etwas warm den Rücken herablief. Blut. Seinen Kopf hatte er sich wohl mächtig angeschlagen.

Und dann war geschehen, was unweigerlich hatte geschehen müssen.

An irgendeiner Stelle war er zum wiederholten Mal in einen Türrahmen gefallen, den er, sich an der Wand entlangschleppend, zu spät bemerkte. Sich Sekunden später wieder aufrichten, wurde ihm dieses Mal jedoch verwehrt. Statt wie zuvor, auf dem Boden aufzuschlagen, fiel er weiter – denn da war kein fester Untergrund, der seinen Fall stoppte. Zumindest nicht sofort.


Die erste klare Erinnerung, seit seinem Schädeltrauma, war nicht der Schmerz des Aufpralls, sondern das Knacken. Wie das Brechen eines Astes, nur dass sich dieses markerschütternde Geräusch in seinen Verstand fräste und seine Übelkeit um ein Vielfaches steigerte.

Der Blitz von einem Schmerz folgte auf dem Fuße, zog sein Bein hinauf und breitete sich scheinbar in seinem gesamten Körper aus. Vincent hätte gern geschrien, aber da seine Bruchlandung ihm gleichzeitig die Luft aus den Lungen getrieben hatte, galt es erst einmal unter Krämpfen einzuatmen, wobei er für den Bruchteil einer Sekunde das Gefühl hatte, zu ersticken.

Dann schrie er seine Qualen hinaus, wenngleich nicht für lange, da das Volumen seiner Atemorgane gleich wieder nach Nachschub verlangte. Danach wimmerte er nur noch leise vor sich hin, versuchte, sich möglichst wenig zu bewegen, während er gleichzeitig analysierte, woher die Wellen der Pein rührten. Vergeblich, wie er wenig später feststellte, da ihm alles schmerzte: Sein Kopf, seine Rippen und allen voran sein rechtes Bein, mit dem er zuerst aufgekommen war.

Nachdem er glaubte, das Schlimmste überstanden zu haben, und sich in seinem Kopf wieder halbwegs klare Gedanken manifestierten, unternahm er einen Versuch sich zu drehen, da er in diesem Augenblick noch auf dem Bauch lag und nur schwerlich Luft bekam. Die leiseste Bewegung jagte jedoch erneut Blitze sein Bein hinauf, was ihm Tränen in die Augen trieb und wimmern ließ.

„Scheiße!“, fluchte er leise. „Gottverdammte Scheiße!“, schrie er seine Verzweiflung hinaus, ehe ein weiterer Schmerzensschrei folgte, weil er sich dabei schon wieder zu viel bewegte.

Okay, okay. Beruhigen. Atmen. Er tat es. Atmete möglichst beständig ein und aus, beruhigte seinen Herzschlag und dann, ohne zu zögern, stieß er sich mit einer einzigen kräftigen Bewegung hoch, zur Seite und auf den Rücken. Die Schmerzen waren unerträglich, er krümmte und windete sich auf dem Boden, bis sie wieder einigermaßen nachließen, was nur durch weiteres, konstantes Atmen ermöglicht wurde.

Immerhin ein Gutes hatte das Ganze: Seine Schwindelanfälle hatten fast gänzlich nachgelassen und seine Gedanken waren so klar und präzise wie nie.

So, eins nach dem anderen. Erst einmal: Lage analysieren. Auf dem Rücken liegend, was sich als nicht unbedingt bequem herausstellte, da jede Menge Schutt in seine Schulterblätter drückte, sondierte er mit langsamen, bedachten Bewegungen seine umliegende Umgebung, indem er den Boden mit den Händen abtastete. Zu seiner Linken fand er zu seiner Erleichterung schon bald, was er gesucht hatte: sein Mobiltelefon.

Nach kurzer Betätigung erstrahlte dessen Bildschirm, wie er überrascht feststellte. Zwar hatte das Display einige Risse abbekommen, doch scheinbar funktionierte es einwandfrei. Verrückt, welch Stürze diese Dinger manchmal aushielten, während ein noch so winziger Stoß schon reichte, sie komplett zu zerstören.

Jetzt, da Vincent wieder etwas klarer sah, fand er auch die Taschenlampenfunktion, die er nunmehr betätigte. Wenige Sekunden später wünschte er sich, es nicht getan zu haben.

Drei Meter über ihm lag das, was der Boden des oberen Stockwerkes hätte sein müssen. Stattdessen befand sich dort ein Loch, welches Einblick auf die Decke sechs Meter über ihm gewährte. Es war das erste Mal, dass er bemerkte, dass das Kellergewölbe zwei Stockwerke tief reichte.

Somit lag der junge Mann auf den Überresten des Bodens des ersten Kellergeschosses, welcher eingestürzt war und, wie er nun ebenfalls feststellte, dass zudem so ungünstig, dass er direkt vor dem einzigen Ausgang aus diesem Raum gelandet war und diesen weitflächig verdeckte. Nur ein winziger Spalt war hinter einer riesigen, massiven Stahlbetonplatte auszumachen, welche wegzubewegen er nicht fähig war.

Vincent wurde jetzt schon eine Wahrheit bewusst, die er lieber verdrängte. Noch gab er nicht auf. Noch hegte er Hoffnung, lebend hier rauszukommen.

Was uns zum nächsten Schritt bringt, dachte er schwer ausatmend. Aufrichten. Körperliche Schäden begutachten. Allein der erste Teil dieses Plans löste höllische Angst in ihm aus, weil er unbeschreibliche Schmerzen beinhaltete. Aber es brachte ja alles nichts ...

Er legte das Handy vorsichtig neben sich. Bevor er jedoch loslegte, schloss er ein letztes Mal kurz die Augen, ging in sich, stellte sicher, dass er so konzentriert wie möglich vorgehen würde, und machte sich erst dann für das bereit, was folgen würde.

Er öffnete die Augen wieder, atmete noch ein paar Mal tief durch und hievte erst dann mit einem Ruck seinen Oberkörper hoch. Dabei schrien seine Rippen laut auf, was gar nichts war, verglichen mit dem Kreischen seines Beins, welches nur minimal verschoben wurde. Er meinte regelrecht zu hören, wie Knochen übereinander schabten.

Zischend entließ er die Luft aus seinen Lungen, griff nach seinem Handy und betrachtete unter dessen Schein den Schaden. Verdammt, dachte er überraschend gelassen.

Sein rechtes Bein war ein Trümmerfeld. Es blutete stark, was daran lag, dass die Hälfte seines Schienbeinknochens abgesplittert daraus hervorlugte und ihm entgegen starrte. In einem unnatürlichen Winkel stand es ab, was ihm ein wenig mulmig in der Magengegend werden ließ. Er nahm sich irgendwie zusammen, da ein Hoch-Würgen seines Mittagessens die Schmerzen nur intensivieren würde.

Er schluckte schwer, da er wusste, was zu tun galt, wenn er überleben und nicht verbluten wollte.

Du schaffst das. Seltsamerweise blieb er trotz seiner extremen Lage fokussiert und verfiel nicht in Panik. Das war gut, denn andernfalls hätte er keine Chance.

Möglichst langsam und weiterhin bedacht machte Vincent sich daran, erst seine Jacke und dann den darunterliegenden Pullover auszuziehen. Bei der Kälte hier unten, würde er beides benötigen, weswegen er die Sachen neben sich legte und dann das T-Shirt auszog, dass er darunter trug. Da er jämmerlich fror, zog er sich erst einmal wieder an, wobei er das zuletzt ausgezogene Kleidungsstück liegen ließ.

Erst jetzt nahm er das dünne Stück wieder in die Hände, packte es am unteren Saum und zog so kräftig daran, wie es ihm nur möglich war. Zu seiner Verwunderung ließ sich das Material spielendleicht zerreißen. Entweder wirkte noch das Adrenalin in seinem Körper, oder der Stoff war einfach billig – er hielt Letzteres für wahrscheinlicher. So wiederholte er das Prozedere ein paar Mal, bis er einige Streifen geschaffen hatte, welche er fein säuberlich neben sich ausbreitete. Jetzt kam der schwere Teil.

Ohne zu zögern, weil ihm dazu womöglich die Zeit fehlte, nahm Vincent den ersten Streifen. Erst dann bemerkte er den Fehler in seinem Plan. Wie sollte er sein Bein umwickeln, wenn es flach auf dem Boden lag. Er würde es vorher anwinkeln müssen.

O Gott, das wird scheiße weh tun ... Und das tat es.

Unter heftigen Schmerzen, mit jeder Menge Gezische und unterdrückten Schreien, schaffte er es, sein zerschmettertes Bein wenigstens so weit anzuwinkeln, dass er darunter kam. Einmal angefangen, gönnte er sich keine Pause, sondern fuhr mit den Stofffetzen fort. Er legte ihn von unten an, wickelte ihn einmal leicht um das Bein, nahm dann beide Enden und zog sie fest zusammen.

Die Blitze explodierten förmlich in seinem Unterschenkel, während der Knochen in die rechte Position zurückgeschoben wurde. Gleichwohl strömte sein Körper jedoch genug Adrenalin aus, dass eine gewisse Betäubung einsetzte. Er nutzte diese Gelegenheit. Wer rastet, der verblutet.

Das Ergebnis wirkte zwar alles andere als fachmännisch, aber so weit es seine Beurteilung zuließ, war sich Vincent halbwegs sicher, dass die Blutung gestoppt hatte. Dafür fühlte der junge Mann sich jetzt völlig erledigt. Erschöpft sank er nach hinten, ignorierte das spitze Geröll in seinem Rücken und dämmerte weg.

Der Fund[]

Vincent wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als er das nächste Mal erwachte. Minuten? Stunden? Egal.

Das Erste was ihm klar wurde, war, dass er schleunigst einen Ausweg finden musste. Bewusst wurde ihm dies, weil er zum einen schon wieder erbärmlich fror – der Blutverlust trug seinen Teil dazu bei – und zum anderen, weil seine Kehle sich völlig ausgetrocknet anfühlte. Wie lange war ein Mensch fähig ohne Wasser zu überleben? Drei Tage? Eine Woche? Länger garantiert nicht.

Sein Blick huschte zu der Tür, welche drei Meter über ihm lag. Unmöglich, dass er diese ohne Hilfe und mit seinem kaputten Bein erreichte und die andere würde er nicht im Alleingang freilegen. Was blieb ihm also?

Nichts. Wurde es ihm bitter bewusst. Wenn nicht gerade jemand zufällig hier entlang kam und ihn fand, würde er hier nie wieder rauskommen. Eine simple und grausame Wahrheit, die ihn seltsamerweise nur bedingt beunruhigte. Vermutlich war er zu angeschlagen, als dass diese Information sein Angstzentrum erreichte.

Etwas anderes fiel ihm auf, eigentlich waren es sogar zwei Dinge. Da wäre zum Beispiel die Sache mit seinem Handy. Vor seiner neuerlichen Ohnmacht hatte er vergessen, die Lampe auszuschalten. Wie er nun feststellte, hatte er es damit umgebracht. Der Akku war leer. Nicht weiter tragisch, da seine Augen sich mittlerweile zumindest halbwegs an die Dunkelheit gewöhnt hatten und ansatzweise Konturen seiner Umgebung ausmachten.

Als zweites wurde ihm der Grund wieder gewahr, der ihn überhaupt erst in diese missliche Lage gebracht hatte: das Mädchen.

Was war mit ihr geschehen? War sie noch hier? Wanderte sie weiter durch diese Gänge? Konnte sie ihm helfen? Witzig. Da hatte er ihr helfen wollen und war nun selbst auf sie angewiesen. In all der Zeit, in der er schon zu diesem verwaisten Gebäude kam, hatte er nie eine andere Menschenseele erblickt, bis auf heute. Was bedeutete, dass das Mädchen vermutlich tatsächlich seine einzige und letzte Hoffnung darstellte.

Soll ich nach ihr rufen? Das könnte er, stellte sich aber gleichzeitig die Frage, wie lang er das durchhalten würde. Sein Hals war jetzt schon ausgetrocknet, wie sollte es dann sein, wenn er erst einmal stundenlang vergeblich vor sich hin krakelte? Wenn er dazu überging, musste er sich seine Kräfte weise einteilen.

Wenn. Schließlich blieb da immer noch die Frage, warum die junge Frau überhaupt des Nachts, nur in einem weißen Kleid bekleidet durch eine alte Ruine wanderte. Wenn sie tatsächlich jemand hier festgehalten hatte und jetzt Vincent entdeckte, wie wahrscheinlich war es da, dass sie ihm helfen würde?

Nein, auf fremde Unterstützung zu hoffen, ließ sich nicht als beste Idee einstufen. Oder besser gesagt, es war der letzte Ausweg. Also Hilfe zur Selbsthilfe. Nur, dass er keine Ahnung hatte, wie.

Muss mich umsehen. Ja, aber das erforderte sich erst einmal wieder aufzurichten ... Tief durchatmen und los. Überraschenderweise verlief es dieses Mal deutlich leichter. Sein Bein schmerzte zwar noch immer, doch so langsam lernte er, damit umzugehen. Selbst der Zustand seines Kopfes hatte sich gebessert. Na ja, er wummerte zumindest nicht mehr, ein dumpfes Pochen im Hintergrund blieb trotzdem.

In seiner aufgerichteten Lage warf Vincent einen Blick durch den Raum. Viel zu sehen gab es außer jeder Menge Schutt nicht. Vielleicht, wenn er genug tragbare Stücke davon zusammennahm ... Bilder schossen ihm durch den Kopf, wie er sich einen kleinen Berg auftürmte, daran rauf kletterte, nur um im letzten Augenblick den Halt zu verlieren und unter Gestein begraben zu werden. Keine äußerst verlockende Vorstellung, doch daraus wurde eh nichts, da die meisten Stücke zu groß und schwer waren, um überhaupt bewegt zu werden.

Tja und mehr fand er nicht vor. So viel zu dem Th- Er stockte mitten in seinem eigenen Gedanken, was war das?

In der hintersten Ecke des Raumes lockte eine Abweichung seine Aufmerksamkeit auf sich. Etwas hob sich dort farblich leicht, vom restlichen Untergrund ab, wirkte heller. Obschon Vincent nicht glaubte, dass es ihm in irgendeinerweise helfen würde, musste er doch wenigstens wissen, worum es sich dabei handelte.

Einmal den Entschluss gefasst, hielt ihn nichts mehr davon ab. Er stemmte seine Hände in den Boden und drehte sich unter reichlich Schmerz so, dass sein Rücken in Richtung des unbekannten Gegenstands wies. Dann kroch er mit selbiger Bewegung, rücklings darauf zu, indem er immer erst seine Hände ein paar Zentimeter hinter sich abstützte und sich dann zurückzog. Damit belastete er sein Bein möglichst wenig und musste sich nicht erst auf den Bauch legen, um voranzukriechen, kam dafür aber auch nur langsam unter kräftezehrend voran.

Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte er die Ecke endlich, doch bevor er den hellen Fleck begutachten konnte, ertasteten seine Hände etwas, dass ihm einen eisigen Schauer über den gesamten Körper jagte.

Instinktiv wusste er, worum es sich bei dem Gegenstand handelte, den er, da erfühlte und als er sich danach umdrehte, erkannte er auch endlich, was es mit der hellen Stelle auf sich hatte.

Verdammt ... „Verdammt ... Verdammt!“ Erst dachte er das Wort nur, dann flüsterte er es und schließlich schrie er es hinaus. Jetzt war es eh egal, denn nun hatte er Gewissheit, dass ihn niemand hören würde.

Es war das Kleid. Das Kleid, einst blütenweiß, doch mittlerweile fast vollständig zerfallen und vor Dreck nur so starrend. Unter diesem Fetzen Stoff ruhten die Knochen eines Menschen, bei dem es sich mit ziemlicher Sicherheit einst um ein junges Mädchen gehandelt hatte. Wie lange sie hier wohl schon lag?

Als ob das noch eine Rolle spielt ..., dachte Vincent lethargisch.

Mit einem Mal war jeglicher Überlebenswille aus ihm gewichen. Der Grund für seine missliche Lage, er war schon vor Jahren gestorben. Nichts als eine Erscheinung hatte ihn in diese Todesfalle gelockt und nun würde er selbst hier unten verenden. Einsam, verlassen, von der Außenwelt vergessen.

Mit leer dreinblickenden Augen sank er direkt neben der, schon lange verfaulten Leiche des Mädchens in sich zusammen und wartete in die Dunkelheit starrend, auf das unausweichliche Ende.

Ein letztes Lied[]

Die folgenden Stunden und Tage erlebte der junge Mann nur episodenhaft. Immer wieder erwachte er aus seiner Trance, dämmerte stetig zwischen Schlaf und Wachsein, während sein Körper immer schwächer wurde.

Einmal unternahm er tatsächlich einen Versuch zu entkommen. Ein letztes Mal war ein Funken des Lebens in ihm aufgeblüht. Er hatte sich aufgerichtet, war zu der Wand gekrochen, die die untere Tür bedeckte, hatte sich daran hochgezogen und war so aufgestanden. Auf einem Bein stehend hatte er nach einer Möglichkeit gesucht, die obere Ebene zu erreichen, jedoch schnell eingesehen, dass es diese nicht gab. Da lag eine fast blanke Oberfläche vor ihm. Und selbst wenn, wie hätte er daran hochklettern sollen? Er konnte ja kaum stehen, geschweige denn Laufen oder gar Klettern.

Also hatte er sich wieder zurück zu dem Leichnam des Mädchens begeben und die Augen geschlossen.

Dort sitzend schossen ihm so manche Gedanken durch den Kopf. Er fragte sich, was mit ihr geschehen war, was sie hierhergetrieben hatte, in dieses Loch, in dem auch er bald verrotten würde.

Er kam zu der Überzeugung, dass seine Überlegungen gar nicht so weit hergeholt waren. Man hatte sie entführt und hierher verschleppt, damit jemand unaussprechliche Dinge mit ihr hatte tun können. Allein, im Verborgenen, unbemerkt von der Außenwelt. Nach verrichteter Tat hatte er sie dann hierhergeführt, hinabgestoßen und zum Sterben zurückgelassen. Vielleicht hatte er sie vorher schon getötet, aber irgendwie glaubte Vincent dass nicht. Ein Monster wie dieses hatte sicher seine Freude daran, sein Opfer möglichst lange zu quälen.

Und die Erscheinung? Hatte es sich bei ihr wirklich um einen Geist gehandelt? War die zweite Begegnung eine Szene aus der Vergangenheit gewesen? Hatte sie sich loslösen und wegrennen können? Möglich. Wenn, dann war sie nicht weit gekommen ...

Armes Mädchen ... Hatte Vincent noch gedacht, ehe er wieder weggedämmert war.

Mit der Zeit wurde er immer müder, immer schwächer, immer durstiger. Seine Kehle war nicht länger nur trocken, sie glich einer Wüste. Ihn plagten Kopfschmerzen, seine Sinne spielten völlig verrückt, er halluzinierte.

Im Delirium wurde ihm irgendwann bewusst, dass er den wichtigsten Gegenstand noch immer bei sich trug. In seiner Hosentasche steckte sein MP3-Player.

Im Gegensatz zu den meisten Menschen heutzutage hörte er seine Musik nicht über das Handy, weil er möglichst wenig damit zu tun haben wollte. Es stellte zwar eine Notwendigkeit dar, doch gleichzeitig galt es für ihn auch als eines von vielen Symboliken der verkommenden Gesellschaft, zu der sie sich entwickelt hatte. Nicht, dass das jetzt noch eine Rolle spielte.

Wichtiger war es, dass das kleine Gerät, dass ihm alles gab, was er je gebraucht hatte, weiterhin funktionierte. Noch so eine Sache: Den MP3-Player empfand er als deutlich zuverlässiger – schwerer zu beschädigen und längere Akkulaufzeit.

Mit zittrigen Fingern nahm er die Kopfhörer und führte sie zu seinen Ohren, scheiterte jedoch bei dem Versuch sie einzuführen. Ständig verfehlte er seine Gehörkanäle, rutschte daran vorbei und spürte, wie er indes immer schwächer wurde. Das soll doch wohl ein schlechter Scherz sein ..., dachte er müde. Sollte ihm am Ende selbst dies verwehrt werden?

Da griffen zwei schmale Hände sanft die seinen und halfen ihm dabei, die Kopfhörer dahin zu führen, wo sie hingehörten. Wenige Sekunden später schaltete sich die Musik von allein ein. „Danke“, murmelte Vincent kaum verständlich, ehe er unter wohligen Klängen einschlief.

Einige Stunden später erwachte er noch einmal. Ausgeruht, zumindest ein bisschen und besser bei Sinnen, als die vielen Stunden – oder Tage? – zuvor, wenngleich weit entfernt von aufmerksam oder klar bei Verstand.

Sie saß direkt vor ihm, das Mädchen. Hockte einfach dort, mitten im Dreck, mit ihrem lupenreinen Kleid und ihrer wunderschönen, blassen Haut. Sie lächelte ihm schwach entgegen, als sie mitbekam, dass er erwachte.

„W-w-wa ... was ...“ Er brachte es nicht fertig, seine Frage zu vollenden. Sein Hals war völlig zugeschnürt, kratzig, trocken, als hätte jemand einen Eimer Sand hineingeschüttet.

Sie schüttelte sanft den Kopf. Nicht sprechen.

Er nickte knapp. Beschloss, sie nur anzusehen, bis er wieder einnickte, indes die Musik ihn weiterhin einlullte. Sein Blick wurde bereits schummrig.

Das Mädchen legte den Kopf schief, ihr Blick wurde sorgenvoll. Sie richtete sich auf und krabbelte auf allen vieren etwas näher auf Vincent zu, ohne dass ihr Kleid dabei nur im Entferntesten schmutzig wurde. Als sie direkt vor ihm hockte, führt sie eine Hand an ihr Ohr und tippte mit dem Finger darauf, dann führte sie selbige Hand zu ihrem Mund und deutete mit einer Geste an, dass sie sang, ehe sie auf ihn wies.

Was sollte das bedeuten? Singen? Ich? Unmöglich. Er schüttelte den Kopf.

Doch das akzeptierte sie nicht. Sie nickte drängend, mit flehentlichem Blick, bevor sie die Geste wiederholte.

Wollte sie es etwa so dringend? Vincent erinnerte sich an ihre erste Begegnung, an den Glanz in ihren Augen. Konnte es sein, dass sie Gefallen an seinem Gesang gefunden hatte? Wie lange lauschte sie ihm schon? Wie lange hatte sie sich im Verborgenen gehalten und immerzu darauf gewartet, dass er wiederkam, sich gefragt, ob er wiederkam.

Vielleicht kann ich ihr doch noch helfen. Ein letztes Mal zumindest. Auch wenn er nicht wusste, wie er seine Stimme reaktivieren sollte, wollte er alles daransetzen, dem Mädchen noch ein einziges Mal diesen Gefallen zu erweisen.

Vincent schloss die Augen, besann sich auf das Lied, dass zufällig gerade erst einsetzte. Es war völlig egal, um welches Stück es sich dabei handelte, er kannte sie allesamt auswendig. Er ließ seine Seele von den Klängen berühren, ließ sich leiten, sich befreien, ließ zu, dass die Musik ihn ein letztes Mal belebte.

Dann kam der Gesang. Er stimmte mit ein, so gut es ihm möglich war. Vielmehr als ein Krächzen brachte er jedoch nicht zustande, maximal ein leises Flüstern. Und dennoch, als er die Augen öffnete, sah er ihn wieder, den Glanz, die Begeisterung.

Es ging nicht darum, wie gut er sang, sondern einzig um die Leidenschaft dahinter. Es freute ihn so unendlich, dass er gehört wurde und zusätzlich jemandem damit half. Eine nie zuvor gefühlte Wärme umschloss sein Herz. Sie erfüllte ihn mit Zufriedenheit, mit Glückseligkeit.

Das Mädchen rückte ein wenig näher, legte ihren Kopf auf seinen Schoß und lauschte weiter seinem Gesang. Eine einzelne Träne rann seine Wange hinab, während er langsam immer leiser wurde und dahinschied.