Deutsches Creepypasta Wiki

Die Hand einer Tochter[]

Peter stand mit schnell pochendem Herzen vor der Haustür. Allein die Vorstellung, anzuklopfen und sich dem zu stellen, was ihn auf der anderen Seite erwartete, ließ ihn verkrampfen. Doch er hatte keine Wahl. Wenn der Plan für seine Zukunft aufgehen sollte, musste er das Folgende durchziehen und seinen Mann stehen.

Von neuem Mut – oder einem Gefühl, das dem am nächsten kam: naiver Hoffnung – gepackt, hob er die Hand und betätigte die Klingel, neben der Tür. Ein helles, rhythmisches Läuten erklang, schien von allen Wänden des Inneren wider und in sämtliche Richtungen der Gärten ringsum zu hallen, um die gesamte Nachbarschaft auf das Spektakel aufmerksam zu machen, dass sich jeden Moment ereignen würde. Peter schluckte. Kurz darauf wurde die Tür aufgerissen und er sah sich seinem wahrgewordenen Albtraum entgegen: dem Vater seiner Freundin.

William Keen war ein großgewachsener, breitschultriger Mann, mit eisenharten Gesichtszügen und stählernen Augen. Seine stets ernste Miene in Kombination mit der tiefen Stimme ergaben zusammen mit seinem wachsamen Blick und der gewaltigen Statur, den Inbegriff von Autorität. Dem nicht genug, hatte der Veteran im Ruhestand zudem eine festgefahrene Meinung vom Schwarm seiner Tochter, die gelinde gesagt, alles andere als positiv ausfiel.

Peter, das schmale Hemd, der es nie zu etwas bringen würde. Der seine Nase lieber in Bücher steckte, statt sich mit dem „Ernst des Lebens“ auseinanderzusetzen, der sich in fiktive Realitäten stürzte, sich treiben ließ ... Das allein wären genug Gründe, damit William in ihm weniger Wert sah, als in dem Dreck unter seinen Stiefeln, doch die Tatsache, dass er zu allem Überfluss mit seiner Tochter ging, gaben ihm den Zündstoff, um eine ungesunde Portion blanken Hass drauf zu schippen.

Um das Fass zum Überlaufen zu bringen, hatte Peter es vor Kurzem gewagt, um die Hand von Williams wohlgehüteten Schatz anzuhalten.

Drei wunderbare Jahre verbanden die beiden nunmehr und sie waren bereit, den nächsten Schritt zu vollziehen. Wäre da nicht das wachsame Auge des Vaters, der sich nicht gewillt zeigte, die junge Frau aus seinem Schutzschirm, hinter dem er sich schwer bewaffnet verbarrikadierte, zu entlassen. Schon gar nicht, wenn auf der anderen Seite ein selig lächelnder Typ wie Peter wartete.

Es wurde Zeit, einen Schlussstrich zu ziehen. Der Verlobte in spe hatte es sich fest vorgenommen, dem Alten die Meinung zu geigen und sich mit seiner Geliebten davonzumachen; ob nun mit, oder ohne Segen.

So oder so ähnlich hatte er sich das zumindest den ganzen Tag über ausgemalt. Wie er jetzt aber vor dem Schrank von Mann stand, welcher abschätzig auf ihn herabblickte, war er sich seiner Sache nicht mehr so sicher.

„Peter“, begrüßte William ihn knurrend. „Lange nicht gesehen.“

Der Angesprochene schluckte schwer und verfluchte sich innerlich für seine Feigheit. „Hallo Mr. Keen.“

William lachte trocken auf. Es klang, als reibe jemand verrostete Rohre aneinander. „Mr. Keen ... Mein Gott Junge, wenn du meine Tochter ehelichen willst, solltest du dich an den Gedanken gewöhnen mich Paps zu nennen.“

Eine Imagination, die ihn schaudern ließ. Andererseits waren das ungewohnt freundliche Worte aus seinem Mund. Nun, womöglich war freundlich nicht der passendste Ausdruck, aber wenigstens versuchte William ihn nicht direkt zum Teufel zu jagen, wie er es sonst zu tun pflegte.

„Ich ...“ Peter verstummte, sammelte sich einen Moment und fing etwas selbstsicherer – wahrlich nur ein wenig – noch mal von vorn an. „Ich wollte mit Ihnen reden, Mr. Keen.“

Der Andere mimte wieder die Ernsthaftigkeit in Person und nickte. „Zufälligerweise beruht das auf Gegenseitigkeit.“

Ach?, dachte Peter erstaunt, wobei er bestrebt war, sich seine Überraschung, um nicht zu sagen, den tiefgreifenden Schock, nicht anmerken zu lassen. Sein potenzieller Schwiegervater musste ihn nicht für eine noch größere Nullnummer halten, als er es ohnehin schon tat.

„Wenn du gestattest“, fuhr der ehemalige Soldat fort, „würde ich gern den Anfang machen.“ Er räusperte sich kurz und strich sich daraufhin über das stoppelige Kinn, was den Eindruck erweckte, er müsste sich seine folgenden Worte erst zurechtlegen. Ein untypisches Verhalten, welches sein Gegenüber zusehends nervöser werden ließ.

„Als ihr zwei letztens zu mir kamt, du und Sindy, um mir von euren gemeinsamen Plänen zu berichten da ... habe ich vielleicht ein wenig überreagiert.“

Die Untertreibung des Jahres, schoss es Peter durch den Sinn. Er hatte getobt, förmlich gerast vor Wut, war in seinem Anfall und dem Gebrüll so rot angelaufen, dass der junge Mann schon gefürchtet hatte, sein Gegenüber würde jeden Augenblick explodieren oder – was wahrscheinlicher schien – ihn mit bloßen Händen dafür totschlagen, seine Tochter auf solch absurde Ideen gebracht zu haben.

Aber die Erinnerung an jenen Abend verblasste im Angesicht der Worte, die langsam in sein Bewusstsein sickerten. War William etwa drauf und dran sich zu entschuldigen?!

„Aus diesem Grund wollte ich mich bei dir entschuldigen und hoffe, dass du mir verzeihen kannst.“

Peter klappte der Unterkiefer herunter. Er war sich der Tatsache nur allzu gewahr, wie bescheuert er dabei aussehen musste, und vermochte doch nichts dagegen zu unternehmen, versetzten ihn diese Worte doch in einen Zustand der Perplexität, der er so schnell nicht entkam.

„Nun schau mich nicht so an Junge“, brummte William, dem das Ganze offenkundig unangenehm war. Eine Gefühlsregung, von der Peter nicht geglaubt hatte, dass er zu dieser überhaupt fähig wäre. Abgesehen davon, dass er ohnehin die Meinung vertrat, dass in Williams Brust ein regloser Steinklotz ruhte.

„Ich weiß“, fuhr er fort, „ich war in der Vergangenheit nicht immer nett zu dir.“ Er räusperte sich erneut. Verlegen, wie sein Zuhörer jetzt erkannte. „Um genau zu sein, war ich ein ziemlicher Arsch. Wenn es um meine Tochter geht, werde ich schnell ein wenig ... ungehalten. Was mein Verhalten in keiner Weise rechtfertigt. Sindy und du, ihr seid nun schon so lange zusammen und nun ja ... sie scheint glücklich zu sein. Außerdem vertraue ich auf ihr Urteilsvermögen. So falsch, kann das zwischen euch also nicht sein.“

Weiterhin völlig fassungslos, war Peter nicht dazu in der Lage, etwas zu erwidern. Er war in der Erwartung hergekommen, dass William ihn zusammenstauchte – womit er sich hätte glücklich schätzen können – aber sicher nicht, dass man sich bei ihm entschuldigte.

„Als Zeichen dafür, dass ich es ernst meine“, erläuterte der Vater weiter, „möchte ich dir etwas überreichen. Du hast um die Hand meiner Tochter angehalten und hiermit“, er griff zur Seite zu einem Beistelltischchen, welcher neben der Tür stand und holte eine kleine rechteckige Schachtel hervor, „will ich euch meinen Segen geben.“

Die Schachtel war schlicht, in rotem Papier eingewickelt und von einer blauen Schleife umschlossen. Peter nahm sie mit einer fahrigen Bewegung entgegen, bei der er kurz fürchtete, sie versehentlich fallen zu lassen – was sicher das Ende dieser friedlichen Zusammenkunft bedeutet hätte –, und starrte sie im Anschluss perplex an.

„Nun öffne sie schon“, verlangte William ungeduldig. Beinahe klang der gewohnte, harsche Tonfall durch.

Darum und weil sein Verstand seit Minuten schlicht aussetzte, kam Peter der Aufforderung nach. Er öffnete die Schleife, wobei diese sanft zu Boden segelte. Er registrierte es kaum, war längst dabei, den Deckel anzuheben und hinein zu lugen.

Im Moment des Erkennens erbleichte er. Die Schachtel glitt ihm aus den plötzlich schweißnassen Fingern. Ein Schrei stahl sich seine Kehle empor, erstarb jedoch darin, weswegen er nicht mehr als ein kaum wahrnehmbares Wimmern von sich gab.

„Nun sieh‘ dir an, was du angerichtet hast“, knurrte William in verärgertem Tonfall. „Du hast sie fallen lassen!“ Eine Sekunde der Stille schlug an, in der er erst hinab zu dem fallengelassenen Objekt und dann hinauf, in das Gesicht des Schuldigen blickte. Erkenntnis blitzte in seinen Augen auf.

„Nein ...“, hauchte er, wobei erst Entsetzen über den Frevel und dann rasender Zorn in sein Antlitz trat.

„Ist das deine Antwort, ja?“, flüsterte er, wobei jede Silbe wie ein Donnerknallen in Peters Ohren klang. „Nennst du das, etwa Dankbarkeit?“ Das Flüstern mutierte zu einem Zischen und steigerte sich in Gebrüll. „Ich reiche dir die Hand meiner Tochter und du lässt sie in den Dreck fallen?! Ich habe es schon immer gewusst: Du bist ein kleiner, nichtsnutziger Wurm! Ich hätte dich nie in die Nähe von Sindy lassen dürfen!“

Das Getose bekam der junge Mann nur bedingt mit. Etwas anderes erregte seine Aufmerksamkeit, etwas, dass sein Bewusstsein schärfte, dass er all dies nicht träumte, der Nachtmahr Wirklichkeit war.

Im Flur hinter ihrem Vater war Sindy aufgetaucht. Ein Ausdruck reiner Qual zeichnete ihr Gesicht. Mit der Linken hielt sie sich den rechten Arm, welcher ab dem Handgelenk in einer dicken Bandage steckte. Von der Spitze dessen, breitete sich ein tiefroter Fleck aus.

Indes lag die Hand, die sich am Ende ihres Arms hätte befinden sollen, zu seinen Füßen, in einer gottverfluchten Geschenkschachtel!

William bekam mit, dass das Objekt seiner unbändigen Rage von etwas abgelenkt wurde, und stoppte die Tirade aus wüsten Anschuldigungen.

Sich umdrehend erkannte er, dass seine Tochter nach draußen gekommen war. So gefasst und beschwichtigend wie nur möglich, sprach er zu ihr. „Kleines, hey, ich habe dir doch gesagt, dass du im Bett bleiben sollst. Du brauchst Ruhe. Keine Sorge, ich bin gleich bei dir, ich kümmere mich nur eben um diesen Abschaum hier.“

Damit wandte er sich wieder um und bekam dadurch nicht mit, wie seine Tochter hinter ihm zusammenbrach. Quer über dem Boden ausgestreckt, regte sie sich nicht länger.

Einem Reflex folgend, wollte Peter es ihm sagen, es ihm entgegenschreien, auf dass dieser einen Krankenwagen rief, indes er zu Sindy stürmte, um ihr zu helfen, egal wie. Doch da wurde ihm schon im Bruchteil von Sekunden klar, dass nichts dergleichen geschehen würde. Schließlich war es William selbst, der seinem eigenen Fleisch und Blut im Wahn dieses Leid zugefügt hatte.

Der Veteran, der offenkundig den Verstand verloren hatte, griff erneut zur Seite der Tür und holte eine weitere Überraschung hervor: eine Axt, an der noch die rot schimmernden Reste der letzten schändlichen, damit verrichteten Tat klebten.

„Halt still Junge und lass mich dich von deiner erbärmlichen Existenz erlösen“, forderte William vollkommen sachlich und hob die Axt hoch über den Kopf, um sie gleich darauf auf Peter herabsausen zu lassen.

Endlich fand dieser seine Stimme wieder. Er schrie laut auf und riss dabei die Arme in der närrischen Erwartung hoch, den Schlag auf irgendeine Art abfangen oder zumindest mildern zu können. Sein Gekreisch gellte laut und lauter und dann ... nichts. Kein Schmerz, kein Geräusch von berstenden Knochen und reißendem Fleisch, nur absolute Stille.

Als die raue Stimme Williams erklang, traute Peter seinen Ohren nicht. „Bei Gott, ich wusste ja, dass du ein Weichling bist, aber das hier ist einfach nur noch lächerlich.“

Blinzelnd öffnete der junge Mann die Augen. Sein Blick fiel direkt auf den Boden unter sich. Von dem blutigen Geschenk fehlte jede Spur. Langsam hob er den Kopf und schaute in das mürrische Gesicht des Militärmanns. Dieser hielt keine Axt in der Hand. Auch lag Sindy nicht ohnmächtig im Flur hinter ihm.

„W-w-was ...“, stammelte Peter. Seine Kenntnis über die Funktionalität der Welt verlor an Bodenhaftung.

Da stand er nun, vor Angst, vielmehr schierem Terror nassgeschwitzt, in Abwehrhaltung vor William, der noch geringschätziger als sonst auf ihn herabblickte.

„Das wüsste ich auch gerne“, erwiderte der Vater nüchtern. „Obwohl“, winkte er ab, „wenn ich es mir recht überlege, würde ich viel mehr wollen, dass du von meinem Grundstück, nein besser noch, aus meinem Leben verschwindest. Und jetzt verzieh dich, Sindy ist nicht hier.“

Instinktiv machte Peter auf dem Absatz kehrt und lief davon. In dem Moment, in dem er hörte, wie die Tür hinter ihm klickend ins Schloss fiel, fing er schneller zu laufen an, bis er rannte. So viel Distanz zwischen sich und diesem Haus, zwischen sich und diesem Albtraum zu bringen, trieb ihn an, als wäre der Teufel Höchstselbst hinter ihm her.

Der Anfang vom Ende[]

Es war der Anfang ...

Der Anfang vom Ende.

Seit jenem Tag ist nichts mehr, wie es war, alles in stetem Wandel, alles heilloses Chaos und perfekte Ordnung gleichermaßen.

Seit jenem schicksalhaften Tag bin ich ein Spielball der Realitäten.

Verkehrschaos[]

Einige Minuten später hörte Peter auf zu rennen. Nicht, weil er der Meinung war, der Distanz wäre genug überbrückt worden, sondern schlicht, da ihn seine Kräfte verließen und er befürchtete, nach ein paar weiteren zurückgelegten Metern zusammenzubrechen.

In der Nähe zu seiner gegenwärtigen Position lag eine kleine Parkanlage, weswegen er kurzerhand entschloss, diese aufzusuchen und sich eine Pause zu gönnen. Es bedürfte einer Ordnung seiner Gedanken, um zu verstehen, was er so eben erlebt hatte, aber zuvor benötigten seine geschundenen Beine und Lungenflügel ein wenig Erholung.

Keuchend ließ er sich auf eine Parkbank fallen und schloss die Augen. Die Sonne schien Peter warm ins Gesicht. Ein herrlicher Sommertag im Juli, der sich nicht um die entrückten Belange der Sterblichen kümmerte.

Aufgrund der friedlichen Ruhe, die ihn umgab und der damit einhergehenden Klärung seines zerrütteten Geistes, gelangte er allmählich zu der Überzeugung, dass sein vom Stress geplagtes Hirn ihm nur einen Streich gespielt hatte. Einen ausgesprochen realistischen, wie er zugab, aber eben nicht mehr.

Damit einher ging zwar die Tatsache, dass er William nie im Leben eine adäquate, für ihn nachvollziehbare Erklärung würde liefern können, doch im Angesicht des Albtraums, der dafür nicht mehr als ein Gespinst blieb, war ihm das recht. Unabhängig davon, würde er sich demzufolge erneut mit dem Mann auseinandersetzen müssen ... Eine Konfrontation, die nach dem heutigen Ereignis, nicht angenehmer werden dürfte.

Das Geräusch von quietschenden Reifen, dem Kreischen von Metall und einem darauffolgenden, grellen Schrei, rissen Peter aus seinen Gedanken. Vor Schreck wäre er fast von der Bank gefallen.

Er sprang auf und drehte sich in die Richtung, aus der die Geräuschkulisse gekommen war. Was dann geschah, verlief wie in Zeitlupe und rasend schnell zugleich.

Zuerst registrierte Peter den alten Mann, der mitten auf der Straße lag. Sein linkes Bein stand in unnatürlichem Winkel ab, aber das schien nur eines seiner Probleme zu sein, denn er lag mit ausgestreckten Armen reglos da, indes er nur in der Lage war, sich die Seele aus dem Leib zu schreien.

Das Auto, das ihn gerammt hatte, stand quer auf der Straße. Durch seine hyperaktive Wahrnehmung bemerkte Peter jeden feinen Riss der Bruchstelle in der Windschutzscheibe, zusammen mit den Blutsprenkeln, die sich darauf verteilten.

Der Fahrer stand im Begriff auszusteigen, um zu dem Opfer zu rennen. Zu beider Unglück, kam just in diesem Augenblick ein weiteres Auto um die Ecke gerast.

Die Fahrerin achtete nur mit halbem Blick auf die normalerweise ruhige Straße vor sich, ihre Reaktionsfähigkeit ließ sie im entscheidenenden Moment im Stich.

Zwar bremste sie in letzter Sekunde ab, aber ihr Wagen bretterte dennoch mit hoher Geschwindigkeit über den Alten. Aufgrund der schieren Gewalteinwirkung und des Gewichts brachen diverse weitere Knochen. Zudem wurde der Schädel förmlich aufgesprengt. Blut und Hirnmasse verteilte sich auf dem Asphalt.

Nur einen Wimpernschlag später raste der Wagen, in das querstehende Fahrzeug, wobei der Fahrer des anderen Gefährts, der nicht schnell genug auszuweichen vermochte, zwischen den Karosserien eingequetscht wurde. Das tonnenschwere Metall zertrümmerte ihm Beine und Unterleib.

Die Frau selbst, die sich offenbar nicht angeschnallt hatte, wurde aus ihrer Frontscheibe geschleudert und flog ihm hohen Bogen durch die Luft.

Die letzten klaren Eindrücke, die Peter wahrnahm, waren das klatschende Geräusch des Leibes der Fahrerin, die außer Sichtweite landete, sowie der Anblick des eingequetschten Mannes, dessen Oberkörper auf der eingedrückten Motorhaube ruhend, sein Leben aushauchte. Seine nunmehr von einem grauen Schleier verhangenen Augen, starrten anklagend zu dem untätigen Beobachter.

In den ersten Sekunden nach dem Unfall hielt Lähmung Peter fest im Griff. Er sah das Chaos, die Verletzten – für den Augenblick, weigerte sich sein Hirn, ihre Tode zu akzeptieren – und sah sich unfähig, zu begreifen, was sich da vor ihm abgespielt hatte.

Der Schock löste sich allmählich. Damit einher griff der Automatismus und er in seine Hosentasche, um sein Mobiltelefon hervorzuholen. Mit stumpfsinnigem Blick schaute er auf den kleinen Bildschirm, während er sich krampfhaft an die Nummer des Notrufs zu erinnern versuchte. Nach einigen quälenden Sekunden erinnerte er sich, gab die Ziffern zwei Mal falsch ein, weil seine Finger zu sehr zitterten, und schaffte es endlich, die Wählen-Taste zu betätigen. Er hielt sich das Gerät ans Ohr. Das Tuten dröhnte in seinem Schädel. Er wartete, schaute auf, erstarrte.

Nichts.

Sie waren verschwunden. Keine Autowracks, keine Verletzten, keine Leichen, keine Köpfe, die wie Wassermelonen zerplatzt waren, nichts. Oder vielmehr die gähnende Gewöhnlichkeit eines sonnigen Sommertages.

Als die Stimme an Peters Ohr erklang, zuckte er erschrocken zusammen. „Notruf, was können wir für Sie tun?“ Der junge Mann nahm das Handy von seinem Ohr und starrte es ungläubig an. „Hallo?“, ertönte die Stimme erneut.

„Hilfe“, flüsterte er kaum wahrnehmbar, den Tränen nah. Dann ließ er das Gerät fallen und rannte abermals davon.

Fragen[]

Realität ist eine Farce.

Wer garantiert uns, dass das, was wir mit unseren fünf Sinnen wahrnehmen, tatsächlich existiert?

Woher wissen wir, dass das Gesicht, das wir morgens im Spiegel betrachten, unseres ist, dass unsere Mitmenschen es genauso sehen, wie wir?

Womöglich sind wir uns selbst Fremde.

Ich könnte Ihnen erzählen, dass am Nordpol ein kilometerweites Loch klafft, welches bis zum Erdkern reicht. Sie würden es nicht glauben. Ich würde antworten: Waren Sie schon mal dort? Sie würden sagen: Es ist egal, ich weiß, dass es nicht so ist, weil andere es ebenfalls wissen, weil dieses Wissen früher oder später die Runde gemacht hätte.

Daraufhin würde ich nur schweigen und den Gedanken sprießen lassen.

Alles was wir wissen, ist, dass wir nichts wissen. Wie können wir uns dann unserer eigenen Existenz gewiss sein?

Was macht Existenz aus? Wahrnehmung? Wenn alles Leben ausstirbt, hört dann auch das Universum auf, zu existieren, weil es nicht länger wahrgenommen wird?

Sie könnten morgens Ihre Frau und Tochter verabschieden und in dem Moment, in dem Sie die Haustür verlassen, verschwinden Sie einfach, sind nicht länger Teil Ihrer Realität, weil sie nicht mehr von Ihnen wahrgenommen werden.

Am Abend erzählen Ihnen die beiden, was sie den Tag über so erlebt haben, aber in Wahrheit hat nichts davon stattgefunden. Ihre Welt beschränkt sich auf den unmittelbaren Raum, den Sie sehen, hören und fühlen.

Eine Farce, wie ich sagte. Wandelbar. Vom Blickwinkel abhängig.

Der Überfall[]

Eine Woche.

Peter vermochte nicht zu sagen wie, aber er hatte sich durch eine ganze Woche des blanken Irrsinns geschleppt und überlebt. Wobei er im Grunde nicht länger, von einem Leben reden mochte.

Die Halluzinationen, so es denn welche waren, prasselten unermüdlich auf ihn ein und gewannen dabei an immer absurder werdender Intensität. So sehr, dass er meinte, den Verstand verlieren zu müssen.

Noch schaffte er es, sein näheres Umfeld vom Gegenteil zu überzeugen, sich selbst davon zu überzeugen.

Eine Lüge und doch die Wahrheit. Je nach Blickwinkel. Je nach Realität.

Obgleich er eine solche bislang nicht erlebt hatte, fragte sich ein ums andere mal, ob er nicht in einer Gummizelle saß. Ob seit kurzem erst, oder seit geraumer Zeit, spielte dabei keine Rolle. Dass sein Wahn nur einem Traumgespinst entsprang, war ein tröstlicher Gedanke. Leider zeigten sich die verschrobenen Realitäten, als zu real, als dass er sie zum Gespinst deklarieren konnte.

Die Welt versank in regelmäßigen Abständen im Chaos, nur um im nächsten Moment in alter Pracht zu erstrahlen. Der ihm gewohnte Anblick einer verdreckten Großstadt, vermochte ein glanzvollerer nicht länger zu sein. Zu seinem Leidwesen überdauerte er nie.

Einmal hatte er seine Eltern zu Hause tot aufgefunden. Ihre bleichen, verwesenden Leiber, waren von Fliegen bevölkert worden. Einen Wimpernschlag später, hatte er mit ihnen am Frühstückstisch gesessen und seinem Vater den Brotkorb gereicht.

Er sah Gebäudeblöcke brennen, Menschen wie verglühende Sterne aus Fenstern herabstürzen, Soldaten durch Straßen ziehen und wahllos Passanten erschießen, Hingerichtete, mit heraushängenden Eingeweiden an Laternenpfählen baumeln ...

Er hatte eine untergegangene, entvölkerte Welt erblickt. Schutt und Trümmer, aus deren Asche eine neuartige Rasse wie ein Phönix emporstieg und die Fehler der Vergangenheit wiederholte, ehe die ihm bekannte Sphäre für den Bruchteil von Sekunden unter einer dicken Schicht Staub aufblitzte und gleich wieder verschlungen wurde.

Der Planet Erde stürzte in die Sonne, der Kosmos fiel in sich selbst zusammen, ein zweiter Urknall gebar eine völlig fremde Dimension und gleich darauf saß er im Büro seines Chefs, der ihm seine Kündigung aufgrund von nicht Tragbarkeit seiner mangelnden Arbeitsleistung ausstellte.

Er hatte so vieles erblickt und gleichwohl so wenig. Der Realitäten gab es unendliche, des Wahnsinns kein Ende.

Sein Geist stumpfte ab. Das Gesehene und Erlebte, höhlte ihn aus, ließ ihn jeden weiteren Schrecken schulterzuckend über sich ergehen.

Sein Leben endete, seine Existenz mit ihm. Er war nicht länger Peter, nur ein Ding, ein Objekt, dass sich durch Raum und Zeit bewegte oder vielmehr bewegt wurde. Rastlos ohne Ziel, der Ewigkeit der Wandlung ausgesetzt. Ein Spielball.

Er nahm alles in sich auf, es als gegeben hin und spie es unverändert wieder aus. Oder veränderte es sich genau in diesem Moment? Gebar seine Wahrnehmung die Unmöglichkeiten? War er der Katalysator, der Motor, der Realitäten schuf und verwarf?

Unwichtig. Nichts besaß mehr Relevanz, alles verlor sich Egalität.

Die Welt, von der er einst geglaubt hatte, sie zu kennen, sie als seine Heimat bezeichnet hatte, existierte nicht länger. Damit einher, hatte sich sein Leben in der Nichtigkeit verloren. Ohne Beständigkeit, ohne Kontinuität, büßte es jeden Halt und mit ihm, jeden Sinn ein.

Was brachte es ihm, wenn er in einem Augenblick seine Hochzeit feierte, nur um im nächsten Moment in einer Realität zu landen, in der sein Hirn nicht in der Lage war, Glückshormone auszuschütten, in der die bloße Existenz von Empfindungsfähigkeit, nicht länger gegeben war?

Was er eben noch glaubte, sicher in Händen zu halten, wurde gleich darauf beiseite gefegt oder zerrann wie Sand in seinen Fingern.

Eine Woche.

Oder waren es schon Jahre?

Hatte es je ein oder Leben im Allgemeinen gegeben? Eine Zeitrechnung, die die Vergänglichkeit dessen maß?

Unwichtig. Alles relativ. Trugbilder. Unbeständiger Schein.


Als Peter die Treppe der U-Bahn emporstieg – in seiner fernen Erinnerung eines trügerischen Lebens, das hinter einem dichter werdenden Nebel verschwand, hatte es in seiner kleinen Stadt nie ein Untergrund-Transportmittel gegeben – und von dem düster dreinblickenden Mann angesprochen wurde, reagierte er nicht.

An diesem Verhalten änderte er auch nichts, als der Fremde ihn hier, mitten in der dunkelsten Nacht ­ – just zuvor war es helllichter Tag gewesen – anschrie und nach Geld verlangte. Das aufblitzende Messer, beunruhigte Peter nicht im Geringsten. Es war nicht real. Das bewies schon die Tatsache, dass auf einmal eine Schusswaffe in der Hand des Mannes lag.

Als der Schmerz in seinem Unterleib explodierte und die Welt um ihn herum in sich zusammenfiel, ihn in die Realität zurückholte, die er schon verloren geglaubt hatte, weinte Peter hemmungslos. Nicht wegen der Höllenqualen, die seinen Leib zerrissen, nicht wegen des näherrückenden Todes, sondern aufgrund des letzten Ausblicks auf das Leben, dass ihm binnen einer Woche entrissen und zu Scherben zerschlagen worden war.

Schmerz[]

Wenn die Realität und das damit zusammenhängende, scheinbare Leben eine Farce ist, dann ist es der Tod ebenfalls.

Wo kein Leben, da auch kein Ende des selbigen.

Wie grausam von der Nicht-Existenz, dass ausgerechnet der Schmerz, der uns dorthin begleitet, uns nur allzu real erscheint, obgleich er doch genauso ein Trugbild wie alles andere ist ...

Das Ende im Anfang[]

Wieder stand er hier. Vor der Tür. Dort wo alles seinen Anfang genommen hatte.

Dieses Mal pochte sein Herz nicht. Es schlug überhaupt nicht mehr. Nicht, dass dem irgendeine Bedeutung zugrunde läge. Es war eine schlichte Tatsache, in einer Sphäre, in der Luftschlösser auf Sand gebaut wurden.

An jenem Tag, als er Messerstecher/Pistolero ihm seinen Unterleib zerfetzt hatte, hätte er sterben sollen. War er aber nicht.

Er hatte Schmerzen empfunden. Zumindest meinte er sich daran zu erinnern. Lücken. So unendlich viele klaffende Löcher.

Er war im Krankenhaus gewesen. Kurz. Hatte er Besuch bekommen? Möglich. Wahrscheinlich nicht.

Unwichtig.

Jetzt war er hier. Dies allein zählte. Er musste sich beeilen, vermochte er doch nicht zu sagen, wann der nächste Sprung folgte, wann der Spielball erneut in eine beliebige Richtung getreten wurde.

Es würde ein Ende finden, hier, im Anfang.

Er betätigte die Klingel.

In der anderen Hand hielt er eine Axt fest im Griff.

Flammenmeer[]

Er, der er schon lange keinen Namen mehr trug, der er nie einen gehabt hat und nie mehr einen brauchen würde, saß auf einem Stuhl, inmitten eines leeren Raumes.

Vor ihm lag ein Mann. Grobschlächtige Hände streckten sich in seine Richtung, erweckten den Eindruck, nach ihm greifen zu wollen, doch dazu waren sie nicht länger in der Lage.

Der Schädel des Mannes war gespalten worden, einmal quer über das Gesicht war die Axt hindurchgeglitten, wie durch Butter. Zumindest in dieser Realität. In dieser einen unter tausenden und abertausenden und Millionen von Milliarden, welche zu Trilliarden im Quadrat genommen wurden.

Was für eine Rolle spielte ein einzelnes Leben, wenn es in einer Realität ausgelöscht wurde, aber potenziell in einem Bruchteil der unendlich anderen weiter existierte? Dann war es bedeutungslos.

Nicht für den Einzelnen, nicht für die Bewohner dieser einen spezifischen Realität, sicher, vor allem wenn diese als Kollektiv an den einen Schein glaubten, der ihnen präsentiert wurde.

Aber das waren müßige Gedanken, des einen, der die Grenzen durchbrochen hatte. Wenn die Regeln des Lebens und Sterbens für ihn nicht mehr galten, dann taten es die der Moral erst recht nicht.

Statt sich weiter das Hirn über solche Dinge zu zermartern, holte er eine Streichholzpackung hervor, musterte diese einen Moment voller Sehnsucht und öffnete sie dann, um ein einzelnes Streichholz daraus zu entnehmen. Den Kopf leicht geneigt, blickte er sich in dem leeren Raum um. Plötzlich war er voll möbliert und jeder Winkel mit Benzin übergossen.

Realität war nur eine Frage der Perspektive.

Er entzündete das Hölzchen, nur um festzustellen, dass es keines mehr war. Eine abgetrennte Hand lag in der seinen. Sindys Hand, um genau zu sein. Am mahnend, ausgestreckten Zeigefinger loderte eine kleine Flamme wie an einem Docht.

Er zuckte mit den Schultern, warum nicht? So lange es nur seinen Zweck erfüllte. Mit einem beherzten Wurf flog die Hand quer durch den Raum, so dass sie klatschend gegen eine Wand prallte und herunterfiel. Das Streichholz, das nun auf dem Boden aufschlug, entzündete das Benzin und nach wenigen Sekunden brannte der Raum lichterloh.

Er lehnte sich entspannt zurück, betrachtete das Feuer, spürte, wie es an ihm leckte, und empfing mit offenen Armen die falschen Schmerzen.