Deutsches Creepypasta Wiki
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Inhaltsverzeichnis[]

Suchende und ihr Pfad zur Erleuchtung

Ein hehrer Traum

Der Fall Brandon

Wenn Finsternis über die Länder hereinbricht

Beginn einer jähzornigen Karriere []

Anwärter Kubinsky betrachtete das Gemetzel – anders konnte er es nicht beschreiben – vor sich mit grimmig verbissener Miene. Obgleich er sich nach außen hin eisern gab, fühlte er sich doch zur Salzsäule erstarrt und ein wenig flau im Magen. Zwar verrichtete er seinen Polizeidienst jetzt schon eine Weile, doch so etwas war ihm bisher nie unter die Augen gekommen und er hoffte inständig, dass es auch nie wieder dazu kommen würde.

Was er zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen konnte war, dass dieser eine Fall, seine folgende Laufbahn in Stein gemeißelt besiegeln würde. Noch spürte er es nicht, doch bereits jetzt, schlich sich ein Parasit in sein Innerstes, fraß sich durch jede Faser seines Körpers und vor allem seine Seele und machte ihn nach und nach zu dem harten, unnachgiebigen, manchmal ausfällig werdenden Beamten, der er später sein sollte.

Heute jedoch, in dieser einen Sekunde, hatte er seinen Magen noch lange nicht so gestählt wie in gut zwanzig Jahren, weswegen er sich zusammenreißen musste, nicht sein Mittagessen hoch zu würgen.

Kommissar Wellton schien das zu spüren, denn obwohl er sich geschäftig zeigte und mit den Kollegen unterhielt, die überall herumwuselten und ihren Aufgaben nachgingen, von denen es bei einem Fall wie diesem zur Genüge gab, drehte er sich auf einmal zu ihm um, unterbrach die anderen mitten im Satz und kam auf seinen auserkorenen Schützling zu.

„Alles ok Junge?“

Normalerweise störte der Mittdreißiger sich nicht daran so bezeichnet zu werden, doch an diesem Tag war alles anders und würde vor allem danach nie wieder wie früher sein. Kaum merklich zuckte er bei der Betitelung zusammen, während er sich stumm fragte, woher diese Reaktion auf einmal kam. Eine leise, säuselnde Stimme flüsterte ihm zu, dass er kein „Junge“ mehr war, sondern ein Mann, der seine Pflicht erfüllte. Mit allen Mitteln, wenn es sein musste.

Allerdings konnte er ihr kaum lauschen, da Wellton ihn bereits erreichte, wobei er ihn mit ausdruckloser Miene musterte. Ein Hauch Besorgnis konnte die harte Schale jedoch nicht verbergen, was Kubinsky wohlwollend stimmte, wodurch die Stimme restlos an Gewicht verlor.

„Ja, danke. Geht‘ schon“, erklärte er lässiger, als er sich fühlte.

Seine Lüge durchschaute sein Gegenüber natürlich sofort, sprach es aber nicht direkt an. Stattdessen wandte er sich um, überblickte den großen Raum und schüttelte resigniert den Kopf. „Ist für uns alle ein Schock. Ich glaube niemand der heute hier Anwesenden hat jemals so etwas zu Gesicht bekommen.“ Womit er sagen wollte: Ist keine Schande, wenn dir ein bisschen mulmig zumute ist und auch nicht, wenn dir ein bisschen sehr mulmig zumute ist.

Als er und Kubinsky als einer der letzten eingetroffen waren, hatten sie gleich draußen einen anderen Anwärter vorgefunden, der sich auf der Straße übergab. Totenbleich war er im Gesicht gewesen und hatte sich gerade so noch auf den zittrigen Beinen halten können. Zu diesem Zeitpunkt hatte Kubinsky noch gedacht, dass ihm der arme Kerl leidtat, jetzt fragte er sich, ob er nicht besser einen Schreibtischjob annehmen sollte, da er offensichtlich ungeeignet für diese Aufgabe war.

Er erschrak selbst über diesen Gedanken, konnte sich eines Gefühls des Ärgers, über eine Zurschaustellung solcher Schwäche aber trotzdem nicht erwehren. Wenn sie die Menschen vor Monstern wie denen, die ein solches Schlachtfeld hinterlassen konnte, beschützen wollten, dürften sie sich eine derartige Reaktion nicht erlauben. Sie mussten unnachgiebig sein, hart, zu jeder Sekunde hundertprozentig einsatzbereit.

Mit dieser Einstellung beseelt, versuchte er das flaue Gefühl in seiner Magengegend niederzukämpfen. Sein Bestreben war ansatzweise von Erfolg gekrönt. Solange zumindest, bis sein Blick wieder auf den zentralen Platz des Geschehens fiel und es mit doppelter Stärke zurückkehrte. Beinahe wäre es doch um ihn geschehen, aber er riss sich zusammen.

Dennoch fiel Wellton, der ihm einen skeptischen Seitenblick zuwarf auf, dass sein Gesicht ein wenig an Farbe abgenommen hatte. Bevor er das kommentieren konnte, kam jedoch ein anderer Kommissar auf die beiden zu und berichtete zähneknirschend: „Unser Verdacht hat sich bestätigt. Das eine Opfer war schwanger.“

„Verfluchte Sch…“, setzte Wellton an, fing sich aber im letzten Moment, schloss den Mund und mahlte nur mit den Kiefern. Im Gegensatz zu Kubinsky, der noch ein wenig blasser geworden war, nahm seine Farbe nun ein leichtes Rot an. Der Mann war stocksauer und bemühte sich mit aller Kraft darum, die Fassung zu bewahren. Der Jüngere wollte nicht anstelle des Täters sein, wenn er geschnappt wurde und sein Vorgesetzter ihn in die Finger bekam.

„Es kommt noch schlimmer“, meinte der andere mit felsenfester Miene, wobei er ein leichtes Beben in seiner Stimme nicht ganz verbergen konnte.

„Was denn noch?“, knurrte Wellton.

„Sie hat kurz vor ihrem Tod entbunden.“

Die eisige Stille, die sich daraufhin ausbreitete, jagte Kubinsky einen Schauer über den Rücken. „Ist es…?“

Ein leichtes Kopfschütteln folge, was erst einmal alles bedeuten konnte. „Wir haben es noch nicht gefunden.“

„Dann müssen wir noch einmal alles auf den Kopf stellen.“

Der andere nickte. „Sind schon dabei einen Trupp zu organisieren. Wenn ihr euch anschließen wollt, wir können jedes Paar Augen gebrauchen.“

Dass das für den Kommissar keine Frage war, wusste der Anwärter schon, bevor er ihn ansah. Als sie sich gegenseitig in die Augen blickten, erkannte dieser die Antwort Kubinsky’s bereits, ohne, dass er sie ausgesprochen hatte, weswegen er sich gleich wieder umwandte. „Sind dabei“, erklärte er knapp.

 

Auf der Suche []

Den Tatort noch einmal gründlich abzusuchen stellte sich als größere Herausforderung heraus, als sie anfänglich angenommen hatten. Da es sich um eine große Lagerhalle handelte, machte es allein die Fläche innen – und natürlich auch außen, im näheren Umkreis – nicht gerade leicht. Erschwerend hinzukam die „Dekoration“, die im Inneren aufgebaut worden war.

Jemand hatte viel Aufwand damit betrieben, die gesamte Räumlichkeit, wie eine Theaterbühne auszubauen, nein, vielmehr wie ein Filmset, denn den Hauptbereich der Einrichtung machte ein großer, kreisförmiger Höhlenraum aus, dessen Decke mehrere Meter in die Höhe ragte und der so lebensecht aussah, dass man in ihm stehend, tatsächlich das Gefühl hatte, inmitten eines in Stein gehauenen Raumes zu stehen.

Dorthin führten wiederum mehrere Gänge, die einen zu allen Ausgängen der Lagerhalle geleiteten und teilweise verzweigter waren, als man es auf den ersten Blick annehmen mochte. Es gab sogar Erhöhungen und ganze Zwischenebenen, was eine stabile Konstruktion im Inneren voraussetzte und bedeutete, dass es in eben dieser, unzählige verborgene Räume geben konnte.

Die Lichtverhältnisse machten ihnen ihre Arbeit auch nicht gerade leichter, da die einzige vorhandene Lichtquelle Fackelhalter darstellten, welche alle paar Meter an den Wänden angebracht worden waren. Zwar hatten sie alle Taschenlampen dabei, aber ganz durchdringen konnten sie die dämmrigen Verhältnisse trotzdem nicht.

Immerhin hatten sie mittlerweile einen Plan des Systems entwickelt, eine Art Karte, die ihnen die Suche erleichterte. So wussten sie nun, dass von der Haupthalle aus, sechs Gänge sternförmig weg führten.  Durch diverse Windungen um den zentralen Punkt herum, waren sie mehrere Meter lang, mündeten jedoch alle früher oder später in einem Ausgang. Ohne Ausnahme.

Diese Bereiche im Inneren waren noch verhältnismäßig leicht zu durchsuchen, da sie zwar hier und da verzweigt, aber eben doch begrenzt und weit weniger komplex waren, als man am Anfang meinen mochte. Nach einer erneuten systematischen Suche fanden die Polizisten nur das, was sie schon vorher entdeckt hatten: Ein gutes Dutzend, teilweise schrecklich entstellter Leichen, aber nicht viel mehr.

Während man draußen in jedem Winkel des näheren Bezirks, der sich durch unzählige kleine und große Lagerhallen auszeichnete, ebenso wenig vorfand, suchte der innere Trupp nach einem oder mehreren Wegen in die Zwischenräume. Sie wurden schneller fündig als erwartet, denn jeder der fünf Gänge, wies mindestens eine Tür auf, die sich bei genauerem Hinsehen immer im Dunkel zwischen den Fackelhaltern befand. Feine gerade Linien in den „Felswänden“, verreiten sie. Mit leichtem Druck ließen sie sich öffnen und offenbarten die Stahlkonstruktion, die alles zusammenhielt.

„Da hat sich jemand verdammt viel Mühe gegeben“, brummte Wellton, während er sich mit Anwärter Kubinsky durch diverse Metallstreben zwängte, die alles über ihnen zusammenhielten.

Dieser beschränkte sich darauf zu folgen und sich umzusehen. Er hatte schon mehr als genug Mühe, die Dunkelheit zu durchdringen, die außerhalb der Gänge herrschte, da es hier gar keine offensichtlichen Lichtquellen mehr gab. Durch die vielen Streben und die sich windenden Gänge, war es äußerst schwer voranzukommen und gleichzeitig jede Ecke in Augenschein zu nehmen, ohne sich alle paar Meter den Schädel anzustoßen.

Nicht gerade erleichtert wurde ihre Arbeit, durch die Tatsache, dass die Konstruktion hier und da auch noch über Leitern in die Höhe ging, welche in Plattformen mündete, von denen aus das Gebilde in die Höhe errichtet worden war. Sie würden alles penibel absuchen müssen und das mehr als einmal, da etwaige Überlebende, sich genauso gut vor ihnen verstecken konnten. Mal davon abgesehen, dass durch diesen Umstand bedingt, achtgeben mussten, nicht hinterrücks angegriffen zu werden, was Kubinsky zu allem Überfluss auch noch nervös werden ließ, auch wenn er sich das nicht eingestand.

Die Frage, ob Wellton glaubte, dass sie es noch finden würden, verkniff er sich indes. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, zweifelte er ernsthaft daran, das Kind lebend oder überhaupt vorzufinden. Vermutlich war es zusammen mit den anderen kaltblütig ermordet worden. Und das, bevor es überhaupt die Chance auf ein Leben bekommen hat. Unweigerlich ballte er die Hände zu Fäusten. Am liebsten hätte er irgendwo gegengeschlagen, oder in irgendjemandes Gesicht rein. Nach Möglichkeit in das des Täters.

Als ob Wellton seine Gedanken gehört hätte, meinte der Kommissar aus heiterem Himmel: „Wenn wir hier noch jemanden finden, überlassen Sie mir das Reden, ok? Keine voreiligen Handlungen, ist das klar?“

„Klar“, erklärte der andere knapp, aber ehrlich. Wut hin oder her, er würde sich niemals gegen eine Anweisung stellen. Noch nicht.

Die restliche Zeit schwiegen sie sich wieder aus. Die Stille, die sich über sie beide, wie eine Decke ausbreitete und nur durch das leise Trippeln ihrer Schritte durchbrochen wurde, war schwer, erdrückend und düster. Sie versetzte Kubinsky in eine gefährliche Stimmung. Er fühlte sich unruhig und gereizt, kaute sich unmerklich auf der Unterlippe rum und überprüfte alle paar Sekunden die Waffe, die in seinem geöffneten Holster steckte – sie die ganze Zeit in der Hand zu führen, wäre innerhalb der beengten Räumlichkeiten, unpraktisch gewesen.

Wellton hingegen, schien zumindest nach außen hin die Ruhe selbst. Nicht einmal die brütende Hitze, die sich mit jeder verstreichenden Stunde mehr und mehr in der Lagerhalle angestaut hatte, weil die gleißende Sonne auf das Dach glühte, machte ihm nichts aus, während dem Jüngeren der Schweiß von der Stirn tropfte. Wenn er sich jedoch umdrehte oder Kubinsky bei einer anderen Gelegenheit, die Chance bekam, einen Blick in seine Augen zu werfen, erkannte er eine bittere, eisige Kälte darin. Aus ihr sprach keine Stumpfheit, aber auch keine Wut oder dergleichen, lediglich der Wunsch, den Bastard, der hierfür verantwortlich zu schnappen und ihm seiner gerechten Strafe zuzuführen. Um dieses Ziel zu erreichen, schärfte er seine Sinne und seinen Geist.

Ein ums andere Mal beeindruckte den Jüngling dieser Anblick, wobei in ihm der Wille heranwuchs, eines Tages ebenso konzentriert und fokussiert zu arbeiten. Ein Wunsch, der nie in Erfüllung gehen sollte, da ihm sein Temperament in späteren Jahren immer wieder in die Quere kommen würde.

Alle paar Minuten machten sie Meldung und erkundigten sich nach dem Stand der anderen. Das Ergebnis war jedes Mal das gleiche: Niemand hatte bisher etwas gefunden. Kein Kind und auch keine weiteren Leichen – immerhin etwas.

Die verstreichende Zeit, ohne erkennbare Fortschritte, zermürbte Kubinsky. Zu seinen negativen Empfindungen gesellte sich noch Ungeduld, da es ihn in den Fingern juckte, endlich etwas oder jemanden zu finden. Nach Möglichkeit einen miesen Dreckskerl, den er am Kragen packen und…

Ein Signal seines Partners unterbrach ihn in seiner seligen Vorstellung von brutaler Gewalt gegen Menschen, die es nicht anders verdienten und ließ ihn automatisch in höchste Bereitschaft gehen. Wellton hatte nur eine Hand gehoben, doch das reichte, damit der andere einen ähnlich konzentrierten Zustand erreichte, wie er selbst.

Er bedeutete dem Anwärter leise und langsam zu folgen, während er seine Taschenlampe auf etwas richtete, was dieser noch nicht sehen konnte, da es durch die breite Schulter seines Vormannes verborgen wurde. Beide hielten jeweils eine Hand griffbereit an ihren Waffen, nur um sicherzugehen.

Kurz darauf erreichten sie das Objekt, dass sie in Alarmbereitschaft versetzt hatte. Es handelte sich um einen älteren Mann, der reglos an einem Metallpfeiler lehnte. Sein Kinn ruhte auf der Brust, die Augen hielt er geschlossen, Blut benetzte sein halbes Gesicht und großflächig den Mantel, den er trug. Dieser war einstmals schwarz und weiß gewesen, die komplette linke Hälfte schwarz, die andere weiß. Jetzt zeigte er sich mehr schwarz-rot. Der Brustkorb des Mannes schien sich auf den ersten Blick nicht zu bewegen.

Wellton bedeutete dem anderen weiterhin achtsam zu sein, während er selbst einen Schritt auf den Alten zumachte und eine Hand ausstreckte, um den Puls zu prüfen. Dazu sollte er jedoch nicht kommen, da gerade, als er sich vorbeugte, Bewegung in den leblosen Körper kam, was den Kommissar dazu veranlasste, einen Satz zurück zu machen und seine Waffe auf ihn zu richten.

Der Unbekannte holte röchelnd tief Luft, wobei er den Kopf in den Nacken legte. Erst jetzt wurde ersichtlich, dass das Blut aus seinen Augen stammte, oder aus dem, was von ihnen übrig war. Außerdem blitzte etwas in seiner linken Hand auf, während er sich bewegte, was Kubinsky sogleich als Messer oder Dolch identifizierte. Es klebte Blut daran, ob seines, oder das der vielen Opfer weiter drinnen, vermochte er nicht zu sagen.

„Legen Sie das Messer weg und heben Sie die Hände“, verlangte Wellton in gemäßigtem, aber deutlichen Ton, der keinen Widerspruch zuließ.

Der Alte tat nichts dergleichen, sondern bewegte nur ein paar Mal langsam den Kopf hin und her. Dann stieg ein dreckiges Lachen seine Kehle empor, wodurch deutlich wurde, dass er zuvor den Kopf geschüttelt hatte und sich nun über die beiden Besucher lustig machte. „Selbst wenn ihr wolltet, ihr könntet mich nicht töten“, erklärte er krächzend.

„Hände hoch, habe ich gesagt!“, auch wenn er noch weit davon entfernt war zu brüllen, schallten die Worte des Kommissars klar und deutlich wieder.

Dieses Mal leistete der Verdächtige tatsächlich Folge, jedoch anders als erwartet. Er hob nur eine Hand, die, in der er den Dolch hielt und legte sich die Klinge selbst an den Hals. „Sei still du Narr, oder ich beraube euch der einzigen Möglichkeit herauszufinden, was sich hier abgespielt hat.“

Seiner Stimme zu lauschen, bereitete Kubinsky jetzt schon Kopfschmerzen. Es klang als würde man zwei rostige Rohre aneinander reiben.

„Was soll das bedeuten?“, verlangte sein Gegenüber zu wissen.

„Das, was ich gesagt habe“, erwiderte der Alte, wobei er nicht einmal den Hauch von Angst zeigte. Nicht einmal Schmerz zierte seine Gesichtszüge und das, obwohl man ihm offensichtlich die Augen ausgestochen hatte.

Sofern er es nicht selbst war, dachte Kubinsky düster.

„Ihr werdet mich nicht erschießen, solange ich hier ruhig sitzen bleibe“, erklärte er weiter. „Aber ich mir, ohne zu zögern, die Kehle durchschneiden, wenn ihr auch nur einen falschen Schritt macht oder mich meiner wertvollen Zeit mit sinnlosen Fragen beraubt. War das eindeutig?“

„War es.“ Es gefiel Wellton nicht auf diese Forderungen einzugehen, doch konnte er nicht riskieren ihren aktuellen Hauptverdächtigen durch unbedachtes Handeln zu verlieren. 

„Gut, dann hier noch ein paar weitere Regeln: Erstens, niemand außer euch beiden nähert sich mir. Alle anderen die auf dem Weg hierher sind, sollen abziehen.“

Da er nicht weitersprach, bedeutete es wohl, dass sie dieser Aufforderung sofort nachgehen sollten, weswegen der Kommissar sein Walkie-Talkie zur Hand nahm und kurzerhand die Situation durchgab. Es wurde bestätigt, dass die Suche vorerst eingestellt werden würde, was den Alten zufriedenzustellen schien.

„Schön. Punkt zwei: Während meines Berichtes wünsche ich nicht unterbrochen zu werden. Ich werde euch beiden, wie man es mir aufgetragen hat, erzählen, was hier geschehen ist. Danach wird alles klar sein. Zwischenfragen werden also nicht erforderlich sein und vor allem nicht toleriert. Verstanden?“

„Verstanden?“

„Und Drittens: Nehmt gefälligst die Waffen runter. Eure Arme werden sonst nur müde, dabei sollte eure ganze Aufmerksamkeit mir und dem gelten, was ich zu sagen habe. Sie waren da sehr deutlich.“

Unüberlegt bewegte sich Kubinsky’s Lippen, ehe er etwas dagegen unternehmen konnte. „Wer war da sehr deutlich?“

Der Mund des Alten verzog sich zu einer grimmigen Maske. Naserümpfend antwortete er, wobei jedoch die Klinge an seinem Hals durch ein kurzes Zucken seiner Hand näher an seinen Hals gedrückt wurde und ein feines Rinnsal sich da bildete, wo er die Haut anritzte. „Sie, seine Kinder natürlich. Jetzt sei gefälligst still, Junge, sonst wirst du so dumm sterben, wie du geboren worden bist.“

Diese Beleidung zuckte wie ein roter Blitz durch seinen Verstand und beinahe, nur beinahe, wäre er vorgeprescht, um den Mistkerl zu packen, einmal durch den Raum zu werfen, sich wieder auf ihn zu stürzen und ihm ein paar zu verpassen. Erneut wunderte er sich selbst über seinen plötzlichen Gefühlsausbruch, schob es jedoch auf den Stress, des hiesigen Tages.

„Du solltest das Feuer in deinem Inneren bändigen, Junge“, kommentierte der Alte, als ob er riechen konnte, was in ihm vorging. „Sonst wird es dich eines Tages verzehren.“

Und du solltest dich um deine eigenen Angelegenheiten kümmern, drohte er schweigend, wobei er sich selbst ein wenig lächerlich vorkam, was ihn nur noch wütender machte.  

„Also dann, sperrt die Lauscher auf, denn ich werde mich nicht wiederholen. Hört die Geschichte eines glorreichen Tages, der in die Analen hätte eingehen sollen, stattdessen jedoch in Chaos und Tod mündete. Möge sie euren Glauben zerrütten und alles Bekannte in Frage stellen lassen.“

Kubinsky verdrehte übertrieben die Augen. Eine Handlung, die wenige Sekunden später, die er gebannt zuhörte, bereits in Vergessenheit geriet.

 

Ritual zu Ehren der Schöpfer[]

Lautes, schmerzerfülltes Geschrei erfüllte den Raum und hallte von den Höhlenwänden wider. Kaum jemand schenkte dem Beachtung, da die Aufmerksamkeit der meisten, auf den Mann zwischen ihnen gerichtet war, den alle nur den Suchenden nannten. Einst mochte er einen bürgerlichen Namen besessen haben, doch hatte er ihn schon vor langer Zeit abgelegt. Seinem irdischen Namen bemaß er schon lange keine Bedeutung mehr bei, denn ihn verband nichts mehr damit. Der Mann, der er einst gewesen war, war gestorben und aus seinen Überresten hatte sich ein höheres Ich erhoben. Ein Wesen, gesegnet mit Wissen, das zu teilen, er nur zu gerne bereit war, sofern seine Zuhörerschaft es von Herzen nach diesem Wissen verlangte.

Heute war der Tag gekommen, da er eine kleine, ausgewählte Schar, dieser Wissbegierigen, um sich versammelt hatte. Ausnahmslos solche, die bereit waren ihr Leben für das zu geben, was er zu bieten hatte. Einigen von ihnen nahm er dieses Opfer dankend ab, die anderen würden mit Erkenntnissen gesegnet werden, die ihnen die Augen öffnen und ihr Weltbild für immer verändern würde.

Das der Sucher sich selbst dabei erhoffte, sein Wissen zu mehren, war ein offenes Geheimnis. Der Name allein gab es Preis, doch wenn man ihn danach fragte, gestand er nur allzu bereit, selbst auch nur einen Bruchteil erfahren zu haben. Doch allein dieser Bruchteil machte schon ein Vielfaches mehr dessen aus, was die meisten nicht einmal erahnten.

Mit diesen und weiteren Verlockungen hatte er sie heute hierherbeordert. Seine Jünger, seine Bruderschaft, seine Mitsuchenden.

„Freunde“, rief er lauthals, wobei seine gebrechliche Stimme, trotz seines Alters, jede Silbe weit trug und jedes Ohr erreichte, ja, selbst das Geschrei bei Weitem übertönte. „Heute ist der Tag endlich gekommen, da wir auf unserem Weg ein ganzes Stück voranschreiten werden!“

Besonnenes Gemurmel war die Antwort, welches gebündelt bis in die Tiefen der Gänge reichte. Vorsichtige Euphorie, die ihre insgeheime Vorfreude aufs unermessliche spannte, war alles, was die Versammelten sich gestatten, dabei herrschte kein Gebot der Ehrfurcht. Nicht, dass der Alte sich daran störte, ganz im Gegenteil. Zwischen ihnen stehend, sich der Aufmerksamkeit aller gewahr seiend, in seinem strahlenden und gleichzeitig düsteren Mangel einen prächtigen Anblick bietend, genoss er es förmlich im Rampenlicht zu stehen, sich darin zu sonnen. Diese nur allzu menschliche Empfindung gönnte er sich in den letzten Minuten, ehe er in noch höhere Sphären aufsteigen und sich allem Menschlichen entsagen würde.

„Werden wir das Ende des Pfades erreichen?“, tönte er nach einer langen Pause weiter. „Nein, freilich werden wir das nicht! Die Zeit eines ganzen, sich verschriebenen Menschenlebens wäre nicht genug, um diesem Ziel auch nur nahezukommen, doch in unserem Fall ist der Weg das Ziel oder vielmehr, der Stein, der alles ins Rollen bringt und spätere Generationen dazu animieren wird, unsere Suche fortzusetzen!“

Bedächtiges Schweigen. Das Wissen darum, kein fester Bestandteil dieser späteren Generation sein zu können, hatte ihnen schon ein ums andere Mal einen Dämpfer verpasst. Ein Umstand der ausgerechnet am heutigen Tage, den Sucher dazu verleitete, eilig fortzufahren, um den zerbrechlichen Glauben seiner Jünger nicht zu sehr ins Wanken bringen zu lassen.

„Andererseits“, gestand er ein, „bin auch ich nicht allwissend. Niemand kann vorhersagen, was nach dem heutigen Tag geschehen mag. Womöglich werden uns die Schöpfer ein Geschenk ungeahnten Ausmaßes machen. Nicht, dass wir es von ihnen verlangen würden. Sie allein werden entscheiden, wie auf die inbrünstigen Gebete ihrer Diener zu reagieren ist, doch wie immer es auch ausgeht, es wird glorreich sein!“

Ein Frevel, den seine Jünger vermutlich erkannt und angemahnt hätten, wären sie bereits länger mit ihren Studien beschäftigt gewesen und überdies, an einem solch wichtigen Ereignis, nicht voll Tatendrang und wahnhaftem Eifer. Bevor er weitersprach, schickte der Sucher eine ernstgemeinte Entschuldigung in alle Sphären, denn keine Handlung der Schöpfer war jemals nur glorreich, nur glorifizierend, nur richtig oder gut. Jede ihrer Entscheidungen, symbolisierte eine Medaille. Immer und zu jeder Zeit. Das war Teil ihres Wesens, welches gleichwohl den Raum ausmachte, der jedes Leben umgab: Den Kosmos selbst.

„Es ist kein besonderer Tag, meine Freunde. Nicht im weltlichen oder universalen Sinn. Die Schöpfung existiert zu jeder Zeit an jedem Ort, ihr Wirken beeinflusst uns zu jeder Sekunde, bei jedem unserer Atemzüge. Ein Mondzyklus, ein Jahrestag, ein bestimmte Planetenkonstellation, dies alles spielt für uns keine Rolle. Wir hätten unser Ritual ausführen können, wann immer wir wollten. Wir tun es jetzt, hier und heute und allein, weil wir es tun, ist es der richtige Ort und die richtige Zeit.“

Die Stimmung hob sich wieder deutlich. Zweifel wurden über Bord geworfen, man gab sich voll und ganz, erwartungsvoll dem Folgenden hin. Zufrieden mit sich, erlaubte der Sucher es sich, einen Moment lang leise in sich hineinzulächeln. Wohlan, dieser Tag würde glorreich werden, es konnte gar nicht anders kommen.

„Lange haben wir uns vorbereitet, nun wird es Zeit, die Früchte unserer Arbeit zu ernten. Deswegen wollen wir nicht weiter verharren, Freunde, sondern endlich beginnen.“ Während er das sagte, drehte er sich einmal im Kreis, wobei er jeden der sechs Eckpunkte genaustens musterte. Nirgends entdeckte er eine Schwachstelle, ein Wanken des Glaubens. Seine Mitsuchenden waren bereit, so bereit wie sie es nur sein konnten, nun, mit Ausnahme einer Person vielleicht, aber die zählte nicht. Die Schmerzen der Wehen machten es ihr schwer, in der Blüte ihres Lebens, in dem einzigen Augenblick, der zählte, vollkommen darin aufzugehen. Es wurde ihr verziehen.

Schließlich verharrte der Alte mit Blick auf ein aufgebautes Taufbecken. Zwei seiner Brüder hielten sich dort bereit, einer davor, in einem blauen Mantel gekleidet, der andere direkt hinter ihm, ganz in schwarz. „Das erste Opfer, meine Freunde, wird Myr, der Schöpferin des Wassers gereicht!“, verkündete der Suchende mit klarem, gefasstem Ton. Er hatte noch nie gemordet, geschweige denn einen Mord veranlasst. In dem Augenblick, in dem er im Begriff war es zu tun, erkannte er, dass es ihm keine Schwierigkeiten bereitete. Sein Gewissen regte sich nicht, wurde vom Zweck der höheren Ziele beruhigt. Gut, etwas anderes hätte er auch nicht zulassen dürfen.

Auf sein knappes Nicken hin, ging es los. Der vordere der beiden schloss, sein Schicksal erwartend, die Augen. Er wehrte sich nicht, als sein Hintermann sanft, aber bestimmt seinen Kopf packte und hinab in das Becken, mit dem Gesicht voran drückte. Erst geschah nichts, nach einigen Sekunden jedoch begann das Opfer sich zu regen, erst schwach, dann immer stärker. Er presste die Hände an den Beckenrand, versuchte sich hochzudrücken. Als das nicht klappte, suchte er nach den Händen seines Peinigers, krallte sich in ihnen fest, rüttelte an ihnen, schlug nach ihnen. Ohne Erfolg. Mit verbissener Miene verrichtete der zweite sein Werk. Es kostete ihn sichtlich Kraft. Wasser spritzte zu den Seiten hin weg, erst zunehmend, dann immer weniger. Nicht jedoch, weil das Becken sich leerte, sondern weil der Widerstand nachließ. Irgendwann kehrte Stille ein, die nur vom Wimmern der Schwangeren unterbrochen wurde, zu dem sie mittlerweile übergegangen war.

Der Suchende gewährte der Ruhe noch einen Moment sich zu entfalten, ehe er weiterhin gefasst, das Wort erneut ergriff. „Myr dankt es dir, Bruder.“

„Myr dankt es dir!“, wiederholten die anderen im Chor.

Er drehte sich von der südöstlichen Ecke zur südwestlichen. Dort war ein Scheiterhaufen errichtet worden, an dem bereits das Opfer, in rotem Mantel, gebunden worden war. Ein weiterer Jünger in weiß stand mit einer Fackel bereit, das entzündliche Holz zu entfachen. „Das zweite Opfer, meine Freunde, wird Pyrus, dem Feuerelementar gereicht!“

Kaum ausgesprochen, senkte sich die lodernde Fackel auch schon. Das Feuer breitete sich schnell aus und seine nach oben steigende Hitze noch schneller. Es raubte dem Opfer den Atem, ließ ihn sich winden und an seinen Fesseln zerren. Als es seine Beine erreichte und begann sich durch seine Haut zu fressen, schrie er, nein kreischte förmlich. Der Geruch nach verbranntem Fleisch breitete sich schnell aus veranlasste aber niemanden dazu, sich abzuwenden. Die Flammen loderten noch lange, länger, als die Schmerzenslaute anhielten, da dass Opfer bereits vergangen war und lediglich seine Überreste, weiter verkohlten. Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte das Feuer nichts mehr, woran es sich nähren konnte und erlosch in immer leiser werdendem Knistern.

„Pyrus dankt es dir, Bruder“, erschallte zum zweiten Mal die Danksagung des Suchers.

„Pyrus dankt es dir!“, echoten seine Jünger.

Dem Leichnam keinen weiteren Blick würdigend, wandte die zentrale Figur sich erneut. Dieses Mal in nordöstliche Richtung. Dort fand sich eine etwa ein Meter hohe Kiste, in Form eines Sarges. Das Opfer lag bereits am Grund festgebunden darin und war zu einem Großteil mit Erde bedeckt worden, nur sein Gesicht stach noch deutlich hervor, weswegen sein brauner Mantel nicht zu sehen war. Neben dem Sarg stand eine Plattform, auf der ein ausreichender Hügel Erde aufgeschichtet worden war. Ein Schaufelträger in schwarz wartete nur auf das Kommando, sie herabzulassen. „Das dritte Opfer, meine Freunde, wird Krygan, dem Erdelementar gereicht!“

Schon senkte sich die erste Ladung Erde hinab, gefolgt von der zweiten und dritten. Es brauchte nicht lange, bis das Opfer versuchte seine Atemwege frei von den Klumpen zu halten, die auf ihn herabregneten. Wieder und wieder windete er den Kopf hin und her, wobei seine Versuche mit jeder weiteren Schaufel von weniger Erfolg gekrönt wurden. Irgendwann sah man nur noch, wie die Erde sich ein wenig auf und ab bewegte und hörte, wie gedämmtes Stöhnen aus dem Inneren hervordrang. Dann brauchte es nicht mehr lange, bis die Bewegungen restlos eingestellt wurden.

„Krygan dankt es dir, Bruder.“ Langsam wurde seine Kehle trocken, doch mit solchen Belangen konnte er sich nicht länger aufhalten. Er musste fortfahren, durfte das Ritual nicht ins Stocken geraten lassen. Ein einziger Fehler, konnte alles zunichtemachen.

„Krygan dankt es dir!“

Gerade als er sich wieder drehte, wobei seine Augen unweigerlich über die Schwangere glitten, machte ihn der dort platzierte weitere Jünger auf sich aufmerksam. Auch wenn er nicht sprach, so war seinem Gesichtsausdruck doch deutlich anzusehen, was er mitzuteilen hatte: Es kommt zu früh!

Verdammt, damit hatte er nicht gerechnet. Auch wenn er freilich nichts sehen konnte, weil die Scham der Frau, die ihm direkt entgegenstierte, von einem hellgrauen Tuch bedeckt wurde – sie selbst trug ein dunkelgraues Oberteil –, zweifelte er nicht an der Botschaft. Doch davon ließ er sich nicht aus der Ruhe bringen, es bedeutete nur, dass sie sich ein wenig beeilen mussten. Gut, dass nur noch ein Opfer fehlte.

Der Suchende vollendete seine Runde und sah dem letzten Aufbau in der nordwestlichen Ecke. Das vierte Opfer in einem grünen Mantel gekleidet, war auf einem Stuhl fixiert worden. Einen Ärmel seines Mantels hatte man hochgekrempelt und den Arm abgebunden, so dass die Venen deutlich hervortraten. Der Jünger neben ihm zog bereits eine lange, leere Spritze auf. Der Kolben füllte sich mit nichts als Luft. „Das vierte Opfer, meine Freunde, wird Zyra, dem Windelementar gereicht!“

Sogleich beugte der Jünger sich herab, stach die Nadel präzise in eine Vene und drückte den Kolben ganz durch. Dann löste er die Bindung, so dass die Luftblase sich frei in der Blutbahn bewegen konnte. Schon wenig später erreichte sie die Herzkammer, daran zu erkennen, dass das Opfer die Augen plötzlich weit aufriss und ein Stocken durch seinen Körper ging. Verzweiflung machte sich in seinem Gesicht bereit, während er verkrampfte und sein Herz versuchte Blut zu pumpen, wo keines mehr war. Dann setzte es völlig aus, sein Kopf sagte nach vorn und es herrschte erneut Stille.

„Zyra dankt es dir, Bruder.“

„Zyra dankt…“ Das Echo wurde durch eine gellenden Schrei unterbrochen. Augenblicklich riss der Suchende den Kopf herum und erblickte seine Quelle. Ein winziges Wesen, welches in den Armen eines Jüngers ruhte und es gerade in weiteres, hellgraues Tuch wickelte.

Zu früh, dachte er verbissen. Nur knapp, aber dennoch. Es ärgerte ihn, machte ihn sogar ein wenig wütend, auch wenn er nicht glaubte, dass es einen wesentlichen Bruch in seinem Ritus darstellte. Ausgerechnet heute hätte alles perfekt sein müssen, stattdessen jedoch hatte dieses Weib, die sich eine von ihnen schimpfte, alles verbockt. Sie hatte nur eine einzige Aufgabe gehabt und nicht einmal die, hatte sie richtig machen können!

Nach außen hin ließ er sich von seinem kleinen Tobsuchtsanfall nichts anmerken. Freudestrahlend trat er aus dem Zentrum des Sterns, welcher durch ein Yin und Yang Symbol gekennzeichnet war und schritt auf das Neugeborene zu, welches gerade von der Nabelschnur getrennt wurde. Als er ankam, konnte er es sogleich in Empfang nehmen, das kleine Wesen, das immer noch aus vollen Lungen plärrte, sich aber langsam beruhigte.

Mit dem Kind im Arm wandte der Suchende sich wieder dem Zentrum zu, ohne jedoch darauf zuzugehen. Stattdessen hob er das Bündel hoch in die Luft und verkündete dabei: „Das Symbol des Lebens, meine Freunde, Äther, der oberste Schöpfer, wird wohlwollend auf uns herablächeln.“

Da das Kleine in seinen Händen sich unruhig hin bewegte, nahm er es vorsichtig wieder herunter, ehe es noch seinen zittrigen, alten Händen entglitt. Dabei fiel sein Blick auf das unschön anzusehende, noch leicht verschmierte und zerknautschte Gesicht des Winzlings. Einen winzigen Augenblick lang geriet er ins Wanken. Ein Zögern, welches seinen Geist wie ein Peitschenhieb durchzuckte, ihm bewusst machte, was er hier im Begriff war zu tun oder besser gesagt, schon getan hatte. Doch die Stimme seines Gewissens, oder besser gesagt des Mannes, der er einst gewesen war, verstummte sogleich wieder und sank zurück in die Tiefen, in die er sie schon vor langer Zeit verbannt hatte.

Um weitere, unnötige Unterbrechungen zu vermeiden, wandte er sich wieder zu seinen Jüngern direkt hinter ihm um und bedeutete dem einen, dass rollbare Bett, auf dem die erschöpfte Frau lag, rüber auf die andere Seite zu schieben. Im Vorbeifahren drehte sie den Kopf und schaute ihr Kind an, wobei ein leises Flehen sich aus ihrer Kehle löste. „Bitte“, flüsterte sie. „Ich will ihn wenigstens einmal halten dürfen.“

Dieses Mal konnte er ihn nicht verbergen, seinen Zorn. Missbilligend verzogen sich seine alten Gesichtszüge zu einer hässlichen Fratze. Regelrecht angewidert, machte er dem anderen Jüngling deutlich, sich zu beeilen, doch selbst jetzt, da sie seine schiere Empörung über ihr Verhalten gesehen hatte, wagte sie es noch die Hand nach ihm oder vielmehr, nach ihrem Sohn auszustrecken. Wie konnte sie nur! Als getreue Dienerin der Schöpfer und der Lehren des Suchenden, der sie ihnen erst nahgebracht hatte, sollte es ihr eine Ehre sein, ihren Nachwuchs ohne jeden Zweifel und jedes Begehren in die Hände ihrer Bruderschaft zu geben!

Ihm jedenfalls war dies eine Lehre, eine Lehre darin, sich seine Anhänger ab sofort unter kritischeren Aspekten auszusuchen, sie genauestens zu prüfen, ehe er sie an seine Seite ließ. Für heute jedoch gab es kein Zurück mehr, weswegen er mit dem arbeiten musste, was er törichterweise leichtsinnig angenommen hatte. 

Und es sollte noch schlimmer kommen. Während sie weitergeschoben wurde, wagte es das Weib doch tatsächlich noch hysterisch zu werden! Sie kreischte und zeterte und verlangte, dass man ihr ihr Baby gab. Schrie, dass sie es sich anders überlegt hätte, dass sie nicht sterben wollte. Beinahe hätte sie es sogar geschafft sich von dem Bett zu stürzen, wenn nicht einige weitere Jünger herbeigeeilt wären, um sie festzuhalten.

Solch ein Verhalten war in den Augen des Suchenden unverzeihlich. Dass die anderen Opfer geschrien und sich gewehrt hatten, hatte er akzeptiert und vielmehr als Ausdruck ihrer Inbrunst hingenommen. Mit Kraft und aller Gewalt, hatten sie sich an das geklammert, was die Schöpfer ihnen in ihrer Güte und Grausamkeit gewährt haben, ihr größtes Geschenk an sie alle: Das Leben selbst. Doch diese Frau, krallte sich einzig und allein an ihre plötzlich aufkeimenden, egoistischen Belange.

Als sie das andere Ende erreichte, verstummte ihr Gezeter alsbald, da ein Dolch ihre Brust durchdrang und ihr Herz durchstieß. Während dieses Prozesses verkündete der Suchende, mit einem nicht zu verachtenden wütenden Unterton: „Das fünfte und letzte Opfer meine Freunde, an den Tot selbst, damit das ausgehauchte Leben in den ewigen Kreislauf zurückkehren kann, auf das aus der Asche, Neues entstehen möge. Äther und der Tot danken es dir, Schwester.“

„Äther und Tot danken es dir!“

Auf den letzten Ausruf hin, hätte planmäßig nach einigen Momenten, in denen die letzten Töne ausklangen und sich in den Tiefen der Höhle verloren, bedächtige, allumfassende Stille folgen müssen, in der die Suchenden sich besinnen und auf das Kommende vorbereiten konnten, doch wurde dieser Plan durch das wieder einsetzende Plärren des Kindes in des Alten Armen gestört.

Wie die Mutter so der Sohn, dachte er verärgert, hielt seine Gefühle jedoch im Zaum. Dem Kleinen durfte nichts geschehen, andernfalls wäre die ganze Arbeit umsonst gewesen, weswegen er es behutsam, in die dafür vorgesehen Wiege legte, die weiter hinten in weiser Voraussicht vorbereitet worden war. Dann marschierte er zu seinem Platz zurück-

Da sie ohnehin, dem Baby zum Dank, nicht zur Ruhe kommen würden, konnte er genauso gut noch ein paar Worte an die verbleibenden Jünger richten. „Es ist vollbracht, meine Freunde, das Ritual war, von ein paar kleinen Störungen mal abgesehen, ein voller Erfolg. Die Schöpfer alles Bekannten und Unbekannten, schauen in diesem Moment schon auf uns hernieder und bereiten sich darauf vor, einen oder mehrere der Ihren, zu uns zu schicken.“

Auch wenn er es nicht aussprach, so hoffte der Suchende insgeheim doch, dass ein ganz bestimmter Schöpfer aus seinen Sphären zu ihnen kommen würde. Er, dessen Farben er trug und der einzige, den sie nicht angerufen hatten: ShadowLight, der Ordnung – und Chaos – in die formlose, unbeständige Materie Äthers, der reinen Energie gebracht hat. Zwar rangierte Äther als oberster Schöpfer über allem, doch wäre er ohne das wahrhaft erstgeborene Wesen, nie dazu fähig gewesen, sich selbst Beständigkeit zu geben. Erst durch ihn konnten die anderen Schöpfer entstehen und mit ihnen der Kosmos, wie sie ihn heute kannten.

Während er darüber sinnierte, bemerkte der Alte nicht, wie die Zeit ohne wesentliche Ereignisse verstrich. Seine Jünger gaben natürlich keinen Laut von sich, doch wäre selbst dem unaufmerksamsten Beobachter aufgefallen, dass sich langsam Unruhe in ihnen breitmachte. Der fragile Glaube, der sie zu diesen schrecklichen Taten erst verführt hatte, begann zu bröckeln, ihre Fassaden bekamen Risse. Wenn nicht bald ein Wunder geschah, oder die Schöpfer, zu deren Ehren sie dieses Ritual angeblich durchgeführt hatten, ein winziges Zeichen von sich gaben, würden sie an sich selbst zugrunde gehen. Was dann geschah, konnte niemand vorhersehen, doch für ihren Herrn, den Verleiter, Verführer und großen Redner, würde es sicher nicht gut ausgehen.

Gerade als der kritische Punkt langsam erreicht wurde und in das Bewusstsein der Versammelten der Verdacht sickerte, dass sie die letzten Monate und teilweise Jahre, für nichts und wieder nichts, für haltlose Lehren, die zwar nett klangen, doch nichts weiter als leere Phrasen gewesen waren, aufgegeben, nein regelrecht weggeworfen hatten, kam es urplötzlich aus dem Nichts, das Zeichen, auf das sie so sehnsüchtig warteten und das all ihre Handlungen rechtfertigte.

Erst erstrahlte ein gleißender, greller Blitz, hell genug um alle Anwesenden, die nicht sofort die Augen schlossen zu blenden, weil es ihnen die Netzhäute verbrannte. Gefolgt wurde er von einer endlosen, dichten Finsternis, die kein Licht der Welt zu durchdringen vermochte. Auch diese verschwand so schnell wie sie erschienen war und gab schließlich den Blick – für die, die noch sehen konnten, zwei der Jünger hatten tatsächlich ihr Augenlicht verloren, waren aber noch zu schockiert, um darüber in Panik zu geraten – auf zwei Gestalten freigab.

Es hat funktioniert!, frohlockte der Suchende, bis ihm klar wurde, was er da vor sich sah, wodurch seiner Hochstimmung ein Dämpfer verpasst wurde. Zwei?, durchzuckte es ihn. Warum sind es zwei?

  

  

Screenshot (8)

Begegnung mit höheren Mächten []

Inmitten der Halle standen zwei Gestalten unbestimmten Alters. Ein Frau und ein Mann.

Der Körper der Frau wurde von einem Mantel umhüllt, welcher dunkler als die finsterste Nacht, alles Licht in seiner Umgebung aufzusaugen schien. Bei längerer Betrachtung glaubte der Suchende, sich in dem schwarzen Material verlieren zu können, wenn er zu lange darauf starrte, weswegen er sich eilig davon abwandte und aufschaute, was die Sache jedoch nicht viel besser machte.

Ihr Antlitz war nicht im klassischen Sinne schön, eher unscheinbar und so bleich, dass es im krassen Kontrast zu ihrer Kleidung, ihrer pechschwarzen, langen Haare und Augen stand. Gleichwohl wirkte es aber so rein und makellos, dass der Alte sich schon nach wenigen Sekunden zur Räson rufen musste, da er wie ein geifernder Perverser, den Blick nicht von ihr lassen konnte. Gut für ihn, dass sie – zumindest noch –, mit ausdrucksloser Miene einen unbestimmten Punkt im Raum fixierte und nicht direkt ihn musterte.

Dieser Umstand erlaubte ihm, auch dem Mann an ihrer Seite eine Untersuchung zu unterziehen. Das Weiß seines Mantels schmerzte ihm beim Hinsehen in den Augen, so sehr leuchtete es. Das spiegelnde Ebenbild seiner Begleiterin also.

Ähnlich verhielt es sich mit seinem Gesicht, welches eine deutlich gesündere Hautfarbe als die, der Frau aufwies. Ein warmes Lächeln ruhte auf seinen Lippen, welches bis in seine blendenden Augen überging und durch seine kurzen, blonden Haare umrahmt wurde. Auch in seinem Antlitz fand sich kein Fehler, keine Unstimmigkeit, kein Makel.

Diese Wesen waren, obgleich menschlicher Statur, so weit vom bekannten Weltlichen entfernt, wie sie nur sein konnten. Auch wenn es nicht das war, was der Suchende sich erwartet oder vielmehr erhofft hatte, zeugte ihr Auftritt doch von seinem Erfolg. Ein seliges Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Hier kam sie endlich, seine Stunde, sein Moment des Glanzes, die glorreiche Zeit, die er sich ein Leben lang erträumt hatte.

Er breitete die Arme aus, als wolle er die beiden Neuankömmlinge begrüßen und posaunte, so laut es seine angeschlagenen Stimmbänder noch erlaubten: „Meine Freunde, unser Ritual hat…“

„Sei still“, durchdrang eine schneidende, eisigkalte Stimme den Raum, die, obwohl leise gesprochen, ja regelrecht geflüstert, jedes Ohr mit einer Klarheit erreichte, dass es beinahe schmerzte.

Erst mit Verzögerung registrierte der Suchende, dass die Frau sich nun ihm zugewandt hatte. Er schaffte es nur für die Zeit eines Wimpernschlages ihr in die dunklen Augen zu sehen, ehe er den Blick mit pochendem Herzen senken musste. Solch eine Erhabenheit! Dieses Bild war nie für seinen sterblichen Verstand gedacht. Zum ersten, aber nicht zum letzten Mal, fragte er sich – wenn auch nur kurz – ob er einen Fehler begangen hatte….

„Das war nicht nett, Schwester“, sprach eine andere Stimme, ebenso gemäßigt, doch gleichsam an Intensität, nur dass ihr Klang wie ein Glockenschlag in der Brust des Mannes widerhallte, der ihn belebte und mit Glückseligkeit erfüllte.

„Ist mir egal“, zischte die andere, was jede positive Emotion wie eine Blume verwelken und nichts als eine trostlose, graue Ebene zurückließ.

Der Mann hob abwehrend die Hände. „Hey, kein Grund mich gleich anzufahren, für deine miese Laune kann ich nichts. Ich habe dir bei unserem ersten Reiseantritt gleich gesagt, dass du dich um zehn Jahre vertust.“

„Sei du auch still“, wiederholte sie nur genervt, ehe sie sich an den Suchenden wandte, welcher schwer damit beschäftigt war, gegen das Auf und Ab seiner Seele anzukommen, ohne in dem tosenden Meer, in das sie von den beiden geleitet wurde, zu ertrinken. „Bist du der Verantwortliche hier?“

So direkt eine Frage gestellt zu bekommen, ließ den Alten zusammenzucken, mehr noch, er sank in sich zusammen und fühlte sich auf einmal klein und unbedeutend. Erst, als er sich der Tatsache gewahr wurde, dass seine verbleibenden Jünger jede seiner Handlungen mitverfolgten, biss er die Zähne zusammen und richtete sich wieder auf, um wenigstens eine Stück weit seiner Souveränität zurückzuerlangen.

„A-a-allerdings“, stotterte er, unterbrach sich mit einem Räuspern und setzte von Neuem an. Mit belegter, aber festerer Stimme dieses Mal. „Allerdings, der bin ich.“

„Gut“, meinte sie leichthin, vollführte einmal mit ihrem Arm eine fließende, vollendete Bewegung und hatte auf einmal ein schmales, schwarz-glänzendes Schwert in der Hand, dessen Klinge an einen Nachthimmel erinnerte.

Es dauerte ein paar Sekunden bis der Alte registrierte, was sich da vor ihm abspielte. Als die Frau dazu ansetzte, auf ihn zuzukommen, stolperte er plötzlich ein paar Schritte zurück und hob die Hände, um zu symbolisieren, dass er sich ergab – nicht, dass er auch nur im Traum daran dachte, sich zu wehren, geschweige denn erwartete, eine Chance zu haben. „Wartet! I-i-ich bin ein getreuer D-diener der S-s-schöpfer! Ich habe das alles hier nur f-f-für Euch getan!“ Er hasste sich selbst dafür so schwach und kleinlaut zu klingen, doch besser als Niemand abgestempelt, als gnadenlos niedergemetzelt zu werden.

„Oh“, erwiderte der Weißgekleidete, „wir sind keine Schöpfer.“ Er wiegte den Kopf ein paar Mal hin und her. „Nicht im ursprünglichen Sinn zumindest.“

Seine Schwester – sofern sie, dass den wirklich war – wandte sich halb zu ihm um, um ihn mit einem scharfen Blick zu mustern, was ihn jedoch nur dazu veranlasste, mit den Schultern zu zucken. Dann drehte er sich wieder zu dem Alten. „Wir wissen, dass du dein kleines Ritual für die Schöpfer durchgeführt hast, deswegen sind wir ja hier.“

Also doch!, frohlockte er. Auch wenn sein Leben gerade im wahrsten Sinn auf Messers Schneide lag, konnte er sich diesen kleinen Jubelschrei nicht verkneifen.

„Strenggenommen“, fügte ihr Bruder noch hinzu, „sind wir auf Vaters Anweisung hier.“

„V-vater?“, fragte er verdutzt.

„Japp“, bestätigte der andere leichthin. „Großer Typ, in schwarz und weiß gekleidet, ähnlich wie du, nur… na du weißt schon, stilechter halt. Hat an der Erschaffung des Kosmos mitgewirkt und so. Uns wurde gesagt, du wärst mit der Geschichte recht gut vertraut.“

„Das bin ich“, verkündete der Suchende, nicht ganz ohne einen Hauch Stolz in seiner Stimme. Es hatte einen Großteil seines Lebens gekostet, dieses winzige Bisschen Informationen zusammenzukratzen, dass ihn zu dem heutigen Tag geführt hat. „Euer Vater… sein Name lautet nicht zufällig ShadowLight?“

„Das ist einer der vielen Namen, unter denen er bekannt ist, ja“, nickte der Mann, der behauptete sein Sohn zu sein.

„Ich habe nicht gewusst, dass er… nun, Kinder hat.“

„Hat er auch nicht“, erklärte sein Gegenüber bereitwillig. Mit ihm zu sprechen war eine Wohltat und das aus mehrerlei Gründen. Seine Worte klangen immer noch zufriedenstellend in dem Suchenden wieder, weiterhin zeigte er sich bereit sein Wissen zu teilen und kam überdies nicht mit gezückter Waffe auf ihn zu – die Frau, verharrte an Ort und Stelle, machte jedoch keine Anzeichen ihr Schwert wegstecken zu wollen und machte auch sonst einen Eindruck, der nur als respekteinflößend bezeichnet werden konnte.

„Aber“, erkundigte der Alte sich vorsichtig, da die lapidare Art mit diesen allmächtigen Wesen zu reden, ihm falsch vorkam, seine Neugierde jedoch über alles Vernunft siegte, „Ihr sagtet doch, Euer Vater hätte Euch geschickt.“

„Das stimmt“, bestätigte der Weißgekleidete nickend und kratzte sich dann am Hinterkopf. „Es ist… ein bisschen kompliziert. Wir sind hier, oder besser gesagt jetzt noch nicht seine Kinder, weil wir noch gar nicht geboren wurden, verstehst du? Das wird erst in ein paar Jahren geschehen. Allerdings gibt es zu diesem Zeitpunkt hier ein empfindliches Ungleichgewicht, das behoben werden muss, damit gewisse… Dinge in Gang gesetzt werden können. Da Zeit und Raum für uns keine Rolle spielen, sind wir auf Vaters Anweisung zurückgereist, um diese Korrektur vorzunehmen.“

Ja, darüber hatte er einige Informationen zusammengetragen. Nachdem die Schöpfer den Kosmos mehr oder weniger vollendet und sich selbst überlassen haben, sind sie dazu übergegangen, über ihre Schöpfung zu wachen, über das Gleichgewicht, um präziser zu sein. Wenn es gestört wurde, drohte sämtliche Existenz ins Nichts zurückzustürzen, weswegen ihre Aufgabe von höchster Wichtigkeit war.

Auch wenn er sich kaum traute zu fragen, sprach er es trotzdem aus: „Und was für eine… Korrektur, soll das sein?“

Ein verschmitztes, vorfreudiges Lächeln zuckte über die schmalen Lippen der Frau, die sich nun wieder in Gang setzte. „Wirst du gleich sehen.“

„Nein!“, schrie der Alte wieder, wobei er erneut zurücktaumelte und auf einen der sechs Gänge zu stolperte. Nicht, dass er ernsthaft vorhatte zu fliehen – das hätte ihn eh nicht weit gebracht. „Ich flehe Euch an, tut mir nichts! Ich habe mein Leben nicht Euren Studien gewidmet, um jetzt einfach zu sterben!“

Sie reagierte nicht darauf, nicht wie erwartet. Stattdessen verschwand sie einfach und tauchte blitzartig wieder auf, nur dass sie jetzt direkt vor dem Alten stand, eine Hand ausstreckte, ihn an den Wangen packte und sein Gesicht ganz nah an ihres führte. Ihr so nahe zu sein, ihre Berührung zu spüren und dazu gezwungen zu werden, in ihre unendlich finsteren Augen zu blicken, ertrug er fast nicht. Es raubte ihm den Atem und Teile seines Verstandes. Sein Herz raste, sein Geist fieberte, seine Seele gefror.

„Wer sagt“, setzte sie säuselnd an, „dass wir hier sind, um dich zu töten?“

Seid Ihr nicht?, dachte er, da er sich zum Sprechen nicht in der Lage sah.

Sie schüttelte den Kopf, was wohl bedeutete, dass sie seine Gedanken lesen konnte. „Keineswegs. Wir brauchen einen Zeitzeugen, jemanden, der von dem Geschehen hier berichten kann. Auch das, gehört zu der Korrektur. Also sieh gut hin, merk dir jeden Schritt, den wir machen, damit du ihn später exakt wiedergeben kannst. Verstanden?“

Er nickte schwach, konnte nicht einmal mehr einen klaren Gedanken fassen.

„Gut“, lächelte sie zufrieden und gab ihm, bevor sie ihn losließ, einen sanften, fast schon gehauchten Kuss auf die Stirn. Die Stelle, an der ihre Lippen seine Haut berührten, brannte unter eisiger Kälte, wie die lodernden Flammen der Hölle. Wäre er dazu fähig gewesen, er hätte sich die Seele aus dem Leib geschrien aufgrund der Qual, die sein gesamtes Sein ergriff, stattdessen jedoch, fiel er wie ein nasser Sack in sich zusammen und blickte aus stumpfen Augen, was sich vor ihm abspielte.

Die Frau entfernte sich von ihm und wandte sich seinen Jüngern zu, wobei sie eine klare Botschaft vermittelte. „Ihr alle, die ihr noch hier seid, wurdet von diesem Mann korrumpiert. Er hat sich die Schwachen, die Suchenden, die Hilflosen ausgesucht. Menschen, in größter Not, die nicht wussten, wohin mit sich, die jeden Sinn verloren geglaubt haben. Er hat ihn euch geliefert, hat euer Dasein mit einem Zweck erfüllt und damit seine eigenen, egoistischen Ziele verfolgt. Am heutigen Tage werdet ihr wahrhaftig das erreichen, was ihr euch dank ihm erträumt habt: Ihr werdet einer höheren Macht dargereicht. Euer Tod wird nicht glorreich sein, er wird nicht in die Analen eingehen, ihr werdet nicht einmal eine Fußnote in den Büchern der Geschichtsschreibung sein, aber ihr werdet mit der Gewissheit sterben, dass euer Ende, dem Fortbestand all dessen, was euch so lieb und teuer ist, dienlich ist.“

Während ihre Worte langsam in das Bewusstsein der Jünger sickerte, die gerade dazu ansetzten, die Beine in die Hand zu nehmen – mit Ausnahme von zweien, die nur blindlings durch die Gegend tapsten da sie nichts mehr sehen konnten –, weil sie begriffen, dass sie geradewegs zur Schlachtbank geführt worden waren, seufzte der Weißgekleidete. „Bist du dann fertig?“ Während er das sagte, materialisierte sich in seiner Hand ein gewaltiges Breitschwert, welches ein Sterblicher unmöglich hätte tragen können, er jedoch mit Leichtigkeit in einer Hand führte. Es strahlte so hell wie die Sonne.

„Sicher“, bestätigte die andere auf einmal wieder kurz angebunden.

„Schön“, meinte ihr Bruder mit verkniffenem Gesichtsausdruck. Im Gegensatz zu ihr, schien ihm das Ganze keine diabolische Freude zu bereiten. „Dann lass es uns hinter uns bringen.“ Auf einmal verschwanden sie beide.

Die folgenden Bilder drangen erst mit reichlicher Verzögerung in den Verstand des Suchenden, der nunmehr vielmehr zum Beobachter degradiert worden war, ein.

Der Mann tauchte hinter einem der Jünger auf, welcher gerade im Begriff war, durch einen der Gänge zu verschwinden. Es war der Fackelträger gewesen, der das Opfer für Pyrus entzündet hatte. Noch während er lief, kippte sein Körper auf einmal vornweg, wobei sein Kopf ihm von den Schultern rutschte und einige Meter weiter kullerte. Er war Augenblick tot.

Ebenso verhielt es sich mit demjenigen, der Zyra ihr Opfer dargebracht hatte. Auch sein Fluchtversuch wurde prompt gestoppt, indem ihn enthauptete, wobei weder auf der Klinge des Schwertes, noch auf der Kleidung des Mannes, ein Tröpfchen Blut landete.

Seine Schwester ging deutlich brutaler vor. Dem Jünger, der das Opfer für Myr ertränkt hatte, durchstach sie in schnellen, präzisen Bewegungen von hinten die Lungen und ließ ihn elendig ersticken.

Dem, der Krygan sein Opfer unter die Erde gebracht hatte, schnitt sie mit einer einzigen Bewegung beide Füße ab und ließ ihn noch ein paar Sekunden über den Boden kriechen, ehe sie hinter ihm herging und ihm den Gnadenstoß verpasste.

Übrig blieb nur noch der Dolchträger, der die Schwangere und damit, das Opfer für das Gegenstück Äthers erbracht hatte. Auch er sollte nicht weit kommen, da die beiden Schöpfer-Kinder plötzlich neben ihm auftauchten, nunmehr jedoch unbewaffnet. Sie packten jeweils einen seiner Arme und zerrten daran, wodurch sein Körper – auch wenn es unmöglich sein sollte – mit einem Ruck entzwei gerissen wurde, wobei sein Kopf an der einen Hälfte hängend verblieb. Achtlos ließen die beiden die Überreste fallen, die mit einem klatschenden Geräusch aufkamen, welches den Magen des Alten sich umdrehen ließ. Das er dessen Inhalt bei sich behielt, konnte er nur dem Schock zuschreiben, unter dem er stand.

Nach getaner Arbeit kehrten die Geschwister zu ihm zurück. Er, mit angewiderter, sie mit zufriedener Miene. Letztere hielt jedoch nur für Sekunden und wandelte sich alsbald zurück in Ausdruckslosigkeit. Jede Empfindung, die in ihr hochstieg schien, wenn, dann nur von kurzer Dauer zu sein, während ihr Bruder sich vermutlich noch lange mit dem Geschehen hier beschäftigen würde.

„Jetzt bleibt nur noch eines zu tun“, verkündete die Schwarzgekleidete, wobei sie wenige Schritte vor dem ehemaligen Suchenden stehenblieb, während der andere an ihm vorbei und zur Wiege weiterschritt, in der das Kind schon lange aufgehört hatte sich Gehör zu verschaffen. Es brauchte nicht lange, dann kehrte auch er wieder in seinem Blickfeld auf, nunmehr mit dem Symbol Äthers im Arm.

„Was habt ihr mit ihm vor?“, fragte der Alte schwach. Eigentlich kümmerte es ihn nicht mehr, denn alles, was er aufgebaut hatte, alles wofür er gelebt hatte, war im Begriff restlos zerschlagen zu werden. Er hielt sich nur noch an einem seidenen Faden aufrecht, sowohl körperlich als auch emotional und geistig.

„Ihn an seinen rechtmäßigen Platz bringen“, meinte die Frau in einem Ton, der so viel sagte wie: Nicht, dass es dich etwas angehen würde.

Wohl wahr, er hatte eine Grenze überschritten, hatte eine Suche begonnen, die ihn auf einen aussichtslosen Weg geführt hat. Bereute er es deswegen, sich auf diesen Pfad begeben zu haben? Zu seiner Verwunderung stellte er fest, dass er sich nicht sicher war. Ein Teil in ihm schrie ihn an, dass er den größten Fehler gemacht hatte, den ein Mensch nur machen konnte einen anderen hingegen, lechzte es auch weiterhin nach mehr und immer mehr. Es gab noch so viel zu lernen, so viel zu erfahren. Viel zu viel, als das sein klägliches, kurzes Leben dafür genügte.

An diesem entscheidenden letzten Punkt, an dem er noch einmalig vor die Wahl gestellt wurde, zu seinem früheren Ich, zumindest für den Rest seiner Existenz zurückzukehren, übermannte ihn einmal mehr die Rastlosigkeit. Nein, er konnte nicht zur Ruhe kommen, niemals. Er nicht so weit gekommen, um jetzt das Handtuch zu werfen.

Mutig schaute er auf, hielt den Blicken seiner fremdartigen Besucher stand und forderte eine, wenigstens diese eine Information ein: „Verratet mir Eure Namen.“ Keine Bitte, kein Flehen, kein Kriechen vor Wesen, die so unendlich viel höher als er auf der Leiter der kosmischen Rangordnung standen.

Es schien keinen der beiden zu verwundern, immerhin hatten sie auch geduldig auf eine Reaktion seinerseits gewartet. Sie wandten sich kurz einander zu. Der Mann zuckte mit den Schultern. „Schätze das geht in Ordnung.“

Sie nickte, sah wieder ihn an und sprach ihren Namen aus. Er tat es ihr gleich. Zwei Mal in Folge drangen die Klänge in seine Ohren ein, in seinen Verstand. Sie nisteten sich dort ein, machten es sich bequem, breiteten sich aus und verdrängten weitreichend alles andere. Der Suchende starb erneut einen kleinen Tod, wie er ihn schon einmal durchlebt hatte. Ein Großteil seiner Selbst wurde schlicht ausgelöscht, da für diesen neuen Aspekt, sonst kein Platz gewesen wäre. Hätte er sich gewehrt, es hätte ihn förmlich zerrissen.

Er wehrte sich nicht, warum auch? Er hatte alles verloren, musste von Neuem beginnen. Er begriff es als Chance. Dieses Mal würde alles anders werden. Er hatte nun zwei weitere Namen erfahren und mehr noch, hat diesen Wesen wahrhaftig gegenübergestanden. Eine Erfahrung, die sich in ihn hineingebrannt hatte und Möglichkeit eröffnete, die ihm zuvor versperrt gewesen waren. Gewiss, es würde seine Zeit brauchen, doch er würde einen Weg finden sein Wissen zu mehren, bis er ihnen erneut entgegentreten konnte und dann, wäre er vorbereitet, nicht so töricht, in seiner Narretei die gleichen Fehler zu wiederholen. Sie würden ihn akzeptieren, würden sein Opfer annehmen, statt ihn dafür zu rügen, würden ihn belohnen und verflucht noch eins, es würde glorreich sein!

Während er darüber sinnierte, in sich selbst versank und Pläne schmiedete, wobei sein zerrütteter Geist immer weiter an den Rand des Wahns schritt, um sich ohne zu zögern, in die unendliche Kluft zu stürzen, sobald er sie erreichte, merkte er nicht einmal, wie seine Besucher wortlos, ohne eine Form des Abschieds, verschwanden.

Es brauchte mehrere Stunden, bis er aus seiner Trance erwachte. Ein Erwachen, dass ihn beinahe hätte aufschreien lassen, wenn er dazu noch die Kraft gehabt hätte. Sie waren weg und er allein zwischen einem guten Dutzend Leichen. Die Welt um ihn herum wirkte… leer, farblos, bedeutungslos. Sich ihr gegenüberzusehen, erregte Übelkeit in seinem Inneren.

Ohne eine bewusste Entscheidung zu treffen, begab er sich auf alle Viere und begann nach vorne, zu dem zweigeteilten Leichnam zu kriechen. Nur das dieser nicht sein Ziel darstellte. Bei ihm angekommen, nahm er den Dolch an sich, richtete sich auf zittrigen Beinen, die ihn kaum mehr zu tragen vermochten auf und suchte sich ein Versteck. Früher oder später würde jemand hierherkommen und die Überreste seines Rituals vorfinden. Man würde nach ihm suchen. Bis dahin wollte er warten, aber versteckt, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, zuerst einer kleinen Zuhörerschaft zu begegnen.

Während er wartete, wollte er sich aber nicht dazu gezwungen sehen, dieser grauen Welt noch mehr Aufmerksamkeit als nötig zu spenden, weswegen er sich, kaum dass er ein geeignetes Versteck gefunden hatte, kurzerhand seines Augenlichts beraubte. Der Schmerz war heftig, beinahe unerträglich, doch er überstand ihn mit der Gewissheit, dass er einem höheren Zweck diente. Er brauchte nicht zu sehen, um auf dem rechten – dem einzig richtigen! – Pfad zu bleiben.

Wie viel Zeit danach verstrich konnte er im Nachhinein nicht mehr sagen. Erneut versank er in sich selbst und seiner Gedankenwelt, die sich immer tiefer in ein Geflecht grub, aus dem es kein Entrinnen mehr gab. Aus klaren Gedanken wurden erst Empfindungen, dann Eindrücke und schließlich nicht viel mehr als eine zusammenhanglose Schar wirrer Bilder. Erst als sich nähernde Schritte seinen Gehörsinn erreichten, erwachte er daraus. Automatisch packte er den Dolch zu seiner Seite fester. Endlich, sein Warten hatte ein Ende.

 

Schreiten auf neuen Pfaden []

Wellton und Kubinsky schwiegen eine ganze Weile, nachdem der Alte aufgehört hatte zu erzählen. Beinahe schien es, sie warteten auf die Pointe dieses kosmischen Witzes, denn um nichts anderes konnte es sich handeln, doch diese blieb aus. Es folgte keine Auflösung, keine Erklärung, die die Geschichte in ein gerades, logisches oder wenigstens halbwegs plausibles Bild zurechtrückte.

Irgendwann tauschten die beiden Polizisten eindeutige Blicke miteinander aus. Stumm erklärten sie den Mann für geistesgestört.

„Schön“, brummte Kommissar Wellton schließlich, „sie haben uns Ihre Geschichte erzählt, während wir Ihre Forderungen erfüllt haben. Wollen Sie dann das Messer herunternehmen?“

Erneut lachte er sein dreckiges, kratziges Lachen. Es dröhnte im Schädel Kubinsky’s, der nach diesem Tag in absoluter Regelmäßigkeit von Kopfschmerzen geplagt werden sollte. „Ihr habt nichts verstanden, oder? Narren!“, kreischte er plötzlich, wobei beide Polizisten ihre Waffen hoben. „Es gibt nichts mehr, was mich auf dieser Ebene der Existenz hält. Ich habe einmal versucht sie zu erreichen und bin gescheitert. Sie haben sich mir verweigert, haben mich zu ihrem Zweck missbraucht. Schön, das akzeptiere ich. Dafür aber verlange ich, Selbiges nun von ihnen. Ich werde mich an ihre Fersen heften, werde sie finden und bekommen, was mir für meine Mühen rechtmäßig zusteht! Und jetzt entschuldigt mich, ihr Unwissenden, ich habe eine Verabredung mit meinem Schicksal.“

Mit diesen letzten Worten zog er den Dolch seine Kehle entlang und schnitt dabei so tief, dass Kubinsky auch ohne weitreichende, medizinische Kenntnisse gewusst hätte, dass jede Hilfe zu spät kommen würde. Das Blut sprudelte nur so aus ihm heraus, während sich sein Körper gurgelnd zur Seite neigte. Wellton unternahm tatsächlich den schwachen Versuch die Blutung zu stoppen, erfolglos. Schon Sekunden später war der Kerl entweder durch den Blutverlust ohnmächtig geworden oder aber an seinem eigenen Lebenssaft ertrunken. So oder so, ein zu schnelles, gnädiges Ende, wie der Anwärter fand.

Wellton kniete seufzend und kopfschüttelnd neben dem erkaltenden Leichnam. „Wenn das wirklich der Letzte war, werden wir nie erfahren, was sich hier wirklich abgespielt hat.“

„Vor allem haben wir immer noch keine Spur von dem Kind gefunden“, knurrte Kubinsky. Es war alles umsonst gewesen. Sie hätten ihre Zeit so viel sinnvoller und produktiver nutzen können, als dem Gewäsch dieses alten Mannes zuzuhören.

„Ja“, bestätigte der andere knapp, wobei er sich wieder aufrichtete. „Ich mache eben Meldung und sorge dafür, dass unser Freund hier abtransportiert wird. Können Sie kurz hier warten?“

„Klar doch“, meinte er matt, woraufhin sein Partner sich ein Stück weit entfernte, um die anderen zu suchen und sie zu den Überresten des Verrückten zu führen.

Zurückgelassen neben ihm stehend, konnte Kubinsky sich eines mulmigen Gefühls in der Magengegend nicht erwehren – schon wieder. Nicht, weil er sich direkt neben einer Leiche aufhielt – nach dem heutigen Tag, konnte ihn in dieser Hinsicht vermutlich nichts mehr schockieren –, sondern, wie er sich selbst nur ungern eingestand, wegen der Geschichte, die immer noch in seiner Erinnerung nachhallte. Nicht, dass er auch nur einen Satz davon geglaubt hätte – nun, die Sache mit dem Ritual vielleicht schon noch, nur nichts von dem, was angeblich danach geschehen sein soll –, dennoch beunruhigte es ihn ein wenig, ließ ihn wieder nervös werden, angespannt.

Als ein kalter Hauch ihn unvermittelt von hinten erwischte, stellten sich ihm die Nackenhaare auf und er drehte sich ruckartig um, die Waffe im Anschlag, doch da war niemand. Zumindest nicht auf den ersten Blick. Dann jedoch, als er sich ein bisschen konzentrierte, meinte er einen Schatten innerhalb der Dunkelheit zu sehen. Einen Fleck der unnatürlich finsterer wirkte, als der Rest.

Mach dich nicht lächerlich!, rügte er sich selbst, wagte aber auch nicht den Kegel seiner Taschenlampe darauf zu richten, um seine Unsicherheit zu zerstreuen.

Er hielt solange Stand, bis er ein kaum wahrnehmbares Rascheln vernahm. Blitzartig zuckte der Schein seiner Lampe in besagte Ecke. Was er sah, ließ den jungen Mann kurz an sich selbst zweifeln. Innerhalb einer Dunkelheit, die sich immer noch nicht gänzlich vertreiben ließ, lag ein zusammengelegtes Bündel, welches sich bewegte.

Mit einer Überzeugungskraft überwand er sich und machte einen Schritt darauf zu. Zu seinem Erstaunen fand er ein Baby vor, welches unruhig in dem Stoff mit den Gliedern ruderte und das Gesicht gequält verzog, als wolle es sagen, dass der kahle, kalte Boden wohl kaum ein geeigneter Platz für ein Neugeborenes sei.

Kubinsky konnte es kaum fassen. Da lag es, das Kind, dass sie so verzweifelt gesucht hatten. Es war unmöglich, dass sie es bei ihrem ersten Eintreffen in diesem Winkel der Lagerhalle übersehen hatten… oder? Wie sonst, sollte er sich erklären, dass es auf einmal hier vor ihm lag?

Egal, damit konnte er sich später beschäftigen. Wichtig war nur, dass es in Sicherheit war und lebte. Der Anwärter kniete sich neben das winzige Wesen, legte seine Taschenlampe zu Boden und nahm das Bündel vorsichtig auf. Dieses kleine, gerade erst geborene Leben in Armen zu halten, regte das erste Mal an diesem Tag, etwas Positives in ihm an. Eine Empfindung, die jedoch nicht von Dauer war, da sie sogleich von der Erinnerung an die tote Mutter, die nur ein paar Meter weiter verweste, einen dunklen Schatten darüber legte.

Kurz darauf hörte er mehrere Personen sich nähern. „Hey Jungs“, begrüßte er die Ankömmlinge mit einem zaghaften Lächeln, dass seine Augen nicht ganz erreichte. „Schaut mal, wen ich gefunden habe.“

Als ob es seinen Senf dazu gebe wollte, ließ das Baby in seinen Armen, ein leises Glucksen verlauten.

 

Steine ins Rollen gebracht []

Sie fanden nie heraus, was sich an jenem Tag in der Lagerhalle tatsächlich abgespielt hatte. Nur die Hälfte aller Morde konnte eindeutig aufgeklärt worden, die anderen, bleiben ein ewiges Mysterium, bis der Fall schließlich zu den Akten gelegt wurde.

Über Jahre hinweg waren keine neuen Beweise aufgetaucht, keine Personen, die irgendetwas hätten verraten können. Sie hatten alles abgesucht, die Wohnungen der Anhänger und des Alten. In Letzterer fanden sie tausende und abertausende Aufzeichnungen über seine verrückten Theorien und Pläne. Auch über das Ritual, dass in ihnen genauso verzeichnet war, wie er es beschrieben hatte. Einzig woher er seine Informationen nahm, ging nicht aus den Unterlagen hervor. An ein paar Stellen erwähnte er lebhafte Träume, allerdings nicht viel mehr.

Familie oder Freunde konnten sie kaum bis gar keine befragen, da es in ausnahmslos allen Fällen keine – mehr – gab, oder aber diejenigen ihre Bekannten seit Jahren nicht gesehen hatten. Auch dieser Teil der Erzählung stimmte also, was gleichsam aus den Papieren des selbsternannten Suchers hervorging. Er hatte seine Jünger unter scharfen Kriterien ausgesucht.

Auffällig war nur, dass er von deutlich mehr Personen sprach, als sie tatsächlich finden konnten. Es musste sich um weitere Anhänger seines Kultes handeln, die er für als ungeeignet für das Ritual eingestuft hat – ihr Glück. Finden taten sie niemanden von ihnen, da keine Personendaten aus den Akten hervorgingen. Auch wenn er einen jeden von ihnen über Wochen und Monate beobachtet und nach und nach an sich gebunden hat, hatte er doch niemals ihre wahren Namen oder irgendwelche anderen Informationen notiert.

Kubinsky und Wellton vergaßen nie, was sie an jenem Tag gesehen und vor allem gehört hatten. Dennoch sprachen sie nie wieder darüber. Sie verrichteten jahrelang meist tadellose, in Kubinsky’s Fall hin und wieder mit fragwürdigen Methoden gespickte, Polizeiarbeit. Dieser ungeklärte Fall haftete ihnen jedoch ewig nach.

Das Kind, der einzige Überlebende dieses schrecklichen Vorfalls, kam in ein Waisenheim und von dort aus, alle Jahre wieder, in verschiedene Pflegefamilien. Durch seltsame Umstände, die die jeweiligen Familien nie präzise zu erklären bereit waren, kam es immer wieder zurück. Zuletzt hatte es den Familiennamen Griedfeld angenommen, war der Polizei beigetreten, die es einst gerettet hatte und sollte einige Jahre später als Anwärter, in einen Fall zusammen mit Kubinsky verstrickt werden, der nicht ahnte, dass er dem Kind, dass er einst gefunden hatte, wiederbegegnete…

Ein Kind, dass sich lediglich nach einer Familie sehnte, die es in seinen Kreis aufnahm, ohne es nach einem gewissen Zeitraum wieder von sich zu stoßen…

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Hier geht's zum zweiten Teil: Ein hehrer Traum

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