Deutsches Creepypasta Wiki
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Oder: Wo das das Bürokratie-Monster lungert[]

BWV2b)

Das große Verwaltungsamt ist ein Ort, auf den niemand treffen möchte. Ich weiß, wovon ich spreche und was ich gesehen habe. Das sage ich, obwohl mich das Gebäude lehrte, dass das Chaos im stetigen Einklang mit der Ordnung und dem einhergehenden Ursprung ist, der in den unergründlichen, lichtlosen Tiefen lauert. Egal ob im All oder hinter zugespachtelten Wänden, wo Wandplattenbauten die inneren Rohrleitungen isolieren. Die Gesetze bleiben unverändert. Keiner wird einen Weg in die Verwaltung finden – das Amt sucht sich selbst seine Besucher.

Du kannst dir die Verwaltung als mehrstöckiges Etagengebäude vorstellen. Die Röhrendeckenlampen lassen alles klinisch erscheinen, wodurch die Anschauungskraft schwindet. Da es innerhalb der Einrichtung an Amtsmöbeln mangelt (vereinzelte Wartestühle stehen willkürlich in den Fluren), ist der räumliche Widerhall dementsprechend laut. Erschrick dich daher nicht vor deinen eigenen Schritten. Zum Mobiliar der jeweiligen Etagen zählen überwiegend Sachbearbeitungsfenster, Schalter, Tresen oder Schreibtische in den oft steril wirkenden Büroräumen. Andere Etagen stehen komplett leer und führen bloß tiefer in die Eingeweide des Gebäudes.

Wohin? Keine Ahnung. Ich konnte nicht alles erkunden.

Was ich außerdem noch gesehen habe, waren ins Unbekannte abknickende Flure, mit flackernden oder defekten Lampen, um die sich eigentlich der Hausmeister kümmern sollte, der immer wieder um die Gänge streift.

Das Erdgeschoss ist eine Art Wartelounge mit aalglatter Inneneinrichtung, frei von jeglicher Stuckverzierung. Etwa 30 mal 30 Quadratmeter. Es gibt keine Fester, dafür Lüftungsschächte. Auch ein Hauptein- oder Ausgang ist nicht existent. Genauso wenig existiert ein Fahrstuhl. Ab dem Erdgeschoss führt nur eine abgelegene Treppenaufstiege hinauf. Ein grüner Richtungspfeil deutet im Treppenflur nach oben.

In der Wartelounge, wo ich das Bewusstsein wiedererlangte, hatte mich der zuständige Mitarbeiter am Empfangstresen bereits still erwartet. Aber ich muss noch einmal etwas ausholen …

Bis zuletzt, am 31. März 2014, war ich Angestellter in einer Rechtsabteilung. Ich arbeitete wie Millionen andere Menschen in einem Bürokomplex. Der Job war nicht schlecht bezahlt und unser Vorgesetzter sorgte immer für ein angenehmes Arbeitsklima und ein gutes Miteinander. Beispielsweise standen Kaffeetassen mit aufgedruckten Sprüchen in der Cafeteria wie: »Unbeugsamer Karteikrieger« oder »Komm auf die andere Schreibtischseite – wir haben Reißzwecken«. Kleine kollegiale Insider, die mich ein wenig aus der Lethargie zogen, da ich gerade einen Sorgerechtsstreit verloren hatte.

Es war 15:00 Uhr, als ich mich beim Scrollen auf Facebook verlor und immer tiefer im Bürostuhl versank. Das Abarbeiten unzähliger Quittungen, Versicherungsprämien und tabellarischer Querelen, als allgegenwärtiger Automatismus ermüdete mich, sodass ich irgendwann einschlief. Da es sich um kleine angeordnete Büros handelte, war genug Privatsphäre dafür geboten, sofern man hin und wieder seine Aufgaben erledigte.

Ein Mittagsschlaf im Büro war bei mir obligatorisch nie ein Problem gewesen. Doch an diesem Tag fühlte sich der Mittagsschlaf anders an. Da waren diese kurzen Vibrationen und Lichtimpulse, sowie das Verschwinden des typischen Kaffeegeruchs in den Büroräumen wie auch die Tippgeräusche meiner Kollegen.

Auf einmal fand ich mich an einem anderen Ort wieder, auf einem Wartestuhl in der Wartelounge in einem fremden Erdgeschoss. Perplex erhob ich mich, als ich den Sachbearbeiter im Raumzentrum hinter der versackten Rezeption bemerkte.

Es handelte sich um einen älteren Herrn trockenen Blickes. Er hatte eine graue geölte Frisur, eine auffällige Büstennase und trug ein ordentliches Jackett. Über ihm zeigte eine große Digitaluhr 15:21 Uhr an … und den 31. März 2054. Verwirrt trat ich an die Tresen. »Mr. Arthurs« stand auf dem Namensknick.

»Guten Tag«, sagte ich.

»Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Können Sie mir vielleicht sagen, wo ich mich hier befinde?«

»Dies ist Stockwerk 1, Registratur 17-C. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?« Die Stimme klang höflich, aber auch monoton und geradlinig.

»Wo zum Henker bin ich hier? Wo sind die Türen …?« Meine Frage kam einfordernder heraus, als ich wollte.

»Haben Sie schon die Formulare 9-B oder 14 eingereicht? Wenn ja, waren Sie bereits bei Schalter 30, um Dokument 23-P einzufordern? Was ist Ihr Anliegen?«

»Hören Sie«, ich sammelte mich wieder. »Wo auch immer ich bin … könnten Sie mir einfach sagen, wo hier der Ausgang ist?«

»Ich verstehe«, eine Augenbraue erhob sich. »Am besten Sie gehen gleich in den 5. Stock und beantragen dort den Passierschein B-40. Reichen Sie diesen dann hier ein, um die Genehmigung des Urhebers anzufragen.«

Natürlich wollte ich mehr Antworten aus ihm herausquetschen und ich haderte mit der Situation, und wie ich es auch drehte und wendete, er beharrte eisenhart auf den sogenannten »allgemeingültigen Richtlinien«. Was sollte ich also tun? Ihm wie ein Schutzgelderpresser drohen? Da ich meine Probleme für gewöhnlich im Dialog zu lösen erachte, blieb mir keine andere Wahl als den Anweisungen Folge zu leisten.

Im 5. Stock lief ich einen langen Korridor entlang, wo am anderen Ende eine streng-wirkende Dame mit Kettenbrille und Hochsteckfrisur verschiedene Dokumente der Reihe nach abstempelte. Über dem Sachbearbeitungsfenster stand: »Passierschein HIER beantragen«.

»Hallo«, begann ich. »Ihr Kollege von Stock 3 meinte, ich könne hier den Passierschein B-40 beantragen. Es geht um irgendeine Sondergenehmigung des Urhebers ...«

»Einen Moment … Nehmen Sie bitte dort hinten Platz«, grunzte sie und deutete auf die Wartestühle im Gang um die Ecke.

Kaum Platz genommen, rief sie mich wieder aus.

Was für eine lästige Alte.

»Das ging ja flott.«

»Das ist Formular 21. Füllen Sie es bitte in Ruhe aus.«

»Alles klar ...«

»Wenn Sie fertig sind, bringen Sie es mir wieder.«

Mit den Papieren verzog ich mich zurück in den Wartebereich. Ich nahm den Kugelschreiber in die Hand, da es sich um einen Fragebogen handelte. Jede Frage bot die Antwortmöglichkeit 'Trifft zu', 'Keine Ahnung' oder 'Trifft nicht zu'.

Die Fragen erschlossen sich mir nicht wirklich, wie beispielsweise Frage 1: »Ist es Ihnen unangenehm, für längere Zeit nicht vom Sonnenlicht erfasst zu werden?« - »Trifft nicht zu«, kreuzte ich an.

Frage 2: »Würden Sie es für notwendig erachten, sich allgegenwärtig vor kosmischer Strahlung zu schützen?« - »Trifft zu«, kreuzte ich an.

Frage 3: »Würden Sie Anteile ihrer Knochendichte zum Wohle der Gemeinschaft zur Verfügung stellen?« - »Keine Ahnung«.

Frage 4: »Sind Sie ein freier Mensch?« - »Keine Ahnung«.

Frage 5: »Fühlen Sie sich wohl, beim Anblick der aktuellen Planetenkonstellation?« - »Keine Ahnung«.

Frage 6: »Hat der große Urheber der galaktischen 'Verfassung' einen hohen Stellenwert in Ihrem Leben?« - »Trifft nicht zu«.

Frage 7: »Fühlen Sie sich befreit durch die wissenschaftliche Erkenntnis, dass das primitivste und einfachste Genom auf der Erde auf über 10 Milliarden Jahre zurückzuführen ist, somit älter als die Erde selbst ist?« - »Trifft nicht zu«.

Frage 8: »Ist Ihnen geläufig, dass die DNA des menschlichen Körpers zusammengesetzt einen Faden ergäbe, der 20-mal von der Erde bis zur Sonne und zurückreichen würde?« - »Trifft nicht zu«.

Frage 9: »Ist Ihnen bekannt, dass die Proteinsprache des Lebens mehr als 20.000 Wörter umfasst?« - »Trifft nicht zu«.

Frage 10: »Ist Ihnen der Begriff 'Dunkle Materie' geläufig?« - »Trifft zu«.

Insgesamt waren es 30 Fragen dieser Art, und auch, wenn ich mich dabei veralbert fühlte, spielte ich das Spielchen mit und begab mich mit dem ausgefüllten Formular in Richtung der bebrillten Dame, bereit zur Übergabe.

Sie hielt jedoch inne, schaute kalt auf ihre Armbanduhr. »Ich habe jetzt Feierabend, Mister, tut mir leid ...« Sie zog das Schiebefenster zu und ließ die Jalousien fallen, ohne dass ich die Papierübergabe vollziehen konnte. Fassungslos schlug ich gegen die gerillte Abdichtung, wo nur noch die Schattensilhouette ihrer üppigen Steckfrisur herumgeisterte.

»Das kann nicht Ihr Ernst sein?! Für den beschissenen Fragebogen werden Sie doch wohl einen Moment erübrigen können!«

»Vorschrift ist nun mal Vorschrift. Gehen Sie mit dem ausgefüllten Formular bitte auf Stockwerk 7. Dort sollten Sie mittels des Fragebogens Passierschein B-40 beantragen können. Viel Glück.«

»Wissen Sie was ...«, ich blökte sie an, »vergessen wir einfach den ganzen Papierkram und Sie sagen mir einfach, wo ich hier rauskomme!«

Ihre Silhouette verschwand, ohne Antwort.

Mit einem letzten »Hey!« schlug ich gegen das Fenster. Doch es half nichts. Mein Blick richtete sich wieder zum Treppenflur.

Im 7. Stock begegnete ich einem fetten Mann, der aussah wie ein Blopfisch, irgendwie blubbernd. Ich trat vor das Ausgabefenster und fragte: »Lässt sich hiermit ein sogenannter 'Passierschein B-40' beantragen?«

Er musterte mich. »Zeigen Sie mal her … Formular 21, richtig?« Die Erdnussflips, die er sich mit seinen wurstigen Fingern beim Reden einverleibte, knirschten hinter seinen breiten Backen; als er den Fragebogen akribisch begutachtete.

Seine kleinen Augen wurden zu noch schmaleren Schlitzen, nachdem er etwas auf dem Formular zu entdecken schien.

»Seltsam … Formular 21 beinhaltet normalerweise 31 Fragen, nicht 30. Da muss ein Fehler unterliegen. Die Papiere sind ungültig.«

»Das kann doch nicht Ihr Ernst ...-« Seufzend unterbrach er mich.

»Kein Grund zur Aufregung. Ich weiß, was zu tun ist«, sagte er und kam wie ein Pinguin aus der Seitentür gewatschelt, wobei die schussbereiten Knöpfe auf seinem gestrafften Hemd beinah zur scharfen Munition zu werden drohten, aus der Nähe betrachtet.

Wir waren folglich vor der Tür eines einsamen Büros gelandet, wo uns ein Mitarbeiter 'mit besserer Expertise' erwartete, wie es hieß.

Hinter dem Schreibtisch saß ein hagerer Mann. Nicht abgemagert, sondern auf eine vitale Linie bedacht. Das komplette Gegenstück zu seinem Kollegen; das ideale Werbegesicht für zweifelhafte Nahrungsergänzungsmittel. Seine vollständige, beeindruckende Größe wurde erst beim Aufstehen vom Bürostuhl richtig offensichtlich. Er hatte einen gepflegten Kurzhaarschnitt und einen Gesichtsausdruck von missbilligender Intelligenz - sein Name lautete Mr. Wells.

Er nahm das Formular genauer unter die Lupe und beriet sich mit dem Blopfisch über die nächste Vorgehensweise.

Nach etwa 30 Minuten kamen sie endlich zu einem Ergebnis: Auf Ebene 9 sollte ich mich als erstes in Nebenraum 12 begeben. Dort könne ich bei der zuständigen Sachbearbeiterin Bescheinigung 13-C12 beantragen. »Anschließend beantragen Sie noch Antrag 2-B4 auf Ebene 10, bei Schalter 4-D, sowie Antrag 67 in Gang 13, und kommen dann mit diesen Unterlagen zu mir ins Büro zurück. Das sind die notwendigen Voraussetzungen, um das richtige 31-Fragen-Formular 21 anzufragen. Keine Sorge, Antrag 67 liegt direkt gegenüber von Schalter 4-B.«

Es hatte zwar eine Weile gedauert, doch erledigte ich alles. Dabei verlief es diesmal glücklicherweise ohne kleinkarierte Hindernisse.

Mit den Unterlagen unterm Arm kehrte ich ins Büro von Mr. Wells zurück - diesmal mit lichterfüllten Aussichten. Vielleicht würde ich endlich dem Ausgang entgegentreten können. Ich erhoffte mir einen Erfolg. Und die Zeichen standen mehr als positiv, denn endlich erhielt ich das korrekte Formular 21; womit auch der Passierschein näherrückte.

Die Fragen im Formular waren alle dieselben, bis auf Frage 31, die wie folgt lautete: »Fühlen Sie sich mittlerweile erschöpft bei Ihrer Kilometerlaufzahl durch das große Amtsgebäude?« - »Trifft zu« (in der Tat fühlten sich meine Beine inzwischen schwerfällig an).

Der Blobfisch hatte einen staunenden Ausdruck im Gesicht (oder zumindest so etwas ähnliches wie Staunen), als er das korrekte und ausgefüllte Formular überreicht bekam. Er überprüfte den Inhalt, ehe er mir darauffolgend ein neues Dokument aus dem Regal durch das Sachbearbeitungsfenster aushändigte, welches sich – ich konnte es kaum glauben – tatsächlich um Passierschein B-40 handelte.

Fiebrig eilte ich zurück ins Erdgeschoss zu Mr. Arthus, nahm dabei gleich zwei oder drei Treppenstufen auf einmal – meinen geschundenen Beinen zum Trotze.

Ich konnte den Ausgang förmlich riechen!

Aber dann zersplitterte jeglicher Hoffnungsschimmer in Tausend Teile, wie nach dem betäubenden Knall einer detonierten Blendgranate, als sich die folgenden Worte des Alten in mein Gehirn eingebrannt hatten.

»Das tut mir jetzt aber leid, Mr. ...«, er las meine Unterschrift unter dem Formular, »Mr. Mackenzie. Aber da muss wohl ein Missverständnis vorliegen.«

Es war, als bekäme mein Magen einen kräftigen Eselstritt.

»Wir haben vorhin wohl aneinander vorbeigeredet ... Ich habe Sie so verstanden, dass Sie sich Zugang auf Blockebene 33-D verschaffen wollten, aber nicht das Amt an sich verlassen wollten. Dazu benötigen Sie selbstverständlich die 'Ausgangsbescheinigung Typ -384'.«

In mir brodelte es gewaltig. All die Strapazen waren für die Katz. Ich donnerte die restlichen Dokumente auf den Tresen, wo sie wahllos umherflogen.

»Das kann doch nicht Ihr Ernst sein?! Ich will einfach hier raus, verdammt nochmal!« Ich packte den Alten am Jackett: »Und Sie sagen mir jetzt besser, wo der Ausgang ist!«

Er antwortete: »Ich bedauere, aber dazu müssen Sie die Auflagen erfüllen, Mr. Mackenzie. Entschuldigen Sie bitte vielmals all die Unannehmlichkeiten, aber Sie wissen schon ... im Alter verkümmern die Ohren.«

Mein Griff begann sich zu lockern, als ich seine Erklärung in mich einsinken ließ. Ich atmete tief durch, denn nun durchzudrehen, half mir auch nicht weiter.

»Also gut, Mr. Arthus ... Wie erhalte ich die besagte Ausgangsgenehmigung?«

Er drehte mir den Rücken zu, holte einen der Personalschlüssel hervor, steckte ihn in die Tasche und trat hinter den Tresen hervor. »Folgen Sie mir bitte.«

Im Treppenflur entriegelte der Alte eine Tür in der Wand, eine so gut wie unsichtbare Tür, da sich die Übergangslinien mit dem vernarbten Gips kaschierten. Dahinter überraschte mich ein weiteres Treppenhaus. Es führte in die spärlich belichteten, unteren Etagen.

Zuerst, erklärte er, ginge es auf UE-4, wo ich mir vom Druckapparat 'Sonderantrag 795-H' ausgeben lassen müsste. Danach müsste ich auf UE-6 die Anträge 17-F (mit Klausel 4-Typ-32) und 312 Typ-3 stellen. Mit diesen Unterlagen würde ich dann auf UE-9 in das Büro von Mr. Erikshieler gehen, um die Ausgangsbescheinigung Typ -384 zu erhalten. Diese Bescheinigung sei die einzige Chance, um vom 'Urheber' entlassen zu werden.

Alles, was nun folgte, war haarsträubend. Im Grunde genommen wäre es urkomisch, wenn dies hier alles versteckte Kamera wäre. Ein schlechter Scherz. Wenn ich nicht seit mehreren Stunden in diesem Gebäude feststecken würde.

Der besagte Apparat für die nächsten Anträge war defekt oder ließ sich nicht einmal einschalten; er gab keinen Laut von sich.

Frustriert hämmerte ich gegen den Apparat. Ich schlug, hämmerte und schlug. Schlug noch mehr gegen die Oberfläche, bis meine Knöchel bluteten.

Doch plötzlich ertönte ein »Hey!«, nicht weit hinter mir.

Am Türrahmen lehnte ein Typ, die Arme verschränkt. Er hatte zurückgeölte Haare, einen Pornoschnauzbart und trug ein fleckiges Unterhemd sowie einen Schlüsselbund am Hosengürtel. Er sah fast aus wie Freddie Mercury.

»Ist nicht angeschlossen.«

»Wer sind Sie denn jetzt schon wieder?!« fragte ich verdutzt.

Er deutete auf das Kabel, das wie eine Giftschlange zusammengerollt neben dem Apparat auf dem Boden lag. »Das Kabel ist nicht eingesteckt, Blitzmerker«, sagte er, während mir bloß ein knappes »Oh« entfuhr.

»Richtig. Oh.«

Er schritt an mir vorbei, um das Kabel einzustecken, woraufhin endlich ein Bildschirm am Apparat erschien. Meine Knöchel schmerzten.

»Ich bin übrigens der Hausmeister ...«

»Ähm … ich danke Ihnen, schätze ich«, sagte ich etwas reumütig.

Statt meinen Fehler weiter breitzutreten, begann der Hausmeister zu erzählen. Unter anderem, wie lange er schon in diesem Gebäude tätig sei und dass er ebenfalls keine Ahnung habe, wie er hier gelandet sei. Davor sei er in einer Mittelschule angestellt gewesen, was mittlerweile mehr als acht Jahre zurückliege. Dies sei alles, an was er sich noch erinnern könne.

Was mich jedoch verunsicherte, war das, was er als nächstes zu mir sagte, kurz bevor er in den düsteren Gängen verschwand, aus denen er gekommen war.

»Der Apparat ist nun druckbereit. Doch mach dir keine allzu großen Hoffnungen. Du wirst hier eh nicht mehr rauskommen.« Den letzten Satz zwitscherte er eher im Sprechgesang, als ihn normal auszusprechen.

»Was für ein Scherzkeks«, dachte ich, nun mit dem vom Drucker ausgespuckten Sonderantrag 795-H in der Hand.

Die Zwillingsschwestern von Untergeschoss 6, die mir auf meiner nächsten Haltestelle die benötigten Anträge aushändigten, wirkten zur Abwechslung gediegen und nicht so diskret wie die vorherigen Sachbearbeiter. Das vermittelte mir das Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein. Wenngleich die Untergrundetagen für mehr Verwirrung sorgten, indem sie mit weit mehr fahl beleuchteten Korridoren und Büroräumen konzipiert wurden - viele davon leerstehend. Alles war wie ein Insektennest angelegt: Büroräume führten in separate Büroräume, und diese führten in noch mehr Büroräume, und irgendwann erreichte ich UE9.

Nach langen 20 Minuten des Suchens fand ich schließlich das Büro von »Dr. Arno Erikshieler«. Zwar zögerte ich noch, einzutreten, aufgrund eines beklemmenden, mich zurückhaltenden Gefühls. Im verlassenen Flur erging es mir allerdings nicht besser; ein leises Tippeln geisterte dort aus den Gängen umher … es klang nach kurzen Kinderfüßen. Oder war es vielleicht nur Einbildung? Jedenfalls nahm ich meinen Mut zusammen und trat durch die Tür. Das Büroinnere war schummrig, aber weit geräumig. Hinter dem breiten Tresen erkannte ich eine Silhouette, der ich mich vorsichtig näherte. Entsetzt torkelte ich nach hinten zurück. Die Pupillen eines Krokodils oder irgendeiner Kreatur hatten mich fest im Blick.

Eine gespaltene Zunge blinzelte immer wieder hervor. Die Nase war flach mit kleinen Löchern; die Augenwülste dick. Es hatte scharfe Zähne und war von Kopf bis zur Schwanzspitze geschuppt. Außerdem steckte es in einem Smoking.

»Ich habe Sie bereits erwartet, Mr. Mackenzie«, sprach das Wesen. »Sie sind wegen der Ausgangsbescheinigung Typ -384 hier, habe ich Recht? Wenn dem so ist, dann zeigen Sie mir bitte Ihre Dokumente.« Dieses Reptil zu hören, sorgte für Gänsehaut.

»Was sind Sie?«, fragte ich mit bemessener Stimme.

»Oh … stimmt ja. Sie kommen aus der Vergangenheit. Demzufolge können Sie auch noch nicht wissen, dass eine neue Spezies in ferner Zukunft den Rest der gesamten Menschheit, nun ja … ich möchte sagen, auf bessere Pfade leiten wird.«

Das Wort »bessere« untermauerte er mit Anführungszeichen, die seine tödlich schwarzen Klauen entblößten.

»Wovon zur Hölle reden Sie?«

»Falls es Sie interessiert, so nennt sich unsere Spezies. Versuchen Sie den Namen gar nicht erst auszusprechen.« Er schob mir eine beschriftete Karteikarte zu, und es stimmte: Die Bezeichnung war wirklich nicht auszusprechen; unbegreiflich fremdartig.

»Angesichts all der Umstände, die Ihnen bis jetzt widerfahren sind, müssen Ihnen wohl einige Fragen auf der Zunge liegen«, er erläuterte: »Wir kommen ursprünglich von einem weit entfernten Sonnensystem und besiedelten bereits vor Jahrtausenden diesen Planeten. Über unzählige Zeitalter lebten wir verborgen in unterirdischen Gemeinschaften; weit vor dem Aufkommen menschlicher Zivilisationen. Das Wort 'Reptiloiden' war unter euresgleichen ein Begriff. Echsenwesen, in humanoider Form. Gerüchte aus der Polit- und Medienwelt. Das mit der Gestaltungswandlung ist allerdings Humbug.«

Hatte ich den fetten Sachbearbeiter bloß metaphorisch 'Blobfisch' genannt, war hier nun tatsächlich von einer sprechenden Eidechse die Rede. Mr. Erikshieler musste mich sogar mehrmals darauf hinweisen, das Starren zu beenden und ihm endlich die Unterlagen zu übergeben. Es war wohl wie das ehrfürchtige Kind bei der ersten Begegnung mit dem Weihnachtsmann. Während er die Dokumente überprüfte, sagte er: »Was mich persönlich so an den Menschen fasziniert ist, wie vehement sie Wahrheiten doch von sich weisen - egal wie offensichtlich diese aufleuchten -, dass so lange, bis eben jene Wahrheit vor ihrer Türschwelle steht und um Einlass bittet. Aber genug philosophiert …«

»Um die Papiere steht es …«, er schob die Unterlagen skeptisch zurecht, »einfach hervorragend! Meinen Glückwunsch, Mr. Mackenzie. Hiermit überreiche ich Ihnen die Ausgangsbescheinigung Typ -384. Begeben Sie sich damit in Zone 34, Untergeschoss 19; dort können Sie den Urheber antreffen.«

Ich nahm die besagte Bescheinigung zwar entgegen, doch flimmerten gewisse Zweifel irgendwo im hintersten Hintergrund: es lief für meinen Geschmack etwas zu reibungslos. Irgendetwas war hier zu ruhig; zu friedlich.

Mit diesem beschleichenden Gefühl wollte ich gerade den Ausgang durchschreiten ... »Eine Sache noch … Nehmen Sie sich bitte vor meinem Sohn in Acht. Er ist schwer zu erziehen und sieht das Amtsgebäude als riesigen Spielplatz.«

»Okay, … werde ich«, sagte ich und trat zurück in den Flur.

Die Ausgangsbescheinigung etwas genauer betrachtend, stellte ich fest, dass der schriftliche Inhalt eher an einen Aprilscherz erinnerte als an ein behördliches Schriftstück.

»Alle Richtlinien und Paragrafen sind dem Urheber vorbehalten. Alle Richtlinien und Paragrafen sind dem Urheber vorbehalten. Alle Richtlinien und Paragrafen sind dem Urheber vorbehalten. Alle Richtlinien und Paragrafen sind ...-« Der immerwährend gleiche Satz erstreckte sich hundert vielleicht tausendfach über mehrere DIN-A4-Seiten.

Es war mir ein Rätsel, doch solange dieses Dokument mein Freifahrtschein zur Freiheit sein würde, war es mir gleich.

Als ich ein Stück den Gang entlanggelaufen war, weiter das Schriftstück beäugend, preschte plötzlich ein Schatten an mir vorbei. Wieder diese schnellen, tippelnden Fußschritte. Auch war da ein Kichern. Nach einer Entfernung von etwa 10 Metern blieb die Gestalt stehen. Es war ein zweiter Echsenmensch: Diesmal reichte er mir gerade mal bis zur Hüfte. War das Erikshieler-Junior? Vermutlich.

Am anderen Ende, an der Abzweigung des Flurs, begann er mit irgendwelchen Papieren zu wedeln und gab dabei ein verhöhnendes »Na-na-na! Das ist jetzt meins!« von sich.

Folglich starrte ich auf meine leeren Hände. Die Genehmigung war weg! Dieser kleine Pisser musste sie mir völlig unbemerkt gestohlen haben. Keck streckte er mir die gespaltene Zunge heraus, tänzelte albern herum und zeigte mir den blanken Hintern. Der Eidechsenschwanz, als Fortlauf am untersten Wirbel, befand sich interessanterweise noch im Entwicklungsstadium, kaulquappenähnlich.

Ich konnte das Geschehene zunächst überhaupt nicht einordnen. Aber die Papiere unter allen Umständen zurückzuerobern, begriff ich. Also begann ich zu rennen. Doch der geschuppte Bengel war schnell. Sogar verdammt schnell. Mal bewegte er sich wie ein Mensch, mal auf allen Vieren. Krabbelte dabei sogar an den Wänden. Die Verfolgungsjagd (ich kam ihm kaum hinterher) führte nach einigen Abzweigungen durchs Treppenhaus in tiefere Gefilde, wo ich ihm Türen um Türen hinterherlief. Wir rannten von einem Raum zum nächsten. Obwohl ich mit starkem Seitenstechen kämpfte, blieb ich an ihm dran. Das Dokument war unerlässlich!

Um Haaresbreite hätte ich ihn sogar gehabt. Meine Fingerspitzen streiften bereits seinen Knopfleistenkragen - wäre er nicht in letzter Sekunde die Wand hochgekraxelt und durch einen Lüftungsschacht entkommen …

»Komm sofort zurück, Mistkröte!«, schrie ich ihm nach.

Ergebnislos. Weg war er. Und mit ihm die Genehmigung.

Mit gesenktem Kopf und planlos begab ich mich auf den Rückweg. Doch es gab keinen Rückweg. Alles glich auf einmal wie ein Ei dem anderen. Endlose Winkel, Büroräume und Korridore. Ich hatte mich verirrt und verlor beinah den Verstand. Mehrmals schlug ich den Kopf gegen die Wand. Nachdem meine Ohren zu klingeln begannen, stoppte ich diesen Irrsinn. Zumal mir das zufällige Glück im Unglück zuteilgeworden war, das Richtungsschild zu übersehen, mit der Aufschrift: »Zone 34«.

Das Schild deutete auf eine abgelegene Tür. Anscheinend befand ich mich hier in Untergrundebene 19, zu der mich Mr. Erikshieler beordert hatte, ohne es bemerkt zu haben. Die Bescheinigung war jedoch weg. Das war eine bittere Tatsache. Ich fühlte mich wie ein begossener Pudel.

Alles wegen diesem kleinen Scheißer!

Ich spielte mit dem Gedanken, nichtsdestotrotz auch ohne die Ausgangsgenehmigung Kontakt mit dem 'Urheber' aufzunehmen. Freundlicherweise würde er mich vielleicht auch so nach Hause befördern. Einen Versuch war es wert.

Somit betrat ich Zone 34 und was ich dort erblickte, war eine Art unterirdische Siedlungsstätte, zusammengesetzt aus einer steinernen Säulenhalle, verbundenen Kammern und granitartigen Wohnzellen. Dort lebten größtenteils in Lumpen gekleidete, schmutzige Menschen. An einigen Orten patrouillierten Echsen, bewaffnet mit Kriegslanzen, aus denen elektrische Funken sprühten. Hier und da rotteten sich Menschengruppen zusammen. »Lang lebe der Urheber« oder »gepriesen sei der Urheber«, murmelten sie.

Ein einsamer Untergrundbewohner lehnte an dem Pfeiler einer zerklüfteten Unterführung. Trotz seines abgewandten Gesichts beschloss ich, ihn anzusprechen.

Als er sich zu mir umdrehte, erschrak ich ...

Dem verwahrlosten Mann fehlte der gesamte Nasenrücken. Ebenso wiesen die anderen Bewohner Missbildungen auf: Einem Mann hingen zwei Finger an der Hand schlaff zur Seite. Einem anderen fehlte ein kleiner seitlicher Teil des Unterkiefers. Eine Frau mit struppigen Haaren hatte kein Jochbein, wodurch ein Auge etwas absackte. Ein älterer Herr, der gerade die Straße überquerte, war so gekrümmt, dass er beinah seine eigene eingesackte Hüfte beäugen konnte. Wieder ein anderer robbte seinen Torso mühsam über den Boden, da dessen Unterbeine so wabbelig wie leere Luftballons wirkten. Überhaupt schienen überall Teile der Knochen zu fehlen; egal ob im Gesicht, an den Armen oder Beinen.

Es war nicht so, dass bestimmte Körperteile einfach amputiert worden waren und Narbengewebe darüber wuchs – diese Körperteile, oder besser gesagt, die Knochen, wurden entfernt, ohne die Haut zu beschädigen. Dadurch befand sich eine entsprechend ausgeleierte Gewebemasse oder widerstandslose Körperpartie an betroffener Stelle.

»Was ist ...«, brummte der bärtige Nasenlose.

»Entschuldigen Sie … aber was zur Hölle ist das hier? Was ist mit all diesen Menschen passiert«, fragte ich entgeistert.

»Bist wohl neu hier, was? Schockiert dich unser Äußeres?«

»Nein. Es ist nur ...«, er unterbrach mich mit einem Lachen.

»In Zone 34 haben wir Knochensteuerpflicht. Weißt du das nicht? Diese Richtlinie wurde bereits vor langer Zeit eingeführt ...«, er deutete auf die Siedlungshalle. »Jeder innerhalb der Gemeinschaft ist dazu verpflichtet, Knochen abzugeben. Der Urheber macht hier die Gesetze. An die halten wir uns alle, um nicht bestraft zu werden.«

Es klang wie ein Fiebertraum oder wie eine schlechte Science-Fiction. Das konnte einfach nicht real sein und ich merkte, wie sich ein übles Gefühl in mir ausbreitete. »Aber es muss doch einen Weg nach draußen geben?«

»Junge … das hier ist Draußen!«, er lachte erneut. »Macht's nun Klick bei dir?«

Ich weigerte mich, das zu glauben. Irgendwo musste sich ein Ausgang befinden, und nur der sogenannte »Urheber« konnte sagen, wo.

»Wo finde ich den Urheber?«

Der Bärtige zeigte auf ein sich in der Entfernung abzeichnendes Tor, gleich hinter einer dritten, primitiv anmutenden Häuserwelle, die sich aus kalksteinartigen Pueblos mit untertunnelten Höhlenübergängen zusammensetzte.

»Versuche dort dein Glück ...«, nach diesen Worten verschwand er zwischen den wahllosen Tunnelgassen, hingegen ich abschätzig in die trübe Ferne spähte.

Meine Wanderung durch die Untergrundstätte verdeutlichte mir noch einmal mehr das Lebensumfeld und das damit einhergehende Verhalten der Untergrundmenschen, das größtenteils in vollständiger Unterwerfung jener Richtlinien bestand; sie von diesen sogar vollständig erfüllt und deren eigentliches Dilemma überhaupt nicht wahrzunehmen schienen. Doch kann es ihnen verübelt werden? Weiß eine Forelle etwas von dem Wasser, das sie umgibt?

Dass sie zudem noch Hunger litten – die Erkenntnis kam beim Schlendern durch eine einsame Gasse, in der schlecht riechendes Fleisch angeboten wurde, das jedoch kaum als 'Marktfleisch' bezeichnet werden konnte – war der Gipfel des perversen Niedergangs. Es handelte sich hauptsächlich um ungenießbare Überreste, um die selbst ein Straßenköter einen Bogen machen würde. Eine dystopische Horror-Zivilisation. Waren hierfür ausschließlich die Echsen verantwortlich, die hier alles im Auge behielten? Oder handelte es sich um eine gescheiterte Planwirtschaft? Ich wusste es nicht. An einigen Echsen konnte ich jedenfalls unbekümmert vorbeigehen. Manchmal kam ein schräger Blick (der mich in falsche Alarmbereitschaft versetzte) oder sie gaben ein leises Zischen von sich. Insgesamt zeigten sie kein Interesse an mir. Zum Glück.

Folgende Fragen schossen mir durch den Kopf: Ob es noch mehr Siedlungen als Zone 34 gibt? Ob der Urheber die Echsen anführt? Ob ich fortan ebenfalls unter deren Herrschaft leben musste? Brachte mich das nicht zum Frösteln, dann taten es die umliegenden Felswände, die schon lange kein Sonnenlicht mehr erblickten. Die hauptsächlichen Lichtquellen hier bestanden aus altbackenen, brüchigen, rostigen Laternen.

Je länger ich in jener Untergrundstätte umherwanderte, desto stärker wuchs in mir ein Gefühl des Abscheus. Es war ein Ekelgefühl gegenüber den Menschen, die im Dreck lebten; gegenüber den Echsen; gegenüber dem Amt; gegenüber den Sachbearbeitern. Gegenüber allem und jedem.

Erst als mein Ziel klar in Sichtweite gerückt war, konnte ich andere Gedanken fassen.

Es handelte sich um ein mit Inschriften eingemeißeltes Tor im Felshang. Die Bedeutung der Zeichen war mir unbekannt. Dass dahinter der Urheber anzutreffen sein musste, stand außer Frage und war nicht zu übersehen. Genug Informationsschilder in unmittelbarer Nähe kennzeichneten dies, weshalb ich mich die letzten Meter durch den Höhlentunnel schleppte. Am anderen Ende befand sich eine große Kammer … Darin lungerte etwas, das alles Vorherige weit in den Schatten stellte.

Ich erkannte auf Anhieb nur einen länglichen Organismus, der von einem Exoskelett umhüllt schien; eine Art Ummantelung aus dicken Knochenplatten. Das Geschöpf war von der Schwanzspitze bis zum Schädel (wenn man die Körperpartien überhaupt als solche bezeichnen konnte) mindestens 30 Meter lang. Die Platten wiesen einige Überbleibsel von Schwerthieben oder Einschussschlägen auf. Diese glichen jedoch nicht mehr als Kratzer auf einem SWAT-Schild. Trotzdem zeugten die Spuren von einer konfliktreichen Vergangenheit. Im Inneren waberte ein schummriger Embryo, worin ich eine schier endlose Anzahl gelber Augen erkannte, die sich abwechselnd im Verborgenen der Panzerung öffneten und schlossen.

An den Knochenflanken klafften zudem Hunderte von Löchern, aus denen jeweils bis zu drei Tentakel herauspeitschten. Diese verfassten nichts anderes als seitenlange Regularien, Paragrafen oder ganze Dokumente, schneller als jede bekannte Schreibmaschine.

Sofort traf mich eine Stimme im Kopf, die mich an Ort und Stelle festnagelte – keine Zeit für meinen Körper, auf den absondernden Ekel dieser Kreatur zu reagieren.

»Wer bist Du? Was ist dein Anliegen?«, fragte die Stimme, tief und beinahe dämonisch.

»Sind Sie der 'Urheber?'«, fragte ich.

»Ja, bin ich. Sprich, denn wie du sehen kannst, habe ich zu tun ...«

Mein eigentlicher Plan war, ohne vergeudete Zeit den direkten Weg nach dem Ausgang einzufordern und alles andere zu ignorieren – hätte sich die Entrüstung in mir über all die Abnormitäten nicht längst zur unweigerlichen Kaskade entwickelt.

»Gut … Zuerst … Warum werden die Menschen hier unten zu Tausenden geknechtet? Was sollen diese Unmengen von Richtlinien? Und wieso wurde ich überhaupt hier hineingezogen?«

»Betrachte dich selbst, Mensch ...«, begann er. Dabei hatte ich keine einzige Möglichkeit, den nun folgenden Monolog aus meinem Kopf zu tilgen. »Dein Wesen, all die Teilchen und Moleküle, die dich ausmachen. Wie sie ständig in Bewegung sind. Gleich dem stundenlangen Umherirren im Amtsgebäude, ohne jemals ein bestimmtes Ziel zu erreichen, da dein Umfeld, das ganze Universum, in Wahrheit gegen dich, gegen uns alle, arbeitet. Das Universum will den Verfall. Es will das Eintönige. Es will das Nichts. Deshalb sind meine Zeilen unverzichtbar. Und bist du es nicht ebenso leid, niemals anzukommen, trotz ständiger Suche und Verirrung? Gibt es Zufälle ohne Kausalgesetze? Sind die Ursachen für ein zufälliges Phänomen unbekannt oder tritt es ohne Ursache auf? Damit die Entropie nicht weiter an Macht gewinnt, schreibe ich kontinuierlich. Wir müssen die Abgrenzung aufrechterhalten. Überschüssiges entfernen. Nur so können wir für eine unterschiedliche Bevölkerungskonzentration innerhalb der Zone sorgen. Sicher: Es gibt unglaublich viele Anordnungen, wie aufgrund der individuellen Entscheidungen eines Verstandes Gemeinschaften strukturiert sein können. Doch die Anzahl der Möglichkeiten, die eine Unordnung darstellen, ist riesig, im Vergleich zu den Möglichkeiten, die Ordnung darstellen. Die Wahrscheinlichkeit für Ordnung ist zu gering, als dass auf mein Schaffen verzichtet werden könnte. Deshalb habe ich mittlerweile Acht mal Zehn hoch Neunundsechzig Paragrafen in meiner Verfassung erlassen. Die Grundordnung dieser war schon immer gegeben; nur in unterschiedlicher Anordnung; gleich den ursprünglichen Bedingungen für die Zellteilung. Ist das nicht faszinierend?«

Ich biss mir so fest auf die Zähne, bis mir der Kiefer schmerzte, und wollte unbedingt die Aufforderung aufbringen – nein, wollte es herausschreien – mir endlich den verdammten Ausgang zu nennen. Vergebens.

»Genau jetzt entstehen in deinem Körper tausend komplexe Erneuerungsprozesse, um den chaotischen Verfall zu bekämpfen. Nur deswegen bist Du am Leben. Die Menschen müssen konzentriert werden, damit die Unordnung nicht weiter zunimmt. Vergrößert sich der Aufenthaltsbereich, vergrößert sich auch die Verteilung. Die Unordnung steigt an. Doch Unordnung kann ich nicht zulassen, obwohl Unordnung eine grundlegende Eigenschaft des Universums ist. Selbst die Urzelle eignete sich die Eigenschaft der Verteilung bereits vor Milliarden Jahren an. Die derzeitigen Richtlinien müssen dem entgegenwirken.«

»Es mag den Anschein erwecken, dass all die Paragrafen der Ordnung widersprüchlich gegenüberstehen und sogar von Unordnung zeugen. Aber das ist falsch. Der frisch geborene Kosmos war am Anfang noch geordnet, als die Grundbausteine für chemische Reaktionen - die späteres Leben erst ermöglichten - dicht beieinander lagen. Als super-massive Sterne in geordneter Weise ihre fusionierten Erzeugnisse auf die noch junge Raumzeit verteilten, mittels spektakulärer Explosionen. Als vor 13 Milliarden Jahren noch verdichtete Temperaturen im Universum herrschten. Selbst deine ausstrahlende Körperwärme wird sich langfristig im Weltraum verteilen und den Prozess vorantreiben. Dies zu regulieren, hält uns alle am Leben.«

Der Monolog schien endlos anzudauern.

»Verstehst du es nicht? Das Leben ist die höchste Form von Ordnung - und gleichzeitig nicht. Aus einem unordentlichen Ort wird Ordnung entstehen, wenn dafür aus einem geordneten Ort Unordnung entsteht. Wie aufgewirbeltes Herbstlaub, das sich durch die zerbrochenen Fensterscheiben einer Hausruine von Raum zu Raum verteilt, sobald die Türen geöffnet werden - so verhält es sich mit dem interstellaren Raum, der mit Unordnung einhergeht. Chaos und Ordnung sind gleichermaßen Gesetze des Universums. Dies reicht bis zur armen, ungeordneten Energie, die du wieder aus dem Arsch kackst, nachdem du sie zuvor in reichhaltiger Energie mit chemischen Verbindungen aufgenommen hast – also geordnet.«

»So funktionieren Organismen, von den strukturierten Atomen bis zum Zellenaufbau. Ich persönlich erachte einen geordneten Zustand, wie den anfänglichen Kosmos, als besser. Trotz der Annahme eines immer lebensfeindlicher werdenden Universums. Siehst du es nicht auch so? Siehst du nicht, dass Regularien wichtig sind? Unordnung oder Ordnung? Was möchtest du?«

»WAS ICH MÖCHTE, IST VON HIER VERSCHWINDEN!!« schrie ich mit den letzten Kraftreserven und merkte, wie die geistigen Fesseln nachließen. Ich sank keuchend auf die Knie. Es hatte einiges an Kraft gekostet, diesen Schwall an Worten gedanklich über sich ergehen zu lassen. Mein Kopf dröhnte.

Schließlich raffte ich mich wieder zusammen, wobei die gelben Augen meinen unnachgiebigen Blick erwiderten. Die Augen begriffen allmählich, dass meine Geduld erloschen war. Erneut ergriff der Urheber das Wort, und diesmal nahm ich die Stimme gefasster entgegen: »So so, du möchtest also nach Hause?«

»Nein, ich möchte den Rest meines Lebens hier verbringen und meine Knochen zwangsweise spenden! Nichts lieber als das!« antwortete ich mit beißendem Sarkasmus.

»Gut, … wenn das dein Wunsch ist, so lasse ich dich passieren. Finde den richtigen Pfad, Mensch ...«

Plötzlich begannen sich drei steinerne Schlünde zu öffnen, irgendwo aus den grimmigen Untiefen der Kammer, aus denen grelle Lichter nach draußen strömten und ich musste mir die Hand vors Gesicht halten, um nicht davon geblendet zu werden. Mit einer Mischung aus Verwirrung und Perplexität fragte ich, was es mit diesen Toren auf sich hatte, und welches ich wählen sollte, falls mich eines davon weiterbrächte.

Doch der Urheber schwieg und hatte nur noch Aufmerksamkeit für seine Schreibarbeit. Also schritt ich an die drei Tore heran und entschied mich für das Mittlere.

Als ich ins Licht trat, spürte ich ein Vibrieren unter meinen Füßen, das aus dem Erdboden zu kommen schien. Das Licht strömte mir zwar entgegen, doch merkwürdigerweise machte mir die Blendung nichts aus, sodass ich die groben Umrisse einer etwa drei Meter hohen und breiten Stahlröhre um mich herum erkennen konnte.

Nichts und niemand würde sich jetzt noch zwischen mich und meine Freiheit drängen, dessen war ich mir sicher. Ich würde wieder nach Hause kommen.

Mein ganzer Körper begann zu kribbeln, was an einer Art elektromagnetischen Anziehungskraft im Portal liegen musste, so vermutete ich; wie in einem Roman von H. G. Wells.

Immer weiter, weiter und weiter. Ich war mir absolut sicher, jeden Moment zurück in meinem Büro zu sein. Zurück auf dem quietschenden Bürostuhl als einfacher Angestellter.

Das warme Licht … es wurde intensiver … Es galt nur noch ein kleines Stück zu bewältigen … Fast geschafft …

Langsam öffnete ich meine Augen. Wie viel Zeit vergangen war, wusste ich zu diesem Zeitpunkt nicht. Zuerst erblickte ich Tageslicht, ... das sich dann aber als Deckenbeleuchtung einer Lounge herausstellte. Nach und nach manifestierten sich daraus Konturen, Formen und Schatten. Eine Stimme direkt neben mir begann zu sprechen, auf einem der Stühle.

»Ich habe es dir doch gesagt … Du kommst hier nicht wieder raus.«

Es war der Hausmeister, der breitbeinig in der Wartelounge saß. Seine Augen waren abschätzig auf mich gerichtet, während er gerade ein Sandwich verzehrte und eine Automatenlimo hinunterspülte.

Er begann zu grinsen, während er auf die große Digitaluhr über dem Tresen deutete.

Es war wieder 15:21 Uhr, am 31. März … im Jahr 2054.

Meine Sicht rotierte, eine Übelkeit überzog mich, ein Gefühl von unzähligen Schürfwunden am gesamten Körper. Dem wurde noch eine Schippe daraufgesetzt, als ich das Gesicht von Mr. Arthus wiedererkannte. Ich war wieder in der Lounge auf der verdammten Anfangsetage.

»Wir sind für immer hier gefangen«, sagte der Hausmeister, als zöge er irgendein irres Fazit, bevor er sich auch die letzten Reste einverleibte und sich schmatzend die Finger leckte. Danach erhob er sich und verschwand im Treppenflur.

Da es an diesem Ort mitnichten an Papier und Kugelschreibern mangelt, habe ich auf den freien Rückseiten weniger Dokumente - wen auch immer diese Zeilen erreichen mögen -, diese Botschaft hinterlassen. Für den Fall, dass dir dasselbe Schicksal widerfahren sollte. Ich werde dieses Schreiben auf einem der Wartestühle platzieren. Vielleicht wird es eine Hilfe sein.

Für meinen Teil kann ich noch nicht das Handtuch werfen. Ich muss hier entfliehen. Und wenn ich noch so viele Unterlagen in den Händen halte, Tausende Stockwerke und Schalter aufsuche sowie sonstigen Schikanen ausgesetzt bin, die mich an den Rand des Wahnsinns bringen …

Ich werde es weiterhin versuchen.

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