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Dieser hob gelangweilt vier Finger in die Höhe und legte einen neuen Film ein. Die Stimmung unter den Soldaten war keinesfalls getrübt. Nur Doktor Kashinski stand teilnahmslos in der Ecke. Nichts von all dem stand in seiner Macht. Er war nur ein kleines Zahnrad in einem riesigen Uhrwerk und wie er wusste waren einzelne Zahnräder leicht zu ersetzen. Er musste tun was ihm befohlen wurde, immerhin stand sein Leben ebenso auf dem Spiel.  Pawel Mashivitsch war mit Sicherheit nicht der Letzte den er heute belügen müsste.
 
Dieser hob gelangweilt vier Finger in die Höhe und legte einen neuen Film ein. Die Stimmung unter den Soldaten war keinesfalls getrübt. Nur Doktor Kashinski stand teilnahmslos in der Ecke. Nichts von all dem stand in seiner Macht. Er war nur ein kleines Zahnrad in einem riesigen Uhrwerk und wie er wusste waren einzelne Zahnräder leicht zu ersetzen. Er musste tun was ihm befohlen wurde, immerhin stand sein Leben ebenso auf dem Spiel.  Pawel Mashivitsch war mit Sicherheit nicht der Letzte den er heute belügen müsste.
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[[Kategorie:Schockierendes Ende]]
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[[Kategorie:Mittellang]]
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[[Kategorie:Mord]]

Aktuelle Version vom 7. Juni 2021, 10:32 Uhr

Es war ein schöner Sommertag, fast schon perfekt wenn man es so wollte. Vereinzelte Schäfchenwolken wanderten über den kristallblauen Himmel und die heiße Mittagssonne brannte unablässig auf die Erde nieder. Ein leichter Wind blies über das flache Land und versetzte die Weizenehren auf den Feldern in schwingende Wellenbewegungen. Für die Menschen auf den Feldern war das eine willkommene Abkühlung, denn sie würden noch viel Zeit hier draußen verbringen müssen. In dieser Gegend wusste man wenn es das trockene Wetter zu nutzen galt und da die Getreideernte gerade in vollem Gang war halfen sogar die Kleinsten mit. Den schwarzen Wolken in der Ferne schenkte man keine Beachtung. Die Leute wussten ganz genau dass es sich dabei nicht um ein Gewitter sondern einen Zug handelte. Und selbst wenn so mussten sie doch weitermachen solange es noch ging. In diesem Moment tauchte hinter einem Hügel die Lokomotive auf. Der schwarze Stahl glänzte in der Sonne und ihr Pfeifen hallte über das Land, schon viel früher als man sie überhaupt sehen konnte. Wie ein schwer atmendes stählernes Monster heizte sie über die Landschaft und brachte den Boden immer stärker zu vibrieren, je näher sie den Dörflern kam. In der nächsten  Sekunde donnerte sie an dem Feld vorbei, gefolgt von mehreren Dutzend mattgrünen Güterwagons. Die Züge fuhren hier öfters seit einem Jahr und so schenkten die Feldarbeiter ihnen keine Aufmerksamkeit mehr. Nur die Kinder starrten jedes Mal begeistert dem Zug hinterher, bis sie ihn nicht mehr sehen konnten.  Man konnte nur hoffen, dass keiner der Wachleute sie dabei gesehen hatte, denn wer nicht arbeitete wurde bestraft. Manchmal fragten sich die Arbeiter wo dieser Zug wohl hinfuhr. Ganz egal wohin dort würde es sicher ein besseres Leben geben als hier, dessen waren sie sich sicher. Wenn sie doch nur wüssten wie falsch sie damit lagen.

Im Zug war es dunkel. Nur die stärksten Sonnenstrahlen schafften es durch die schmalen Ritzen der hölzernen Außenwand in das Innere der Wagons und erhellten sie gerade so stark, dass man das Gesicht seines direkten Nachbarn sehen konnte. Alles andere blieb in der Dunkelheit versteckt. Die Menschen im Zug wussten nicht, dass draußen ein lauer Sommertag herrschte, ja sie wussten nicht einmal wo sie genau waren oder wo die Reise hinführte. Für die dicht an dicht gedrängten Menschen gab es nur den Zug und das Rattern der Schienen, dass in einer ungleichen Melodie immer wieder von leisem Husten, Jammern oder geflüsterten Worten begleitet wurde.

„Nicht einen Schritt zurück! Zeigt ihnen wie echte Männer kämpfen!“ Die Worte des Offiziers hallten immer noch in Pawels Ohren als würde er sie ihm direkt ins Gesicht brüllen. Selbst im Tod schien sein Vorgesetzter ihn noch zu verhöhnen. „Feigling! Verräter!“ Er konnte die Abscheu in diesen Worten geradezu fühlen, selbst wenn sie nur in seinen Gedanken existierten. Der Offizier kam nie dazu ihm das ins Gesicht zu sagen, aber Pawel war sich sicher dass er es getan hätte und genauso seine Kameraden wenn sie denn noch könnten. Wahrscheinlich hatten sie nicht einmal daran gezweifelt, dass er genauso heldenhaft sterben würde wie sie, wenn es darauf ankäme. Dabei war es alle gelogen. Er hatte es verdient als Feigling und Verräter beschimpft zu werden, denn genau das war er. Er wollte das doch alles nie. Vor ein paar Wochen hatte er noch einen Schwur abgeleistet bis zur Letzen Kugel für sein Land zu kämpfen und es notfalls mit seinem Leben zu verteidigen.



Ein heroischer Tod wie es eben von einem Soldaten des Volkes erwartet wurde. Und doch saß er jetzt hier in diesem Zug. Seine einstigen Kammerraden, nein seine Freunde, waren tot. Vasilli, Igor und sogar der ängstliche Kolja: sie alle hatten ihr ultimatives Opfer gebracht und sich für die Sowjetunion geopfert, nur er nicht. Er hatte seine Waffe in den Dreck geworfen und sich seinen Feinden wie ein Feigling ergeben. Er war nicht tot, aber in diesem Moment wäre er es lieber gewesen.

Warum konnte er nicht heldenhaft auf dem Schlachtfeld sterben und vorher noch ein paar dieser Bastarde mit ins Grab nehmen, so wie es von ihm verlangt wurde? Dabei kannte er die Antwort genau. Es ging einfach nicht. In dem Moment als sein Leben am seidenen Faden hing, als es darauf ankam eine Entscheidung zu treffen, dachte er nicht an die Worte seines Offiziers. Auch nicht an seinen Schwur, die Armee oder sein Land. In diesen entscheidenden Sekunden waren seine Gedanken nur bei seiner Frau und seinen beiden kleinen Töchtern. Er durfte nicht sterben bevor er seine Familie nicht noch ein letztes Mal gesehen hatte. Was sollten sie denn nur ohne ihn machen. Wie würden sie wohl reagieren wenn sie von seinem Tod erfuhren? An ihre von Trauer gezeichneten Gesichter wollte Pawel gar nicht erst denken. Nein, das durfte einfach nicht passieren.

Genau dieser Gedanke hielt ihn davon ab zu sterben. Dabei war es nicht mal eine bewusste Entscheidung gewesen. Eher schmiss er intuitiv seine Waffe weg und stellte sich mit erhobenen Händen dem Feind, während er zu Gott betete, dass die Deutschen wenigstens genug Anstand hatten ihn nicht einfach trotzdem zu erschießen.

Zuhause würde man ihn für so etwas bestrafen, das stand fest. Sich den Faschisten zu ergeben war inakzeptabel für einen Soldaten der roten Armee und wurde im Regelfall mit dem Tod geahndet. Aber das spielte jetzt auch keine Rolle mehr. Sein Heimatland würde er nicht wieder sehen und die eigene Familie schon gar nicht. Man erzählte sich furchtbare Geschichten was mit Kriegsgefangenen  in Deutschland passierte. Angeblich gab es dort noch schlimmere Anlagen als die sibirischen Arbeitslager. Was dort vonstatten wollte er sich gar nicht vorstellen, aber in jeder Hinsicht wäre es wohl einfach besser gewesen auf dem Feld zu sterben. Jetzt würde er so viel mehr Leid erfahren, hatte sein Land verraten und könnte obendrein trotzdem nicht seine Frau und Kinder sehen.

Egal wie er es auch drehte und wendete, Pawel konnte nicht einmal vor sich selbst verheimlichen dass er einen furchtbaren Fehler gemacht hatte. Für manche Fehler gab es eben keine Entschuldigung und andere musste man direkt mit dem Leben bezahlen.

Pawels Augen waren glasig und auf eine dunkle Ecke des Raumes gerichtet während sein Körper kraftlos an der Wand lehnte. Zu lange dauerte diese Fahrt schon an und zu lange plagten ihn schon die eigenen Schuldgefühle. Kaum einer der anderen Leute war in besserer  Verfassung. Niemand redete wirklich viel, aber Pawel versuchte auch nicht ein Gespräch aufzubauen. Er kannte diese Leute nicht und es gab nichts mehr, was es mit ihnen zu bereden gab. Obendrein hatte er auch gar nicht mehr die Kraft zum Reden. Manchmal hörte er aus leisen Gesprächen ein Wort seiner Muttersprache, ein andermal verstand er überhaupt nichts. Soweit er erkennen konnte befand sich unter den Leuten ein nicht unerheblicher Anteil an Frauen, aber kein einziger Soldat. Das wunderte Pawel immerhin hatte er mit hunderten seinesgleichen gerechnet. Er konnte doch nicht wirklich der Einzige sein?  Andererseits hatte er jetzt auch nichts mehr mit einem Soldaten gemein, weder äußerlich noch innerlich. Die Uniform hätte er auch gleich am ersten Tag seines Soldatendienstes verbrennen können. Trotzdem fragte sich Pawel ob wohl jemand im Zug eine ähnliche Geschichte zu erzählen hatte. Nicht dass es jetzt noch etwas ändern würde, aber die schlichte Tatsache dass er nicht allein war hätte ihn zumindest ein wenig beruhigt.

Plötzlich durchzog ein starker Ruck den gesamten Zug. Einige Leute wurden zu Boden gerissen und fluchten, andere fingen vor Angst an zu schreien, aber sie alle wurden von dem nachfolgenden Kreischen der Bremsen übertönt. Einige Sekunden dröhnte dieses Geräusch so intensiv in Pawels Kopf, dass er sich die Ohren zuhalten musste. Dann bewegte sich plötzlich nichts mehr. Die Anderen im Zug sahen sich verwirrt an, aber niemand traute sich etwas zu sagen. Eine beängstigende Stille legte sich über den ganzen Waggon. In der nächsten Sekunde war es aber schon wieder vorbei, als sich schwere Schritte näherten und ohne Vorwarnung die Waggontür aufgerissen wurde. Grelles Sonnenlicht flutete das Innere des Wagens und blendete Pawels an die Dunkelheit gewöhnte Augen. Reflexartig drehte er sich von der Lichtquelle weg. Für einige Momente hörte er nur aggressive Stimmen von draußen, aber ohne etwas sehen zu können wusste er nicht vom wem sie stammten. Trotzdem stand Pawel instinktiv auf. Wenn das hier schon das Ende sein sollte dann wollte er zumindest mit erhobenem Haupt sterben und nicht liegend wie ein geprügelter Hund.

Außerhalb des Zuges erkannte er erst den Lauf einer Waffe, dann das Gesicht eines Soldaten, viel jünger als sein Eigenes. Der Mann rief etwas was er nicht verstand, aber da die Gefangenen am nächsten zur Tür nacheinander mit erhobenen Händen ins Freie traten, hielt er es für ratsam dasselbe zu tun.  Schließlich wurde er ebenfalls nach draußen beordert und fügte sich der langen Menschenschlange die geradewegs auf einen großen Gebäudekomplex zuliefen. Die frische Luft tat gut und Pawel zog sie gierig mit tiefen Atemzügen ein, als wäre es eine Droge. Wer wusste schon ob er sie je wieder atmen könnte? Irgendetwas war seltsam. Die Sonne, die Geräusche der Natur, der Wind auf seiner geschundenen Haut: all das wirkte fremd, fast schon falsch. Hatte daran die Zugfahrt Schuld? Wie viel Zeit er wirklich in diesem Waggon verbracht hatte wusste er nicht, aber es kam ihm wie eine Ewigkeit vor. So lange hatte er in Dunkelheit verbracht, dass sie ihm letztendlich nichts mehr ausmachte und das Licht es war, welches ihm unnatürlich vorkam.

Die neue Umgebung war allerdings das Geringste seiner Probleme. Im Gegenteil das war erst der Anfang, daran konnte kein Zweifel bestehen. Als Teil einer endlos langen Kette marschierte Pawel immerfort auf das mächtige graue Betongebäude zu. Auf beiden Seiten neben der Menschenschlange standen deutsche Soldaten, keiner von ihnen unbewaffnet. Jeder Schritt fiel ihm unendlich schwer, als hätte man seine Stiefel mit Beton gefüllt. Sein Körper weigerte sich vehement weiter auf dieses Gebäude zu zumarschieren, aber lediglich sein Überlebenstrieb hielt ihn davon ab einfach stehen zu bleiben und kehrt zu machen. Er zweifelte keine Sekunde daran dass jeder dieser Männer ihn ohne zu zögern erschießen würden wenn er auch nur daran dachte abzuhauen.             Die schiere Angst blieb allerdings und so versuchte er sich abzulenken. Unter seinen Füßen knirschte grober Schotter, dasselbe Material mit dem auch der restliche Außenbereich bedeckt war, ohne einen einzigen Grashalm dazwischen.  Eine riesige leere Fläche, abgegrenzt mit einem vier Meter hohen Stacheldrahtzaun erstreckte sich auf beiden Seiten soweit er sehen konnte. Pawel konnte  Wachtürme und Soldatenpatrouillen  am anderen Ende des Zaunes erkennen, aber nicht einen einzigen Häftling. Bei so einer riesigen Anlage müsste es doch sicher eine Menge Gefangene geben. Wo waren die bloß alle? Er wollte sich die Antwort auf diese Frage gar nicht ausmalen. Vielleicht stimmten die Gerüchte dass man in solchen Lagern bis zum Umfallen schuften musste  und die Überlebenden so wenig zu essen bekamen, dass sie aus lauter Verzweiflung das Fleisch ihrer toten Kameraden aßen? Er schüttelte sich vor Abscheu und Angst. Sollte das etwa auch auf ihn zu kommen? Ein großer Wald umzäunte neben dem eigentlichen Zaun das Gelände, sodass man nicht viel von dem sehen konnte was sich dahinter befand. Pawel hatte allerdings das Glück genau in diesem Moment an einer Baumlücke vorbeizulaufen. Dahinter erhoben sich die Umrisse einer entfernten Stadt. Eine fremde Stadt, soviel erkannte er selbst aus dieser Entfernung. Dennoch erinnerte sie ihn an seine Heimat. Ach wenn er doch nur noch einmal einen Fuß in sein Heimatdorf setzen könnte.

Die Worte des Offiziers kamen ihn wieder in den Sinn. „Mut ist die herausragendste Eigenschaft unserer Armee und ich werde dafür sorgen dass jeder Einzelne von euch diesem Standard entsprechen wird.“ Mut, das war es was sie ihm immer und immer wieder eingebläut hatten. Die größte Ehre sei es heroisch für die Revolution zu sterben und was nicht noch alles. Von diesen Worten hatte er nie viel gehalten, trotz dass er ihnen jedes Mal treu zustimmte. Was konnte schon jemand vom Tod Wissen der noch lebte? Pawel war der vollen Überzeugung gewesen, dass keiner seiner Vorgesetzten bereit gewesen wäre für sein Land zu sterben. Zumindest war er das bis vor ein paar Tagen. Davor hätte er nicht geglaubt, dass jemand mit mehreren blutenden Schusswunden immer noch genug Stärke in sich hatte, um seine Männer erneut zum Angriff zu führen, selbst wenn es der sichere Tod war. Von solchen Leuten war also die Rede als man damals in den Militärkasernen von heldenhaftem Mut sprach.  Pawel hätte so etwas sicher nicht gekonnt, aber deswegen war er auch Soldat und nicht Offizier. Der Tod der eigenen Leute veränderte einen Menschen und er bildete da keine Ausnahme. Wäre er doch nicht nur so ein Idiot gewesen, dann müsste er jetzt nicht auf feindlichem Boden sterben.

Für wehmütiges Bedauern war es jetzt zu spät, dass wusste er. Aber gäbe es noch eine zweite Chance dann hätte er alles anders gemacht. Dann würde er ehrenvoll im Kampf sterben. Für sein Land, für seine Einheit und für seine Familie weit hinter der Front. Eine Träne rollte über seine Wange als er daran dachte aber er ließ sich nichts anmerken. Er hoffte nur still, dass es ihnen auch nach seinem Tod gut gehen würde.

Nach und nach verschlang das Gebäude jeden der Gefangenen bis auch Pawel an der Reihe  war. Wie eine Mischung aus Bunker und Kaserne türmte sich das gigantische Bauwerk vor ihm auf, bis es den ganzen Himmel zu verdecken schien. In einem Moment sah er noch den angerauten grauen Putz, dann verschwand auch dieser über ihm und Pawel wurde verschlungen. Sein Weg führte nur durch ein einfaches Holztor, aber es hätte auch glatt die Pforte zur Hölle sein können. Grelles künstliches Licht, abgestrahlt von flackernden Industrielampe umgab ihn. Soweit er erkennen konnte befand er sich in einer Art Warteraum, wobei er eher an eine Halle dachte. Außer zwei langen Holzbänken an den gegenüberliegenden Wänden gab es keine Möbel. Die Innenwände hatte man genauso lieblos grau verputzt wie  er es schon draußen gesehen hatte. Etwas anderes hatte er von einem Gefängnis auch nicht erwartet. Auf den Bänken saßen bereits viele Leute, einige erkannte er aus dem Zug wieder. Ihre Gesichter wirkten genauso traurig wie ihre Umgebung. Ein Soldat wies ihn mit deutlicher Handbewegung an sich hinzusetzen. In einer Hand hielt er eine Maschinenpistole. Niemand sprach ein Wort, auch nicht als immer mehr Leute dazukamen und da die meisten nur resigniert auf den Boden starrten, beschloss Pawel dasselbe zu. So vergingen die Minuten. Wie lange er wirklich warten musste wusste er nicht, da es keine Uhr gab. Die grobe Holzbank wurde allerdings schnell unbequem und machte selbst das Sitzen anstrengend. Unter diesen Umständen konnte er nicht mal einen klaren Gedanken fassen.

Immer mal wieder kamen Soldaten rein und nahmen einen der Gefangenen mit. Pawel hatte keine Ahnung was mit ihnen passierte da keiner von ihnen zurückkam, jedoch fürchtete er jedes Mal er sei der Nächste.  Die Unwissenheit machte ihn wahnsinnig und sein Herz klopfte unaufhörlich,  bei dem Gedanken was wohl passieren würde wenn er an der Reihe war. Immerfort starrte er vor sich auf den rauen Betonboden bis sogar seine Hände und Füße vor Anspannung anfingen zu zittern. Vielleicht kam er auch niemals dran? Vielleicht ließen sie ihn zurück genauso wie er seine Kameraden zurückgelassen hatte? Aber war das wirklich besser? Schließlich passierte dann doch das unvermeidbare. Ohne Vorwarnung spürte Pawel einen kalten harten Gegentand der ihn an der Schulter berührte. Erschrocken blickte er auf und sah direkt in das Gesicht eines Soldaten der ihm barsch etwas entgegen rief. Er verstand natürlich kein Wort, aber wusste ganz genau was er zu tun hatte, auch wenn sich jeder Muskel in seinem Körper dagegen sträubte. Das war es dann also, dachte er als er sich langsam erhob und durch den Raum geführt wurde. Einige der anderen Leutestarrten ihn mitleidsvoll an. Wussten sie etwa mehr als er? Auf diese Frage bekam er keine Antwort mehr. Was auch immer jetzt passieren würde konnte er nicht verhindern.

Eine breite verstärkte Stahltür am anderen Ende des Raumes öffnete sich und zwei weitere Soldaten traten heraus. Die Männer riefen sich etwas zu, dann schlossen sie sich dem kleinen Konvoi an und führten den Gefangene in ihrer Mitte durch den langen Gang dahinter. Pawel erkannte die gleichen grauen Betonwände wieder obwohl diesmal links und rechts schwere Türen eingelassen wurden. Er konnte nur erahnen was sich dahinter befinden mochte. Was hatten sie vor? Auch ohne dass er nach hinten sah spürte er den Lauf der Waffe auf seinen Rücken gerichtet. Ein fast schon ironischer Zufall, dass er damals genauso vom Schlachtfeld geführt wurde. Wenn er ehrlich war, dann war das hier sogar noch schlimmer. Genau wie damals begann er gedanklich vor sich hin zu beten, aber bevor er damit fertig war hielt der Zug plötzlich an. Einer der Männer öffnete eine der Seitentüren und bevor Pawel sich versah wurde er auch schon hineingestoßen. Nur einer der Soldaten folgte ihm und ließ die Tür hinter sich schwer ins Schloss fallen. Pawel hätte nun mit allem gerechnet. Ein Gefängnis, eine Folterkammer, ja selbst der Lauf einen Maschinengewehres hätte ihn nicht verwundert. Alles wäre plausibler als dass was er wirklich sah.

Vor ihm erstreckte sich ein helles Zimmer. Surrende Deckenleuchten warfen ein warmes gelbes Licht auf den, mit orangenen Kacheln gefliesten Boden. Durch ein geöffnetes Fenster drang eine leichte Brise in den Raum. Die weißen Vorhänge flatterten im Wind aber Pawel registrierte die schweren Gitterstäbe dahinter. Abgesehen davon schien der Raum überhaupt nicht in diese Anlage zu passen. Cremefarbene Tapete strahlte eine fast schon gemütliche Atmosphäre aus, ganz im Gegenteil zu dem kalten Beton hinter der Stahltür. Alles andere erinnerte ihn stark an eine Arztpraxis oder ein Labor, wenngleich er auch noch nie ein solch modernes gesehen hatte. An der Wand  erkannte er einen Messstab, sowie eine mechanische Waage daneben. Gegenüber war eine Reihe Theken aufgebaut auf der sich viele kleine Messgeräte befanden, denen Pawel überhaupt keine Funktion zuordnen konnte.  Dazu wirkte der gemütlich aussehende braune Ledersessel mit der leicht vertrockneten Zimmerpflanze daneben, fast schon langweilig.

Er staunte in der Tat nicht schlecht. Wer hätte auch gedacht dass sich in diesem Betonbunker etwas derartig Schönes befand? Eine Frage blieb allerdings: Was sollte das alles? Für die ersten Momente blieb er verwirrt im Raum stehen, genau dort wo man ihn abgestellt hatte. All das überwältigte ihn derart, dass er schon auf die Idee kam einfach den Soldaten  danach zu fragen. Zum Glück musste er das allerdings nicht, denn schon öffnete sich eine kleine Holztür am Ende des Raumes die ihm vorher gar nicht aufgefallen war. Heraus kam ein rundlicher untersetzter Herr, gekleidet in sauberen schwarzen Stiefeln und einem weißen Arztkittel. Hinter ihm folgte ein fast doppelt so großer breit gebauter Mann mit einer Filmkamera. Pawel war sich nicht sicher was jetzt passieren würde und so starrte er die Beiden einfach nur an. In diesem Moment überwog die schiere Neugier seiner Angst. Der kleiner Mann, vermutlich ein Arzt, wie Pawel überlegte, kam auf ihn zu.

„Sind sie Russe?“ fragte der Mann im Kittel kurz. Seine Stimme klang höher als er es anhand seines Aussehens vermutet hätte. Pawel hatte die ganze Situation immer noch nicht ganz verarbeitet und so bekam er nicht mehr als ein gestammeltes „Ja“ heraus.


Sein gegenüber schien sich mit dieser Antwort zufrieden zu geben. „Gut“ meinte er und streckte ihm die Hand aus. „Ich bin Dr. Kashinski. Setzen sie sich doch.“ Er verwies dabei auf den Sessel. Pawel wusste immer noch nicht was er davon halten sollte, folgte aber der Aufforderung. Nie hätte er erwartet, dass hier jemand seine Sprache beherrschte, dazu noch derart akzentfrei.

„Und wie darf ich sie nennen?“ fragte Kashinski mit einem Lächeln auf den Lippen. Während Pawel sich setzte, hatte der sich Doktor ein paar medizinische Handschuhe und eine kleine rundliche Brille besorgt, beides davon legte er an. „Pawel Mashivitsh“ antwortete er wahrheitsgemäß, diesmal ohne viel nach Worten zu suchen. Der Doktor nickte nur kurz und notierte sich dann etwas auf einem Klemmbrett. So eine freundliche Behandlung hatte er beim besten Willen nicht erwartet. So vergaß er sogar den Soldaten hinter ihm und auch den stämmigen Mann der bisher noch kein Wort gesagt hatte, dafür aber die Kamera im Hintergrund aufbaute. Schließlich fühlte er sich mutig genug selbst etwas zu fragen. Die Angst erschossen zu werden gab es in diesem Raum einfach nicht mehr. „Dr. Kashinski?“ begann er vorsichtig. „Was haben sie mit mir vor?“ Der Doktor musste lachen, als hielt er diese Frage für einen Witz.

„Ich werde sie natürlich untersuchen, wie jeden anderen auch. Ihre Tauglichkeit bestimmen, sie wissen schon.“ Pawel wunderte sich. „Meine Tauglichkeit? Für was?“ Der Doktor suchte gerade in einer der Theken nach etwas, sodass nur noch sein kahler Hinterkopf mit den wenigen grauen Haaren darauf zu sehen war.

„Tauglichkeit für den Arbeitseinsatz natürlich. Fähige Männer werden immer gebraucht, da bilden sie als Kriegsgefangener keine Ausnahme.“, erklärte er mit einem gedämpften Lachen. Kriegsgefangener, wiederholte Pawel das Wort in seinen Gedanken. Dann würde er also doch nicht sterben. Dennoch machten ihn die Worte des Doktors stutzig. In seiner Heimat hätte man ganz sicher nicht danach gefragt ob ein Gefangener fähig zum Arbeiten wäre, sondern ihn gleich in die sibirischen Minen gesteckt. Er konnte sich nicht vorstellen, dass das bei den Faschisten anders laufen sollte.

„Und wozu die Kameras“ fragte er. „Gehört das auch mit zum Test?“ Kashinski war gerade wieder zu ihm gekommen. In der Hand hielt er einen kleinen Gummihammer. „Oh nein“ meinte er freundlich. „Das gehört mit zur Inspektion. Beachten sie die Kamera einfach gar nicht.“ Pawel nickte stumm. Er wollte nicht zu neugierig wirken. In dieser Position war er im Moment einfach nicht. Auch wenn er den Doktor noch nicht lange kannte, fand er den alten Mann durchaus sympathisch. Vielleicht gab es doch noch Hoffnung. Wenn er überall hier eine genauso gute Behandlung wie bei ihm bekam, konnte er gut und gerne ein paar Jahre hier überleben. Solange bis seine Landsleute den Krieg gewonnen hätten und ihn wieder nach Hause holten.

„Wir werden nun ihre Reflexe testen.“ erklärte der Doktor und positionierte sich vor Pawel, dann schlug er leicht mit dem Gummihammer vor seine Kniescheibe sodass sein jeweiliges Bein in die Höhe schnellte. So ging das noch eine ganze Weile. Pawel wurde zu den verschiedensten Geräten gebeten, während Kashinski fleißig auf seinem Klemmbrett notierte.


In Folge dieser Prozedur fühlte sich Pawel gar nicht mehr wie ein Gefangener, sondern vielmehr als Gast. Ja, er glaubte sogar langsam die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Auch wenn ihm das Schicksal seiner Genossen leidtat, so konnte ihn doch niemand für seine Handlung verurteilen. Er wollte doch nur seine Frau und seine Kinder wiedersehen und genau das würde er tun, wenn er wieder hier raus kam. Als er zur Messstange musste hatte er sogar wieder ein Lächeln auf dem Gesicht.

„Bleiben sie bitte ruhig stehen.“ sagte Kashinski und justierte die Messlatte. Danach ging er mit seinem Klemmbrett in der Hand ein paar Schritte zur Seite.

Ja, es würde alles gut werden, dachte Pawel. Alles würde wieder in Ordnung kommen.

Den nachfolgenden Schuss hörte er gar nicht mehr, so schnell durchbohrte das Projektil seinen Kopf und beendete sein Leben. Der Körper fiel wie ein nasser Sack zu Boden und krachte mit einem dumpfen Schlag auf die Fliesen. In seinem Hinterkopf klaffte ein Loch, aus dem sich das Blut seinen Weg über die Fugen bis hin zum Abfluss bahnte. „Sauber!“ lobte der Wachmann den Schützen in der kleinen Kammer hinter der Messlatte und nickte ihm dabei anerkennend zu. Zwei SS-Männer kamen herein, packten den Körper an den Armen und schleiften ihn nach draußen. Ein weiterer schnappte sich einen Wasserschlauch und begann damit den Fliesenboden zu säubern. Der Gestank von frischem Blut hing in der Luft wie Nebelschwaden am Morgen. Es würde wohl noch eine Weile dauern bis man ihn vollständig entfernt hatte. Die Kamera hatte schon lange nicht mehr aufgenommen. Kurz vor dem Schuss hatte man sie abgeschaltet genauso wie es geplant war. „Wie viele noch?“ fragte der Wachmann den Kameramann. ,

Dieser hob gelangweilt vier Finger in die Höhe und legte einen neuen Film ein. Die Stimmung unter den Soldaten war keinesfalls getrübt. Nur Doktor Kashinski stand teilnahmslos in der Ecke. Nichts von all dem stand in seiner Macht. Er war nur ein kleines Zahnrad in einem riesigen Uhrwerk und wie er wusste waren einzelne Zahnräder leicht zu ersetzen. Er musste tun was ihm befohlen wurde, immerhin stand sein Leben ebenso auf dem Spiel.  Pawel Mashivitsch war mit Sicherheit nicht der Letzte den er heute belügen müsste.